Rojava

Nach dem IS

Ein Gespräch mit dem Arzt Michael Wilk über die Lage der Flüchtlinge, den Wiederaufbau und die Perspektiven der Gesundheitsversorgung in Rojava.

medico international unterstützt im nordsyrischen Rojava medizinische Nothilfe für Flüchtlinge in der Region und den langfristigen Aufbau einer funktionierenden Gesundheitsversorgung. Mit Michael Wilk, Notfallmediziner und Psychotherapeut, haben wir über die aktuelle Situation der Menschen in Rojava und besonders über die Entwicklungen im Bereich der Gesundheitsversorgung gesprochen.

medico:Du fährst seit 2014 regelmäßig nach Rojava und bist dort als Arzt aktiv. Was genau machst du vor Ort?

Michael Wilk: Seit 2014 war ich inzwischen sechs Mal dort. Ich unterstütze vor allem den kurdischen Halbmond und arbeite mit ihm eng zusammen. Der kurdische rote Halbmond (Heyva Sor a Kurd) ist ein unabhängiger kurdisch-syrischer Gesundheitsdienst, der eigenständig im Bereich Notfallversorgung und Strukturaufbau, z.B. Ambulatorien und Kliniken, arbeitet. Ich versuche, nicht nur einzelne Leute in Notfallsituationen zu versorgen, sondern möglichst nachhaltig zu arbeiten: also auch Menschen vor Ort in strukturellen oder logistischen Bereichen zu unterrichten, um ihnen verbesserte Grundlagen für die weitere Arbeit zu vermitteln.
 

Zuletzt warst du im September 2017 in Rojava, also kurz bevor Rakka vom sogenannten „Islamischen Staat“ befreit worden ist. medico hat die Medikamentenverteilung an Flüchtlinge aus Rakka unterstützt. Wie war die Versorgungssituation in dieser Zeit?

Ich habe den kurdischen Halbmond an zwei Traumapoints unterstützt. Das sind Erstversorgungsstationen, direkt hinter der Frontlinie, an denen wir für die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung zuständig waren. Es gab Schwerverletzte durch Scharfschützen, zudem ist alles vermint, da gibt es jede Menge Explosionsopfer. Es gab aber nicht nur Kriegsverletzte, sondern auch Verkehrsunfälle oder andere Krankheitsfälle, die zu uns kamen. Denn die Rettungsstationen waren die einzigen medizinischen Versorgungspunkte, die zu diesem Zeitungpunkt noch existiert haben. Im Stadtzentrum saß der IS und hatte die nationalen Krankenhäuser ruiniert und ausgeräumt. Insofern hatten die Leute keine anderen Möglichkeiten, als zu uns zu kommen.

Ende September wurde Rakka vom IS befreit. Die Menschen aus der Stadt sind zum größten Teil noch in den Flüchtlingslagern. Ist eine Rückkehr nach Rakka und der Aufbau ziviler Strukturen bald möglich?

Es ist zurzeit schon so, dass Menschen versuchen in ihre Wohnungen zurück zu kehren, da es eine große Angst vor Plünderungen gibt. Also versuchen die Leute teilweise zurück in Gebiete zu kommen, die noch nicht frei von Minen geräumt sind. Und der IS hat ja die perfide Angewohnheit, sich den Rücken frei zu halten, in dem er ganze Straßenzüge vermint. Minen sind überall: In Wandschränken, unter Klos, unter Leichen – es kommt also zu relativ vielen Verletzten durch Minenexplosionen, auch jetzt, nachdem die Kampfhandlungen beendet sind. Es ist nach wie vor so, dass es keine größeren medizinischen Versorgungseinrichtungen gibt. Schwerer verletzte Menschen müssen in die Krankenhäuser in den Norden Rojavas transportiert werden, um versorgt zu werden.

Du hast durch deine regelmäßigen Aufenthalte einen recht guten Einblick: Wie hat sich die Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren entwickelt?

Das ist sehr unterschiedlich. In der demokratischen Föderation Nordsyrien – wie es jetzt heißt, weil es nicht nur um die kurdische Bevölkerung, sondern auch um arabische oder die assyrische Bevölkerung geht, die bei dem Aufbau neuer sozialen Strukturen miteingebunden werden sollen – hängt es von der Region ab, über die wir reden.

Im Norden hat schon in den letzten Jahren eine positive Entwicklung eingesetzt. Dort gibt es infrastrukturelle Veränderungen. Ein Beispiel: Das Krankenhaus von Serêkaniyê wo ich 2015 gearbeitet habe, war damals noch weitestgehend zerstört, wir mussten provisorisch im Nebentrakt arbeiten. Die Klinik ist nun seit einem Jahr wieder in Betrieb genommen, es entsteht sogar eine kleine medizinische Akademie. Im Norden passiert infrastrukturell auch sonst eine ganze Menge, allerdings ist dort auch keine Kampfzone mehr.
 

Im Süden, also außerhalb der kurdischen Kerngebiete, eher arabisches Gebiet – ich rede von Rakka, von Tabka, von den Gebieten nördlich von Deir ez-Zor – sieht es noch ganz anders aus. Dort sind die Städte zum Teil noch zu achtzig Prozent zerstört. Die Gesundheitseinrichtungen sind nicht minder zerstört, leer geräumt und verwüstet. Die zivilen Einrichtungen, die jetzt etabliert werden, also zum Beispiel die neue Stadtverwaltung von Rakka, stellen Überlegungen an, wie es weiter gehen soll. Aber es fehlt noch an Allem, hier sind große Löcher zu stopfen und Hilfe bleibt dringend nötig.

Zurzeit befinden sich noch hunderttausende Menschen in Flüchtlingslagern, wie ist hier die Perspektive?

Das ist natürlich schwierig zu sagen, weil es davon abhängt, wann die Menschen zurück in ihre Städte können. Die Städte sind zum Teil so zerstört, dass man dort gar nicht wohnen kann. Die Rückkehr der Menschen im Newroz-Flüchtlingslager bei Derik, wohin viele Menschen aus dem Irak und aus den Kampfzonen südlich von Rojava geflohen sind, hängt davon ab, wie Mossul wieder aufgebaut wird. Dasselbe gilt für Rakka – wann können die Leute zurück? Wir reden hier nicht von Tagen, sondern von Wochen oder Monaten bis zum Beispiel Straßenzüge wieder benutzbar sind.

Die Räumung der Minen ist einfach sehr schwierig und wird noch lange Zeit in Anspruch nehmen. Das gleiche gilt für die Felder: Die Leute können nicht einfach wieder ihre Felder bestellen, wenn nicht auszuschließen ist, ob sie mit ihrem Traktor über eine Mine fahren. Das wird noch Monate, möglicherweise Jahre, dauern.

Die Strukturen sind oft nachhaltig zerstört. Da reden wir nicht nur von medizinischen Einrichtungen, dasselbe gilt für den Bereich der Wasser- und Energieversorgung. Elektrische Leitungen oder Wasserleitungen und-tanks sind teilweise so kaputt, dass nur mit provisorischen Lösungen wie Generatoren oder Wasserzuteilungen überlebt werden kann. Es gibt also noch viel zu tun, bis ein Alltag wieder einkehren kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anita Starosta.
 

Von Beginn an hat medico international die demokratischen Entwicklungen in Rojava/Nordsyrien begleitet. medico hat die Bevölkerung in Kobanê mit medizinischer und humanitärer Nothilfe unterstützt und konnte unter anderem zur Anschaffung einer Blutbank, eines Ultraschallgerätes sowie mehrerer Krankenwägen beitragen. Aktuell unterstützt medico durch den Gesundheitsrat von Rojava die Medikamentenversorgung in den Flüchtlingslagern um Rakka. Der Rat ermittelt den Bedarf und organisiert, dass die Medikamente dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Solange die Menschen nicht in ihre Städte zurückkehren können, werden sie weiterhin in den Flüchtlingslagern Unterkunft und Versorgung benötigen, und damit auch die Unterstützung von Hilfsstrukturen.

Veröffentlicht am 03. Januar 2018

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