Nach dem Einsturz

Das Unglück in der Textilfabrik von Savar und seine Folgen

Am 24. April stürzte in Savar, Bangladesch eine Textilfabrik ein und begrub über 1.000 Menschen unter sich. Wenige Wochen nach dem fahrlässigen Unfall reist medico-Südasien Referent Thomas Seibert nach Bangladesch. Ein Besuch bei den Opfern einer mörderischen globalen Textilindustrie.(Dieser Text erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2013.)

In einem Jeep des medico-Partners Gonoshasthaya Kendra (GK) haben der Fotograf Gordon Welters und ich uns auf den Weg nach Savar und Ashulia gemacht, den Zentren der Textilindustrie Bangladeschs. Hier stand das Hochhaus Rana Plaza, in dem eine Shoppingmall und eine Textilfabrik untergebracht waren. Am Morgen des 24. April 2013 stürzte der Komplex ein. Sekunden später lagen die neun Stockwerke eins auf dem anderen, „wie ein Sandwich“, sagt uns ein Augenzeuge, mit dem wir ins Gespräch kommen. Der Eigentümer hatte seine Angestellten zur Arbeit gezwungen, obwohl sich am Gebäude tags zuvor tiefe Risse zeigten und die Behörden die Evakuierung angeordnet hatten. Zum Einsturz kam es unmittelbar nach einem Stromausfall, aufgrund der Vibrationen, die von den wuchtigen Notstromgeneratoren ausgingen. Ein solcher Generator stand auf jedem Stockwerk des Rana Plaza.

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Fast einen Monat lang gruben Rettungsmannschaften, darunter ein Notärzteteam von GK, schmale Stollen in den Schuttberg, bargen Tag um Tag Leichname und Überlebende aus den Trümmern, insgesamt 1.129 Tote und 2.500 Verletzte. Unbekannt die Anzahl der Toten, die nicht geborgen werden konnten. Sie wird sich mit der Zahl der Menschen decken, die auf die Frage nach dem Verbleib ihrer Mutter, ihres Vaters, ihrer Tochter oder Schwester, ihres Sohnes oder Bruders bis heute keine Antwort erhielten. Vom Rana Plaza sehen wir jetzt nur noch eine Grube, die sich langsam mit Wasser und Abfällen füllt. Auf ihrem Grund ein gelber Kleinwagen und ein grauer LKW, die am Tag des Zusammenbruchs in der Tiefgarage standen, plattgedrückt, als ob sie in eine Schrottpresse geraten wären. An den Stacheldraht, mit dem die Grube abgesperrt wird, haben Gewerkschaften schwarze und rote Transparente mit Losungen der Trauer und der Wut geknüpft.

Geraubte Zukunft der Überlebenden

Auf dem Weg nach Rana Plaza besuchen wir eine Klinik, die Überlebende aus Savar aufgenommen hat. GK-Kollege Dr. Arman führt uns in zwei nach Geschlecht getrennte Krankensäle. Den meisten, die hier liegen, wurden ein oder zwei Gliedmaßen, Arme, Beine, Hände oder Füße amputiert, manchen noch während der Bergung, ohne Betäubung, mit Metallsägen oder Fleischermessern, weil man sie anders nicht befreien konnte.

Die Betten stehen sich in Sechserreihen gegenüber, um fast jedes gruppieren sich Verwandte der Patienten. Die stickige Luft ist vom Lärm der Ventilatoren und unzähliger Gespräche, von vereinzeltem Weinen oder Gewimmer erfüllt. Viele der Patienten sind zutiefst verstört, können noch immer nicht verstehen, was ihnen widerfahren ist. Die meisten sind gerade mal zwanzig Jahre alt, junge Frauen und Männer, die am 24. April noch am Beginn ihres Lebens standen. Punkt 9:30 Uhr war dieses Leben für sie alle vorbei, auch wenn sie physisch davongekommen sind. Arbeiten werden sie niemals mehr. Wer zuvor nicht verheiratet war, wird schwerlich einen Partner oder eine Partnerin finden, wird schwerlich Kinder haben können. Bezeichnenderweise ist das engumschlungene Paar in einem der Betten ein Geschwisterpaar. Shirina, 20, wurden beide Beine zerschmettert, infolge des schnellen Blutverlusts versagten ihre Nieren, sie wird immer schwer krank bleiben. Imamul, 26, gewährt der Schwester auch deshalb Trost; Shirinas Mann hat sie bereits wenige Tage nach der Rettung verlassen.

Bangladesch Paar

Was bleibt: Der junge Mann bleibt an der Seite seiner versehrten Schwester in der Klinik von Savar (Foto:Gordon Welters).

Forderungen nach Entschädigung der Textilindustrie

Nachdem wir die Nacht im Gästehaus von GK verbracht haben, kehren wir zum Rana Plaza zurück, biegen direkt gegenüber in eine Seitenstraße ein und gelangen von dort über ein Gewirr kleiner und kleinster Straßen vor ein einstöckiges Anwesen, in dem vier Familien in je einem Raum zur Miete wohnen. Wir betreten ein kleines, dunkles Zimmer, in dem schon zehn junge Männer und Frauen eng beieinandersitzen. Im Laufe des folgenden, dreistündigen Gesprächs treten andere an ihre Stelle, am Schluss haben wir nacheinander mit dreißig Menschen gesprochen, sie alle Arbeiterinnen und Arbeiter von Rana Plaza. Was wir von ihnen erfahren, setzt die Gespräche fort, die wir schon im Hospital und an der Grube geführt haben. Viele von ihnen wurden verletzt, verloren engste Verwandte, vermissen Eltern, Geschwister oder Kinder.

Diesmal aber kreisen die Gespräche auch um Entschädigung – um das, was sie bisher unter diesem Titel erhalten haben. Nahezu allen wurden umgehend zwei Monatslöhne ausbezahlt, viele haben davon ihre Krankenhaus- und Arztrechnung bezahlt. Wer eine Tote oder einen Toten als nahen Verwandten identifizieren konnte, bekam mit dem Leichnam einen Scheck von 20.000 Thaka, umgerechnet 200 Euro. Zwei der Anwesenden erhielten einen von der Ministerpräsidentin Sheikh Hasina gezeichneten Scheck von 100.000 Thaka. Niemand weiß, ob es weitere Zahlungen geben wird, keiner erhielt die Versicherung, dass die Kosten medizinischer Folgebehandlung – etwa die Entfernung von Metallschienen, die zur Heilung schwerer Brüche implantiert wurden – von irgendwem übernommen werden.

Alle, die wir sprachen, sind ohne Anstellung, einige wollen nie mehr in einer Fabrik arbeiten. Eine Frau wird von Panikattacken gequält, sobald sie ein größeres Gebäude betritt. Ohne jede Entschädigung verblieb Sakib, ein zehnjähriger Junge, der noch zwei Brüder und eine Schwester hat. Die Mutter arbeitete in Rana Plaza und wird seit dem 24. April vermisst, der Vater verkauft am Straßenrand Backwaren. Auch wir sprechen von Entschädigung. Denn die Auftraggeber von Rana Plaza – C&A, KiK, Primark, Mango, Benetton – betreiben ihre Läden auch in den Fußgängerzonen deutscher Städte. Die meisten von ihnen haben kurz nach dem Kollaps von Rana Plaza ein Abkommen zur Arbeits- und Gebäudesicherheit unterzeichnet.

Das Abkommen hat keine Gesetzeskraft, ist eine freiwillige Verpflichtung – immerhin unter Einbindung von Gewerkschaften. Es gilt für Bangladesch, aber nicht für Pakistan oder Kambodscha, wo die Verhältnisse nicht besser sind. Es enthält kein Wort über die komplette Missachtung der Arbeiterrechte, Löhne unter dem Existenzminimum, tägliche Überstunden, fehlende Gesundheits- oder Altersversorgung und die gewaltsame Verhinderung gewerkschaftlicher Betätigung. Kein Wort zu der erbarmungslosen Konkurrenz, die den Produzenten in Asien von den Einkäufern aus Europa oder den USA aufgezwungen wird: eine Konkurrenz, die in dem Besitzer von Rana Plaza den Verbrecher fand, ohne den sie nicht funktionieren würde. Kein Wort davon, dass die internationalen Einkäufer gewusst haben, wie es in Rana Plaza zuging, wie es an vielen anderen Orten Asiens weiter zugeht. Kein Wort, natürlich, zu Entschädigungen oder gar zu einem Recht auf Entschädigung.

Solidarität und Nothilfe in Bangladesch

Das erinnert mich an die endlosen Gespräche über Möglichkeiten gemeinsam adäquate Entschädigungen durchzusetzen, die ich mit der pakistanischen Gewerkschafterin Zehra Khan kurz vor meiner Abreise nach Bangladesch in Frankfurt führte. Zehra ist eine schmale Frau mit langen schwarzen Haaren, in denen das erste Grau schon schimmert. Sie hat einen überraschend festen Händedruck. Zehra organisiert in Pakistan die Frauen, die in Hausarbeit nähen und den Zwangsverhältnissen in ihrer Vereinzelung noch stärker ausgesetzt sind. Sie werden noch schlechter bezahlt und haben noch weniger Rechte als die Fabrikarbeiterinnen. In Deutschlands teuerster Fußgängerzone nimmt Zehra an den Protesten teil, die in Solidarität mit den Arbeiterinnen und Arbeitern der asiatischen Textilindustrie die Läden von C&A und Primark blockierten. Zum ersten Mal erfährt sie, wie spottbillig, ja vergleichsweise wertlos die Textilien in Deutschland sind, die in Asien unter Lebensgefahr produziert werden. Zehra berichtet den Demonstranten vom Schicksal der Arbeiterinnen und Arbeiter von Ali Textiles, einer Fabrik in Karatschi, in der am 11. September 2012, sieben Monate vor dem Einsturz von Rana Plaza, über 300 Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Die Fabrik arbeitete auf Rechnung des deutschen Discounters KiK.

Auch in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka nehmen wir an einer Protestaktion teil. Organisiert wurde sie von der National Garment Workers Federation (NGWF), dem zweiten medico-Partner in Bangladesch. Auch hier geht es um die Entschädigung von Arbeiterinnen und Arbeitern einer Textilfabrik, diesmal der Tazreen Fashions Ltd. aus Ashulia, der Nachbarstadt Savars. Am 24. November 2012, zwei Monate nach dem Brand von Karatschi und genau fünf Monate vor dem Einsturz des Rana Plaza, verbrannten dort 117 Menschen, 200 wurden verletzt. Auch hier tragen global operierende Unternehmen Mitverantwortung, die ihre Jeans und T-Shirts in deutschen Fußgängerzonen verkaufen: C&A und die Tuba-Gruppe, ein IKEA-Lieferant.

Der kleine Demonstrationszug endet schon nach einhundert Metern am Clubhaus der Journalistenvereinigung, wo wir bereits von 20 Reportern und Kameraleuten erwartet werden. Schnell verstehen wir, dass es sich eigentlich um eine Pressekonferenz handelt, auf der Gewerkschaftssekretär Amirul Haque das Recht auf volle Entschädigung und die Anerkennung aller anderen Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter fordert. Ein unverbindliches Brandschutzabkommen allein kann die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Ausbeutungsbetrieben dieser Welt nicht schützen. Die katastrophalen Unglücke in Pakistan und Bangladesch haben dies deutlich gemacht. Zum ersten Mal aber gibt es eine Öffentlichkeit, aufgeschreckt durch die erschütternden Ereignisse, die begreift, dass die Menschenwürde und die Interessen der Betroffenen nur gegen die großen Handelsketten und ihre Subunternehmen durchgesetzt werden können.

Bangladesch Demonstration Gewerkschaft

Protest gegen die Ausbeutung: Die GewerkschafterInnen der NGWF kämpfen um Entschädigung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen (Foto:Gordon Welters).

medico unterstützt in Pakistan und Bangladesch Partner, die sich für die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzen. Gemeinsam mit dem Bildungswerk TIE leisten wir Nothilfe und haben Gewerkschaftern aus Savar und Ashulia Mittel bereitgestellt, den Überlebenden und Hinterbliebenen mit Bargeldzahlungen und der Kostenübernahme von fünfzig medizinischen Folgebehandlungen zur Seite zu stehen.

Veröffentlicht am 12. Juli 2013

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