Bangladesch

Vor dem Untergang

Das größte Flüchtlingslager der Welt versinkt im Schlamm. Die Perspektiven der Rohingya sind verheerend.

Von Bernd Eichner

„Wasser ist die Mutter unseres Landes. Es bringt Leben und nicht Tod“, lautet ein Sprichwort in Bangladesch. Denn die jährliche Regenzeit sorgt für Abkühlung für die Menschen und für Wasser für Vieh und Äcker. Doch während Millionen Bauern in Südasien den Monsun herbeigesehnt haben, ängstigt er die Rohingya. Sie sind keine Bauern mehr. Die Armee und der Mob, angeheizt von extremistischen, buddhistischen Mönchen, haben ihre Felder zerstört. Dörfer wurden niedergebrannt und die muslimische Minderheit aus Myanmar vertrieben. Als an den Rand der Gesellschaft gedrängte Minderheit werden die Rohingya seit Jahrzehnten zu Sündenböcken gemacht, als „illegale Einwanderer“ und Sicherheitsrisiko diffamiert. In Bangladesch sind sie Geflüchtete, staatenlos, rechtlos – und den Unbilden der Natur schutzlos ausgeliefert.
 


Ihr erzwungener Exodus begleitet die Geschichte der medico-Partnerorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK) in Bangladesch seit Anbeginn. Bereits 1978 und 1992 stand die Gesundheitsorganisation den geflüchteten Rohingya bei. Angesichts der jüngsten Massenflucht von rund 700.000 Menschen im Sommer 2017 verteilte GK mit der Unterstützung von medico in den Flüchtlingslagern Lebensmittel, Trinkwasser, Kochutensilien, Kleidung und Plastikplanen. Zurzeit ist GK mit 15 Kliniken vertreten. Mit fast 400 Ärztinnen, Sanitätern und Freiwilligen sorgen sie für eine grundlegende Basisgesundheitsversorgung. In den improvisierten Laboren können Blut, Stuhl und Urin direkt untersucht werden. Impfkampagnen konnten die Ausbreitung von Diphterie und Masern stoppen, angesichts der desaströsen hygienischen Bedingungen im „Megacamp“ Kutapalong südlich von Cox Baza aber bleiben Durchfall und Hautkrankheiten große Herausforderungen. „Fehlende Privatsphäre und die Unsicherheit machen den Frauen zu schaffen. Viele sind zudem traumatisiert von dem, was ihnen auf der Flucht angetan wurde. Einige, derjenigen die von Soldaten vergewaltigt wurden, erwarten jetzt ein Baby“, berichtet Nasima Yasmin, Direktorin der GK-Flüchtlingsprogramme: „Die Psychologinnen sind wichtig in unseren Gesundheitsteams.“

Überleben im Hügelland

Oft sind die Teams zu Fuß unterwegs. Das hügelige Gelände ist denkbar schlecht geeignet für ein Flüchtlingslager. Zwar gibt es einen Weg für Autos quer durch das endlose Lager, doch die allermeisten Hütten entlang der steilen Hänge erreicht man damit nicht. Das macht nicht nur die Verteilung von Hilfsgütern schwierig. Das Auf und Ab durch ein endloses Gewirr von schmalen Gasse ist mühsam. „Wenn es möglich ist, errichten wir die Gesundheitsstationen oben auf dem Hügel, damit sie gefunden werden. Akute Notfälle müssen meist getragen werden“, erklärt Mong U Ching Marma von GK. Bei Regen verwandeln sich die Pfade in schlammige Rutschbahnen.

GK habe vorgesorgt, erläutert Gesundheitskoordinator Dr. Golam Rasul: „Mit einem Kurs wurden die Gesundheitsarbeiterinnen und freiwilligen Helfer aus den Reihen der Rohingya geschult.“ Sie haben gelernt, wie man Menschen vor dem Ertrinken bewahrt oder aus Schlammlawinen bergen kann. Ein Notfallplan wurde entwickelt und Medikamentenvorräte angelegt. Spezielle Teams sind für Evakuierungen eingeplant und für den Ernstfall steht Unterstützung aus dem GK-Krankenhaus in Dhaka in Bereitschaft. Etliche weitere Vorkehrungen wurden getroffen: Ein Netz von kleinen Drainage-Kanälen soll das Wasser ableiten. Steile Straßenstücke wurden mit Backsteinen gepflastert und Notfall-Depots in den Camps angelegt. Besonders exponierte Hänge sind mit Planen abgedeckt, hier und da wurden mit Sandsäcken Treppen in die Hänge gebaut. Und Tausende sind innerhalb des Lagers an weniger gefährliche Orte umgezogen.

Doch alle technischen Maßnahmen sind nur der verzweifelte Versuch, ein angekündigtes Desaster abzumildern. Schon nach dem ersten heftigen Regen kam es zu den gefürchteten Schlammlawinen. Auch eine der Kliniken von GK wurde beschädigt. Noch sind die Zahlen der Verletzten und Toten gering – auch zu gering für die große Öffentlichkeit. Dabei hat der Monsun gerade erst begonnen. Mit anhaltenden Niederschlägen wird bis Oktober gerechnet. Man mag sich nicht ausmalen, was geschieht, wenn Latrinen und Brunnen überschwemmt werden und sich Krankheiten ausbreiten; wenn den dicht gedrängten Rohingya die Hänge und Hütten unter den Füßen wegrutschen; wenn die einzige Zufahrtsstraße zum Flüchtlingslager unterspült und unpassierbar wird; wenn Panik unter den rund 600.000 Menschen ausbricht. Es gibt keinen sicheren Ort im Lager, der Schutz vor Naturgewalten bietet. Feste Bauten mit Wänden aus Stein und Zement existieren nicht. Mit Ausnahme einiger Moscheen sind Dächer aus Wellblech im Camp streng verboten, da sie bei Wirbelstürmen umherfliegen könnten. Auch die Gesundheitsstationen von GK sind nur Behelfsbauten aus Bambus und Plastikplanen – genauso wie die hunderttausenden von Hütten. Allen bleibt nur die Hoffnung, dass der Monsun mild ausfällt.

Die Politik hinter der Katastrophe

Die prekäre Lage der Flüchtlinge ist das Ergebnis politischen Entscheidungen. Wiederholt hat die bangladeschische Premierministerin Sheikh Hasina deutlich gemacht, dass Ursprung und Lösung der Krise in Myanmar lägen. Das heißt auch, dass die Rohingya nicht länger als nötig im Land bleiben sollen. Das ihr unterstellte NGO-Büro genehmigt deshalb nur unmittelbare Nothilfemaßnahmen. Längerfristige Programme oder entwicklungsorientierte Projekte sind untersagt. An den Zufahrten ins Lager überwachen Soldaten, dass kein Material für stabilere Gebäude hineinkommt – oder Flüchtlinge herauskommen. Sie sollen unter Kontrolle bleiben. Deshalb auch die Entscheidung im vergangenen Jahr, die hunderttausenden Neuankömmlinge nicht auf die bestehenden rund zehn Camps in der Region aufzuteilen, sondern das Lager Kutapalong auszubauen. So wurde das größte Flüchtlingslager der Welt als gefährliches Provisorium erschaffen.

Allein, mit einer baldigen Rückkehr der Rohingya ist nicht zu rechnen. Zwar wurde bereits ein Rückkehrabkommen zwischen Bangladesch und Myanmar geschlossen, doch an dessen Umsetzung glaubt kaum jemand. Zu viele Verabredungen dieser Art wurden in den letzten Jahrzehnten geschlossen, ohne dass die Geflüchteten tatsächlich zurückkehren konnten. Im Gegenteil. Immer neue Gewalt und Vertreibungen ließen die Zahl der nach Bangladesch geflüchteten Rohingya von rund 200.000 auf heute fast eine Million ansteigen. „Es wird auch diesmal keine Lösung geben“, ist Dr. Mohib überzeugt. Er leitet das Hospital von GK in der Hauptstadt Dhaka. 1992 hat er die damalige Rohingya-Nothilfe koordiniert und die erste Klinik im Camp Kutapalong aufgebaut. Sie ist immer noch da – genauso wie die Flüchtlinge von damals.

Auch die heutige Koordinatorin Nasima Yasmin rechnet nicht damit, dass sich in den nächsten zehn Jahren etwas verbessert. Umso wichtiger sei es langfristig zu planen – auch bei der Finanzierung der Programme. Die Camps seien von der internationalen Hilfe absolut abhängig. Oft genug schlafe bei den Gebern nach einem Jahr das Interesse schlagartig ein. Während Myanmar auf Zeitspielt, hat Bangladesch dem wenig entgegenzusetzen. Ohne Druck durch Indien wird sich nichts bewegen. Umgekehrt wird Sheikh Hasina kein Dokument unterzeichnen, das indischen Belangen zuwiderläuft. Der große Nachbar hat aktuell jedoch kein Interesse an einer Konfrontation mit Myanmar, ebenso China, das gemeinsam mit Russland im UN-Sicherheitsrat größeren diplomatischen Druck verhindert. Beide südasiatischen Regionalmächte investieren zurzeit im großen Stil in Myanmar. Als Kernelemente der neuen Seidenstraße werden große Infrastrukturprojekte – vom Tiefseehafen bis zu Pipelines – gebaut. Außerdem ist Myanmar ist ein bedeutender Abnehmer russischer Waffen. Eine eigene Stimme in der UN haben die staatenlosen Rohingya nicht.
 

Warum sollte Myanmar also die Rohingya zurückkehren lassen, nachdem sie diese gerade erst erfolgreich vertrieben hat? 1982 wurde ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen und damit ihr Recht auf Rechte getilgt. 2014 bei der letzten Volkszählung wurde der Begriff „Rohingya“ gar ganz gestrichen und damit ihre Existenz in kalter bürokratischer Manier ausgelöscht. wenig bis nichts spricht dafür, dass ihre Diskriminierung und Ausgrenzung ein Ende finden. Auch die UN hat massiv Vertrauen verspielt durch ihr neuestes Abkommen mit Myanmar. Sie bekommt darin Zugang zum Land und will den Flüchtlingen dann unparteiische Informationen zur Sicherheitslage für die Minderheiten bereitstellen. Allerdings klammert sie die Frage der Staatsangehörigkeit komplett aus. Dabei ist genau das für die Rohingya die Grundlage für die glaubwürdige Beendigung ihrer rechtlosen Unsicherheit.

„Die meisten Rohingya würden gerne in ihre Heimatdörfer zurückkehren und fordern dies auch ein. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kommt das aber für niemanden in Frage“, sagt GK-Direktor Dr. Kadir. Dauerhaft und ohne Perspektive im Camp bleiben zu müssen, sei aber auch keine Alternative. Die Flüchtlingslager können das unmittelbare Überleben sichern, nicht mehr. Schon jetzt nehmen Probleme mit häuslicher Gewalt und Drogenkonsum zu. Das Bild der Rohingya in der bangladeschischen Öffentlichkeit leidet unter denjenigen, die sich in ihrer Not anheuern lassen, um die Designerdroge Jaba zu schmuggeln. Zusätzlich wird befürchtet, dass sich islamistische Tendenzen ausbreiten.

Einbürgerung vs. Gefängnisinsel

Dr. Kadir hat deshalb einen Vorschlag. „Lasst uns die Rohingya einbürgern. Sprachliche oder kulturelle Barrieren zwischen ihnen und den Bangladeschis im Südosten gibt es nicht. Dann könnten sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und die Kinder in die Schule gehen. Die Erwachsenen können sich Arbeit suchen oder mit dem bangladeschischen Pass im Ausland Geld verdienen“, erläutert er. Die meisten kritischen Köpfe der Zivilgesellschaft teilen diese Auffassung. Im Mainstream findet sie jedoch keinen großen Anklang. „Ich habe diese Idee einmal vorsichtig in einem Meeting mit UN und Regierungsvertretern erwähnt. Die haben nur gelacht und dachten ich scherze“, erzählt Dr. Kadir. Dabei könnte das Geld, das die langfristige Versorgung eines Lagers verschlingt, in Entwicklungsprojekte fließen, die Einheimischen wie Eingebürgerten gleichermaßen nutzen.

Die staatlichen Planungen gehen jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Auf dem G7-Gipfel in Kanada hat Premierministerin Sheikh Hasina für die Umsiedlung der ersten 100.000 Rohingyas auf die unbewohnte Insel Bhashan Char geworben. Die vom Meghna-Fluss geformte Sandbank liegt weit draußen im Golf von Bengalen. Für rund 280 Millionen Dollar baut die Marine dort mit britischen und chinesischen Ingenieuren an Deichen und kasernenähnlichen Gemeinschaftsunterkünften, die an Internierungslager erinnern. Die Gebäude stehen auf Stelzen, denn die Insel wird regelmäßig überflutet. Auch Sturmfluten und Wirbelstürme nagen an ihr. Die Journalistin Saydia Gulrukh von der unabhängigen Online-Zeitung „New Age Bangladesh“ in Dhaka kritisiert Bhasan Char als „zynisches Megaprojekt, damit der Tourismus am längsten Sandstrand der Welt in Cox Bazar nicht länger durch die Anwesenheit Flüchtlinge gestört wird“. In Wahrheit entstehe eine Gefängnisinsel ohne Einkommensmöglichkeiten und Kontakt zur Außenwelt. „Unabhängige Helfer und Journalisten werden es dann noch schwerer haben, da das Lager von Militär betrieben werden soll und leicht abzuschotten ist“, befürchtet sie. Damit blieben der Weltöffentlichkeit in der nächsten Monsun-Periode die schlimmen Katastrophenbilder erspart. Für die Rohingya würde es den geräuschlosen Untergang bedeuten.
 

Am Anfang stand die Vision einer Bewegung, die ein solidarisches Netzwerk von Basisgesundheitseinrichtungen aufbaut. Heute, fast 50 Jahre später, ist Gonoshastaya Kendra (GK) die größte nichtstaatliche Gesundheitsorganisation Bangladeschs. Die Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeiter betreuen mehr als eine Million Menschen in fast 600 Dörfern und Städten in allen Teilen des Landes, sie vermitteln medizinisches Wissen und Kenntnisse über Ernährung, Familienplanung und die sozialen Verhältnisse. In Katastrophenfällen leistet GK Nothilfe – und immer wieder auch für die vertriebenen Rohingya.

Spendenstichwort: Nothilfe Bangladesch


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 19. Juni 2018

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