Ministerium und Zivilgesellschaft ziehen (selbst-)kritische Zwischenbilanz der Gesundheitsreform

Über 200 Vertreterinnen und Vertreter des Gesundheitsministeriums, der Sozialversicherung und anderer staatlicher Einrichtungen, der Ärztebewegung Salvador Allende sowie der Allianz gegen die Privatisierung der Gesundheit (ACCPS) und des Nationalen Gesundheitsforums fanden sich zusammen, um darüber zu beraten, wo die Gesundheitsreform aktuell steht und welches die zentralen Herausforderungen für die kommenden zwei Jahre sind. Anwesend sind Gesundheitspromotorinnen und –promotoren, Vertreterinnen und Vertreter der lokalen Gesundheitskomitees, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen der ACCPS, Krankenschwestern, Ärzte, Funktionäre und die Spitze des Ministeriums.

Gesundheitsreform basiert auf Konzepten aus der Zivilgesellschaft

María Isabel Rodriguez, die Gesundheitsministerin, eröffnet die Tagung mit einem kurzen Rückblick und referiert das bislang erreichte. Sie würdigt den Beitrag, den die zivilgesellschaftlichen Organisationen durch ihren Vorschlag einer grundlegenden Reform des Gesundheitswesens, geleistet haben und dass dies von Präsident Funes aufgegriffen und umgesetzt wurde. Sie betont, dass alle weiteren Schritte darauf ausgerichtet sind, das Recht auf Gesundheit für alle Bürgerinnen und Bürger El Salvadors zu gewährleisten und dass das Konzept der Primären Gesundheitsversorgung deshalb zentraler Pfeiler der Reform ist. Sie macht aber auch die Grenzen der Reform deutlich. „Wir versuchen, ein integriertes und integrales Gesundheitswesen herzustellen, denn leider sind die politischen Bedingungen für die Umsetzung eines 'Einheitlichen Gesundheitssystems' (Sistema Único de Salud - SUS) nicht gegeben“. Dies bezieht sich vor allem auf die weiter bestehende Trennung zwischen dem öffentlichen Gesundheitssystem des Ministeriums, das sich um die Mehrheit jener kümmert, die keinerlei Krankenversicherung haben, und des Systems der Sozialversicherung, mit eigenen Krankenhäusern etc.

Präsident Funes erhöht Gesundheitsetat - weniger als geplant

Die Ministerin resümiert den Stand der Umsetzung der acht Eckpfeiler der Reform und betont die Bedeutung der integralen und integrierten Gesundheitsnetze. „Diese setzen direkt bei den Ausgegrenzten und Marginalisierten an und haben dadurch am meisten direkte Wirkung“. Gemeint sind damit vor allem die sogenannten ECOS, die Equipos Comunitarios de Salud (gemeinwesenbezogene Gesundheitsteams), die unmittelbar vor Ort in den Dörfern und Stadtvierteln angesiedelt sind. 450 ECOS sind mittlerweile eingerichtet. Circa 3.500 neue Stellen wurden im öffentlichen Gesundheitswesen geschaffen, auf allen Ebenen. 1,6 Mio. Personen sind dadurch unmittelbar begünstigt. Der Haushalt für Gesundheit wurde von 326 Mio US-Dollar in 2005 mit der Regierungsübernahme durch die FMLN in 2009 auf 458 Mio und schrittweise weiter auf 572 Mio. in 2012 erhöht. „Ungeachtet der finanziellen Krise, hat die aktuelle Regierung an dem politischen Willen zugunsten der Gesundheitsreform festgehalten“, konstatiert die Ministerin, ohne zu verschweigen, dass Präsident Funes sein Wahlversprechen einer Erhöhung des Gesundheitsetats auf 5% des Bruttoinlandsprodukts bereits aufgekündigt hat. „Wir liegen aktuell bei 2,4% des BIP und eine weitere Erhöhung werden wir nicht bekommen.“ Die Allianz kündigt ihrerseits an, dass sie breit mobilisieren und Druck ausüben wird, damit diese Entscheidung des Präsidenten im Rahmen der Debatte des Staatshaushaltes 2013 gekippt wird.

Die Gesundheitsversorgung zu den Menschen bringen

„Es geht uns bei all dem um den Wandel von dem bisherigen Konzept einer canasta básica, eines beschränkten Angebots der Gesundheitsversorgung, zu einem Konzept des umfassenden Gesundheitsschutzes, von der Fokussierung auf einzelne Programme, wie bspw. die Impfkampagnen oder die Mutter-Kind-Programme, zu einer graduellen Universalisierung; von einem Angebot, das auf Nachfrage reagiert, spricht nur jene berücksichtigt, die in den Gesundheitseinrichtungen vorstellig werden, zu einem bevölkerungsbezogenen Ansatz, der auf die Menschen zugeht; von einer Förderung der privaten Medizin zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit; von der punktuellen Versorgung, die auf akute Erkrankungen reagiert, hin zu einer Vermeidung von krankmachenden Verhältnissen; von dem Assistenzialismus zur umfassenden Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit.“

Neues Medikamentengesetz beschneidet Macht der Pharmaindustrie

Bei dem zweiten Eckpfeiler, Medikamente und Impfstoffe, haben die Erfolge auf sich warten lassen. Erst kürzlich, vor den Parlaments- und Kommunalwahlen verabschiedeten die Abgeordneten das neue Medikamentengesetz. Es brauchte zehn Jahre, zwei davon unter der neuen Regierung, weil hier die ökonomischen Interessen der mächtigen salvadorianischen Phamaindustrie, u.a. die Firmen der Ex-Präsidenten der rechtsextremen ARENA-Partei Cristiani und Saca, direkt tangiert sind. Die Allianz hat auch seit der Amtsübernahme von Funes immer wie breiten Protest mobilisiert, letztendlich haben aber wohl wahltaktische Kalküle den Ausschlag für die Verabschiedung des Gesetzes gegeben. Die Allianz bleibt misstrauisch, denn noch liegen die Ausführungsbestimmungen noch nicht vor und wurde der Direktor des neuen Medikamenteninstituts nicht benannt. Die Skepsis beruht auch darauf, dass die Benennung dieser Position im Gesetz dem Präsidenten zugeschrieben wird, nicht dem Gesundheitsministerium. Die Vertreter der Allianz nutzen die Konferenz, um ihrerseits bekannt zu geben, dass sie Dr. Miguel Arellano, Direktor der Nichtregierungsorganisation ASPS, die Mitglied der Allianz ist, für diesen Posten vorschlagen und alle Anwesenden auffordern, diese Kandidatur aktiv zu unterstützen, was von diesen mit breitem Applaus beantwortet wird.

Vorbild El Salvador: Alle an einem Tisch

Das Setting dieser Konferenz ist wirklich bemerkenswert. Die unterschiedlichsten Akteure sind versammelt und machen ihre Positionen deutlich. Die Anerkennung dessen, was die Leitung des Ministeriums in den vergangenen zwei Jahren geleistet hat, ist keine Anbiederung, ebenso im Gegenzug die Würdigung des Engagements der zivilgesellschaftlichen Akteure. In den Plena und Arbeitsgruppen werden genauso dezidiert die Probleme und Schwächen in der Umsetzung der Reform aufgezeigt. Zu allen Eckpfeilern der Reform werden in Arbeitsgruppen Stärken und Schwächen, Herausforderungen und Hemmnisse sowie Empfehlungen ausgearbeitet und anschließend in Plenum vorgestellt. Eduardo Espinoza, der Vizeminister für Gesundheitspolitik, und Argelia Dubón, Direktorin der Abteilung Primäre Gesundheitsversorgung (in den 80er Jahren Sanitäterin und Gesundheitspromotorin in der Guerilla und heute Doktorin in Public Health), diskutieren mit, hören zu und erläutern die Position des Ministeriums. Völlig undenkbar wäre dies nicht nur im heutigen Guatemala, sondern bedauerlicherweise auch im Nicaragua des Ortega-Sandinismus. Vielleicht kommen die internationalen Gäste dieser Konferenz deshalb auch aus Argentinien, Ekuador und Peru, nicht aus den zentralamerikanischen Nachbarländern.

San Salvador, 29./30. März 2012

Dieter Müller

Veröffentlicht am 17. April 2012

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