Nach der Befreiung

Kobanês Stunde Null

Ein demokratisches Experiment wurde gegen den Terror des Islamischen Staats verteidigt: Im freien Kobanê beginnt der Wiederaufbau.

Die Nacht ist kalt und sternenklar. Auf dem dunklen Feld ist schemenhaft eine Erhebung zu sehen. Dort beginnt der Bahndamm, der jahrzehntelang unüberwindbar schien. Neben den Gleisen flackert eine Feuerstelle. Schatten sind zu sehen, sie lachen und rufen. Wir sind in Kobanê angekommen. Hier verläuft die Grenze zwischen zwei Staaten, die die Siegermächte des Ersten Weltkriegs aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches herausschnitten. Im Vertrag von Lausanne wurde im Jahr 1923 die Südseite der Eisenbahntrasse zwischen den syrischen Städten Jarablus im Westen und Qamisli im Osten als Grenze zwischen der Türkei und Syrien festgelegt. Für die kurdische Bevölkerung in dieser Region war das Streckengleis ein Ärgernis, ein feindlicher Eingriff kolonialer Mächte.

Kaum jemand sagte, dass er in der Türkei oder in Syrien lebte, sondern die Familien lebten allenfalls „links oder rechts vom Gleis“ und nicht selten auf beiden Seiten gleichzeitig. Die Grenze aber blieb verschlossen. Bis vor einigen Jahren der arabische Frühling auch Syrien ergriff und das gesellschaftliche Aufbegehren vom Regime Bashar al-Assad mit blutiger Gewalt beantwortet wurde. Der Bürgerkrieg begann. Den Kurden in Syrien öffnete er ein Fenster zu einer lang ersehnten Autonomie. Weil sie jede religiöse Anrufung verwarfen und auf einem eigenen Weg der demokratischen Differenz beharrten, wurden sie zur Zielscheibe der internationalen Dschihadisten, die mit Duldung der türkischen Regierung nach Syrien strömten. Die poröse Grenze wurde auf einmal zur Bedrohung, zumal sie nur in eine Richtung offen ist. Bis heute können Kurden aus Angst vor Festnahmen oder Schüssen durch türkische Grenzbeamte nur bei Nacht und unter Lebensgefahr den messerscharfen Drahtverhau überwinden.

Schritte ins Neue

Auf der anderen Seite des Zauns angekommen, treffen wir als erstes auf Wachposten der kurdischen YPG/ YPJ-Selbstverteidigungskräfte. Die Gruppe der Ankommenden verteilt sich auf ein paar Pick-ups und Kleinbusse, die hier auf uns warten. In der Reisegruppe sind Jugendliche aus den kurdischen Gebieten in der Türkei, die nach Kobanê kommen, um sich dem Kampf gegen die Milizen des „Islamischen Staat“ (IS) anzuschließen. Dabei sind aber auch zwei junge Anarchisten, sie kommen aus Istanbul, erkennbar an ihren Kapuzenpullovern und Ohrringen mit schwarz-roten Sternen. Murat, der sich als „Anarchist“ vorstellt, spricht über Kropotkin, „Volkskommunen in Rojava“ und grenzüberschreitende Solidarität. Eine surreal anmutende Szene angesichts des Umstands, dass nur fünf Kilometer entfernt die andere und sehr tödliche „Internationale“ der IS-Kämpfer lauert. Dabei ist auch Izminaz, eine junge türkischstämmige Journalistin einer Nachrichtenagentur, die eine Reportage über Gruppen der türkischen Linken machen will, die in Kobanê den Widerstand unterstützen. „Rojava ist auch für uns, die Generation des Gezi-Parks, ein Ort neuer Möglichkeiten“, sagt  die 27-Jährige.

Langsam nähert sich die Wagenkolonne der Stadt von östlicher Seite, die Scheinwerfer werden ausgestellt. Hier beginnt das Viertel Kaniya Kurda, in dem noch vor wenigen Tagen heftige Kämpfe stattfanden. Selbst im Dunkeln wird schnell deutlich: Kobanê ist eine weitgehend zerstörte Stadt. Nirgendwo brennt Licht und erst nach einer zwanzigminütigen Fahrt sehen wir erstmals Häuser, die einigermaßen intakt wirken. Am nächsten Tag erschließt sich die Dramatik der Situation vollends. Gemeinsam mit der lokalen medico-Mitarbeiterin Rusen machen wir einen Rundgang durch die Stadt. Ein süßlich fauliger Geruch liegt in der Luft. Wir gehen durch vom Regen aufgeweichte Straßen und durchqueren ein Geschäfts- und Verwaltungsviertel östlich vom Freiheitsplatz von Kobanê, auf dessen Rondell die Statue des kurdischen Adlers wie ein Wunder alle Kämpfe überstanden hat. Den Straßenrand säumen zerschossene Schaufenster und aufgebrochene Läden. Schaufensterpuppen liegen auf der Straße, verschlammte Schuhe, in den Geschäften hängen noch Kleider auf der Stange. Am Ende der Einkaufsstraße öffnet sich ein Panorama der Zerstörung.

In Kaniya Kurda wird die große Querstraße von einem tiefen Krater gespalten. Die mehrstöckigen Häuser sind bis auf die Außenmauern skelettiert, die Betonplatten der Etagen zerborsten. Alle Gebäude im Sichtfeld sind zusammengefallen. Geröllberge, zerbeulte Autos, Hausrat. Und wieder dieser süßliche Geruch, der jetzt stärker wird. Neben dem Krater aus roter Erde streunt ein Hund, zwei Hühner gackern. Ein schwarzer Haufen ist zu sehen. Verdreckte Kleidung und ein kleiner Fuß. Dann ein Haarschopf. Wenige Schritte weiter liegen zwei Männer, beide im Zustand erster Verwesung. Sie tragen die Kampfinsignien des IS: lange Bärte und Haare, schwarze Stirnbänder und Jacken. Kani zeigt auf das kleine Bündel mit dem Haarschopf am Kraterrand.

„Daesh“, wie die Kurden den IS nennen, setze auch Kinder ein. Eine der Männerleichen stammt aus Afrika. „Vielleicht von Boko Haram?“, Kani lacht bitter. Der 48 Jahre alte Kurde, dessen Schnauzbart schon ergraut ist, hat den ganzen Krieg in Kobanê verbracht. Drei seiner Töchter sind bei den Fraueneinheiten der YPG, seine drei jüngsten Kinder sind mit seiner Frau in ein Flüchtlingslager im türkischen Suruç geflohen. „Meine drei großen Mädchen haben bis zum Kriegsanfang alle studiert“, betont Kani. Unter Bashar al-Assad saß er drei Jahre im Gefängnis, weil er mit einem Piratensender kurdische Musik verbreitet hatte. Studieren konnte er nicht. Er wurde Elektriker. „Aber als der Kanton Kobanê im Frühjahr 2013 gegründet wurde, kamen meine Töchter aus Aleppo und Damaskus zurück und schlossen sich den kurdischen Einheiten an“, sagt Kani.

Trotz der Zerstörung und allgegenwärtiger Spuren der Grausamkeit des IS liegt eine seltsame Freude über der Stadt. Wir treffen Gruppen von zumeist jungen Männern, aber auch viele Frauen. Fast alle sind bewaffnet und es ist auffällig, wie gelöst, fast heiter sie wirken.

Kobanê liegt in Trümmern. Die jungen Kurden und Kurdinnen aber fühlen sich als Sieger in einer Schlacht, die ihre eingekesselte Stadt, die im isoliertesten und ärmsten der drei kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien liegt, zum weltweiten Symbol des Widerstands gegen den IS machte.

Verwaltung mit dem Telefon

Im letzten Hospital der Stadt herrscht permanente Anspannung. Es liegt in einem alten Lagerkomplex und wurde ausgewählt, weil ausreichend Kellerräume zur Verfügung standen. Die drei Krankenhäuser des Vorkriegs-Kobanê hat der IS zerstört und vollständig geplündert. Die große Poliklinik am Rande der Stadt ist nur noch eine ausgebombte Ruine. In den Trümmern liegt auch die Blutbank, die medico auf Wunsch der lokalen Ärztekommission im Sommer letzten Jahres lieferte. Im Hof steht der Krankenwagen, den medico nach langer Blockade der türkischen Behörden Anfang Februar 2015 endlich in die Stadt schicken konnte. Er hat bereits mehrere Einsätze hinter sich und konnte verletzte Zivilisten, die am Rande der Stadt von Streumunition verletzt worden waren, ins rettende Kellerkrankenhaus transportieren. In der Ecke knattert ein Generator. Strom gibt es schon seit über einem Jahr nicht mehr.

Einige Ärzte sitzen im Hof und rauchen. Alle sind völlig übernächtigt. „Unsere Ärzte arbeiteten hier seit Beginn des Krieges rund um die Uhr. Tatsächlich waren wir zwischenzeitlich nur sechs Kollegen und zehn Krankenschwestern, um alle Verletzten zu versorgen“, sagt Dr. Nassan Ahmed, der zugleich der Gesundheitsminister des Kantons ist. „Unser Medikamentenlager war ausgebombt, wir hatten nur minimale chirurgische Instrumente und gingen wirklich an die Grenzen unserer Möglichkeiten“, berichtet der Mitvierziger, der auch während des Gesprächs immer wieder aufs Smartphone guckt und Anrufe entgegennimmt. Denn die Stadt wird allein mit dem Telefon regiert. Schreibtische und Büros gibt es nicht mehr. Nicht nur die Krankenhäuser sind zerstört und 80 Prozent aller Wohnhäuser, auch alle Verwaltungsgebäude liegen in Trümmern.

Dr. Nassan denkt dennoch bereits an die Zukunft: „Es geht um die sichtbaren Kriegsschäden, aber auch um die elementarsten Dinge des Lebens. Ist das Wasser in unseren Brunnen kontaminiert? Wie können wir die Gesundheitsversorgung wieder herstellen und wie können wir von einer Kriegssituation in eine Phase der Rücksiedlung übergehen?“ Dem engagierten Arzt ist die Heimkehr der Flüchtlinge besonders wichtig: „Wir haben hier in Kobanê eine für Syrien außergewöhnliche Chance. Unsere Stadt mag zerstört sein, aber unsere sozialen Beziehungen sind intakt. Unsere Flüchtlinge warten auf der anderen Seite der Grenze nur auf den Tag ihrer Rückkehr. Ihre Häuser sind nicht mehr da, aber unsere Idee eines demokratischen Miteinanders, dass alle, ob Kurden oder Araber, unabhängig von ihrer Konfession zusammen leben können, hat überlebt.“ Auch deshalb sei die Hilfe für den Wiederaufbau so wichtig: denn niemand könne „auf Dauer in Ruinen leben“.

Das weite Feld

Wir fahren Richtung Grenze, im Westen der Stadt. Ein Feld erstreckt sich bis zum Bahndamm. Kleine Obstplantagen säumen den Wegesrand. Wir erreichen das frühere Niemandsland zwischen der türkischen und syrischen Grenze. Der alte Pick-up rumpelt einen Feldweg entlang und hält an einem militärischen Feldposten. Es ist 9.00 morgens in Kobanê und der Apotheker Menaf Kitkani beginnt mit zwei Mitarbeitern seine Runde mit der mobilen Apotheke des kurdischen roten Halbmondes, Heyva Sor. Auf der Ladefläche sind Kisten mit verschiedenen Medikamenten gestapelt. Gegen Asthma, Erkältungskrankheiten, Bluthochdruck, Zahnschmerzen, Nierenentzündungen, dazu Babynahrung und Windeln. An manchen Kisten klebt ein medico-Aufkleber.

In 500 Metern Entfernung sind unzählige Fahrzeuge zu sehen. Mähdrescher, Traktoren mit Hängern, offene Kleinlaster und PKWs. Hier campieren die Bauern aus dem Umland der Stadt. Zurzeit sind es etwa 1.000 Personen, unter ihnen viele Männer, aber auch Familien mit ihren Kindern. Sie alle sind vor dem IS-Terror geflohen. Hassan Ibrahim ist seit drei Monaten hier. Der 30-jährige Bauer floh mit seinem Traktor aus einem kleinen Weiler westlich von Kobanê. Er trägt eine braune Kunstlederjacke und eine abgetragene Jeans. „Wir konnten nur uns selbst retten und mussten unsere Tiere zurücklassen.“ Seine Frau und vier Kinder seien im türkischen Suruç, gleich hinter der Grenze. Heute holt er sich ein Medikament gegen Nierenschmerzen, aber alles sei letztlich unerheblich, solange er und seine Familie in ihr Dorf zurückkehren können.

„Meine Frau fragt fast jeden Tag, wann sie kommen können. Sie will nicht in der Türkei bleiben.“ Ein älterer Mann, der sich auf einen Stock stützt, nähert sich der mobilen Apotheke und lässt sich ein Rheumamittel geben. Er heißt Mushin Ali und ist 57 Jahre alt. Als er zu sprechen beginnt, rollen ihm die Tränen in seinen grauen Bart: „Sie haben meine Familie verschleppt. Meine Frau, meine drei kleinen Mädchen und meinen Sohn hat der IS entführt.“ Es geschah im Dorf Borazi, das im Südwesten des Kantons Kobanê liegt. Viele der 200 Familien aus Borazi hätten fliehen können, aber einige Männer seien getötet und besonders Frauen und Kinder gefangengenommen worden. „Seit fünf Monaten habe ich von meinen Liebsten nichts mehr gehört. Ich weiß nicht, wo sie sind und ob sie noch leben.“ Mushin Ali kann sein Schluchzen nicht mehr unterdrücken, weinend wendet er sich ab und verschwindet hinter den Zelten.

Erste Zukunftspläne

Die kurdische Verwaltung will in naher Zukunft auf den grenznahen Feldern vor der Stadt eine provisorische Flüchtlingsstadt bauen. Alle Flüchtlinge sollen zurückkommen können und von dort aus in Versammlungen mit einer ausdrücklichen Frauenquote debattieren und beschließen, wie ihre Stadt wieder aufgebaut werden kann. Ist es möglich inmitten des Elends nach Prinzipien der Basisdemokratie über den Aufbau eines kriegszerstörten Gemeinwesens zu entscheiden? Enver Muslim, der Ministerpräsident des Kantons, der an keinem Tag des Krieges seine Stadt verlassen hat, ist jedenfalls fest davon überzeugt. Wir treffen ihn in einer Wohnung, die er mit anderen provisorisch bezogen hat, da auch sein Haus nur noch ein Trümmerhaufen ist. Der 47-jährige frühere Anwalt und Menschenrechtsaktivist  glaubt unerschütterlich an eine kurdische Zukunft in Syrien und, das ist ihm besonders wichtig, auch an ein demokratisches Syrien.

„Nein, wir sind keine Separatisten“, weist er den Vorwurf des kurdischen Sonderweges zurück. „Natürlich ist Kobanê für die kurdische Idee jetzt ein besonderer Ort geworden. Hier sind Kurden aus allen Teilen Kurdistans, aus der Türkei, aus dem Iran und dem Irak. Aber wir wollen Syrien nicht verlassen, sondern verstehen unser Modell der Selbstverwaltung als ein Angebot an andere Regionen des Landes.“

Dann spricht er über das Ende der alten Kolonialgrenzen, über autoritäre Zentralstaaten und das Ende des syrischen Baath-Regimes. „Bashar al-Assad wird bleiben und ist zugleich schon Geschichte“, erklärt er. „Der Westen muss verstehen, dass das Regime für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine Sicherheitsgarantie bietet. Ohne ein tatsächliches innersyrisches Angebot an alle Bürger wird es dafür keine Lösung geben. Wir haben unsere christlichen Bürger in Rojava letztlich überzeugen können zu bleiben, indem wir als allererstes ihre religiösen Stätten vor den Terroristen geschützt haben.“

Enver Muslim ist aber auch Realist genug, um zu wissen, dass ein demokratisches Syrien noch in weiter Ferne ist. Daher geht es jetzt um die Sicherung des Erreichten. Kobanê muss aufgeräumt werden. Dafür aber sind Kräne und schweres Baugerät notwendig, das nur über die Türkei eingeführt werden kann. Auch deshalb drängt die Kantonsverwaltung mit allem Nachdruck auf einen humanitären Korridor in die befreite Stadt. Der aber steht noch aus. Die Türkei und ihr allmächtiger Staatspräsident Tayyip Erdogan hält bislang die Grenzen dicht. Aus machtpolitischen Gründen möchte der „Große Meister“, wie ihn seine Anhänger nennen, ein kurdisches Demokratielabor jenseits seiner Grenze verhindern.

Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 1/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt bestellen!

Veröffentlicht am 26. Mai 2015

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