Israel/Palästina: Besuch vom Kap der Guten Hoffung

Südafrikanische Bürgerrechtler an den Brennpunkten des Konflikts. Von Inge Günther (Jerusalem).

27.09.08   Lesezeit: 8 min

Mohammad Ajasch strahlt über sein ganzes zerfurchtes Gesicht. Seine braunen Zahnstumpen sind so unübersehbar wie seine überschwängliche Freude. „Ahlan wa sahlan“ begrüßt der Alte die seltenen Gäste. Was heißt selten: Derartiges gab es in Biddu noch nie! Aus dem silbernen Bus klettern Schwarze, Weiße sowie Menschen mit diversen Hautfarben im Zwischenbereich. Die Kinder staunen mit offenen Mündern.

Nach Biddu verirrt sich sonst keiner. Schon gar nicht Besuch aus Südafrika. Das palästinensische Dorf ist quasi abgeschnitten von der Außenwelt. Nach Jerusalem sind es nur zehn Kilometer, aber ohne Sondererlaubnis der Israelis kann einer aus Biddu da nicht hin. Nach Ramallah ist es eigentlich nicht weiter. Aber die Fahrt dorthin bedeutet eine Odyssee über Checkpoints und Nebenwege, die Stunden dauern kann. Im Norden, im Süden und im Osten die großen Siedlungen, die Israel im arabischen Teil Jerusalems gebaut hat. Eine schwierige Nachbarschaft, die darauf Wert legt, die Palästinenser in Schranken zu weisen. Den 15.000 Bewohnern in Biddu und Umgebung hat das eine Art Inseldasein beschert. Um sich genau davon ein Bild zu machen, sind die Südafrikaner, durch die Bank Anti-Apartheid-Aktivisten, gekommen. 23 sind sie insgesamt. Unter ihnen Menschenrechtsanwälte, Parlamentarier des ANC (African National Congress), eine frühere Vizeministerin, ein Erzbischof. Sie zählen zu den unabhängigsten Köpfen, die am Kap zu finden sind. Sogar ein Richter der Obersten Revisionsinstanz in Südafrika ist dabei: Edvin Cameron, einst ein Bürgerrechtsanwalt, später der erste prominente weiße und schwule Südafrikaner, der sich zu seiner HIV-Infektion bekannte.

Manche daheim haben sich darüber echauffiert, dass er, ein hoher Richter, bei dieser fünftägigen Expeditionstour mitmache. Ärger deswegen fürchtet der hagere Mann nicht. „Dafür ist die moralische Autorität dieser Gruppe zu imposant.“

Die israelische Organisation „Breaking the Silence“ hat sie hergebracht. Junge Israelis, die publik machten, was sie im Militärdienst an Menschenrechtsverstößen in den besetzten Gebieten erlebten, seitens der Armee, aber auch der Siedler. Sie versprechen sich von den zivilcouragierten Südafrikanern verstärkte Gegenöffentlichkeit. In der Israel-loyalen jüdischen Gemeinde am Kap hat das schon im Vorfeld Kontroversen ausgelöst. Obwohl oder gerade weil gut die Hälfte der Delegation jüdisch ist. Zum Beispiel Andrew Feinstein, Sohn einer Holocaust-Überlebenden und verheiratet mit einer Moslemin aus Bangladesch. So einer lässt sich von keiner Seite vereinnahmen. Acht Jahre lang war Feinstein ANC-Abgeordneter. Bis er sich mit einer bitteren Abrechnung über den ANC und dessen umstrittenen Waffendeal von 1999 den Ruf eines unbestechlichen Parteirenegaten erwarb. Ihm gefällt Israels multikulturelle Gesellschaft. Aber er ist „entsetzt, wie wenig der israelische Rechtsstaat gegenüber den Palästinensern seine eigenen Gesetze einhält“.

Biddu ist dafür ein Exemplarfall. Enthusiastisch eskortiert das örtliche Empfangskomitee die auf dem Solidaritätsticket angereisten Südafrikaner ins Gemeindezentrum. Dessen Stirnseite ist dekoriert mit den Konterfeis von Yassir Arafat und seinem Nachfolger, Präsident Mahmoud Abbas. Selbstgebackene Brotfladen, bestreut mit geröstetem Sesam und Thymian, werden gereicht und natürlich der obligatorische, übersüße Tee. Dann legt Mohammad Ajasch los. Erzählt, wie alles angefangen hat, mit ihrem zivilen Protest gegen den Zaun- und Mauerbau, der ein Viertel der zu Biddu gehörenden Ländereien schluckte. 2004 war das. Als die israelischen Bulldozer begannen, die Olivenbäume auszureißen, „da“, berichtet Ajasch, „ist jeder, der konnte, aus dem Dorf angerannt und hat sich davor gesetzt“. Immer wieder haben die Leute in Biddu versucht, mit bloßem Körper die Bagger aufzuhalten. Der 75-jährige Abu Ali verlor dabei ein Auge. Fünf Palästinenser kamen ums Leben. Fast jeder aus der Dorfjugend trug Narben davon. Einige wanderten monatelang wegen des Vorwurfs, Steine auf Baufahrzeuge geschleudert zu haben, hinter Gitter.

Die Trennbarriere wurde trotzdem gebaut. Aber Biddu wurde zum Modell für gewaltlosen Widerstand, organisiert auf dörflicher Ebene von Volkskomitees, die in anderen Westbank-Dörfern wie Bilin, Budrus und derzeit in Nilin Schule machten. Stets mit dabei: linke israelische Friedensaktivisten, die bei den Protesten genauso wie die Palästinenser ihre Haut riskierten. Ihre Anwälte fochten derweil die Landenteignung vor Gericht an. Im Fall Bilin mit Erfolg. 120 Hektar, etwas mehr als die Hälfte des konfiszierten Bodens, gewannen sie zurück. Auch wenn das Urteil zugunsten der Kläger, eine teilweise Rückversetzung des Sperrzauns, bis heute nicht vollstreckt ist: Sie halten durch, noch immer. Darauf sind sie stolz. „Wir fühlen, dass unser Widerstand eurem ähnelt“, wendet sich einer der Vertreter aus dem Volkskomitee in Biddu an die südafrikanischen Gäste. „Ihr habt der Welt gezeigt, dass keine Rasse oder Nation auf Dauer andere dominieren kann. Auch wir wollen ohne Apartheid-Mauer und ohne Bantustans leben.“

Die südafrikanischen Bürgerrechtler sind weniger schnell bei der Hand mit dem Apartheid-Vergleich. Sicher, die Frage begleitet sie auf ihrer fünftägigen Tour-de-Force durch Jerusalem und das Westjordanland so unvermeidlich wie die sengende Juli-Sonne. Anders als die meisten Politiker auf Nahost-Trip erfahren sie das Checkpoint-System am eigenen Leib. „Im System der Diskriminierung“ erkennt Janet Love, eine blasse Frau mit Millimeter kurzen blonden Haaren, eine „Menge an Parallelen“ zu dem Apartheidsystem in Südafrika. Aber bei der Suche nach einer Lösung sieht sie, einst ANC-Kämpferin, heute Direktorin der größten südafrikanischen Nichtregierungsorganisation, die Parallele nicht. In Südafrika ging es immer nur um gleiche Bürgerrechte für alle in einem Staat. Im Nahost-Konflikt soll friedliche Koexistenz auf Basis zweier Staaten geschaffen werden. Neben Israel ein Palästina. Nicht nur Janet Love kommen da Zweifel, ob das überhaupt noch zu machen ist, angesichts des „Ausmaßes der Siedler-Invasion“. Ihr Blick schweift über den Sperrwall, der sich durch palästinensisches Land schneidet. „Das rückgängig zu machen, ist viel schwieriger, als Gesetze zu ändern.“

Es ist Abend geworden, über ruckelige Straßen ist der Silberbus in Budrus angelangt. Janet Love nimmt am Längstisch vor dem Mikrofon Platz. Zwei weitere alt gediente ANC-Mitglieder werden ihre Geschichte erzählen: Barbara Hogan und die schwarze Nosiswe Madlala Routledge, ausgestattet mit enormer Leibesfülle und genauso viel Charisma. Die palästinensischen Gastgeber, allesamt männlich, blicken skeptisch. Soviel Frauenpower sind sie nicht gewohnt. Aber als Janet Love schildert, wie sie sich in jungen Jahren dem bewaffneten Arm des ANC anschloss, knistert es vor Spannung. Nach wie vor ist sie stolz, Soldatin im Kampf gegen die Apartheid gewesen zu sein. „Aber wir verstanden, dass der politische Flügel den Kurs bestimmen muss.“ Der Satz sitzt. Die Männer sind beeindruckt. Derart knapp und auf den Punkt wurde selten ein Seitenhieb gegen palästinensisches Militanzgehabe ausgeteilt.
Dann spricht Barbara Hogan, die in einem Elternhaus aufwuchs, in dem man die weiße Vorherrschaft mit allen Mitteln verteidigen wollte. „So, wie viele Israelis nicht wissen, wie es in den palästinensischen Gebieten aussieht, hatte ich in meiner Jugend niemals ein schwarzes Homeland zu Gesicht bekommen.“ Dass sie sich dennoch für die schwarz-weiße Befreiungsbewegung entschied, bezahlte sie mit neun Jahren Haft. Hogan sagt, dass ihr die Situation in der Westbank „zehnmal schlimmer“ als damals in Südafrika vorkomme. Im Westen wird man das als Provokation pur empfinden. Schon Ex-US-Präsident Jimmy Carter hat sich mit seinem Buch über den Nahost-Konflikt – „Peace, no Apartheid“ – Schmähkritik eingehandelt. Die Palästinenser indes nehmen Hogans Worte als Bestätigung dessen, was sie schon lange behaupten.

Schließlich Nosiswe. Strengen Blickes schaut sie in die Runde, wie die Lehrerin am Pult einer Dorfschule. Mit dunkler Stimme empfiehlt sie, einen alten ANC-Slogan zu übernehmen: „Freiheit und Frieden zu unserer Lebenszeit.“ Ewas, das Hoffnung mache. Das Volk vereine. Eine Massenbewegung kreieren könne. Davon ist man im Machtkampf zwischen Hamas und Fatah weit entfernt. In Budrus lauschen sie trotzdem gebannt, Palästinenser wie mit angereiste israelische Unterstützer. Als ob dort vorne ein weiblicher Nelson Mandela rede.

Sie würden sich gerne eine Scheibe davon abschneiden, vom „Spirit“ der südafrikanischen Befreiungsbewegung. Am nächsten Tag in Hebron, in dessen Zentrum ein paar hundert rechtsextreme Siedler tausende Palästinenser verdrängt haben, gibt es zumindest eine Kostprobe. Als die Polizei drei Mitglieder von „Breaking the Silence“ wegen angeblicher Ruhestörung festnimmt, stimmt die Gruppe Lieder aus Südafrika an. Bewegende, mehrstimmige Gesänge. Die Rührung treibt einigen Begleitern Tränen in die Augen. Auch Zackie Achmat, der schwule Aids-Aktivist aus Südafrika, weint in Hebron. „Das erste mal seit langer Zeit“, wie er gesteht. „Ich hätte niemals gedacht, dass der Davidstern missbraucht würde, um Menschen aus ihren Häusern zu vertreiben.“ Man möge das nicht falsch verstehen. Er, ein moslemischer Atheist und Verächter des politischen Islam, habe viel Sympathie für Israel. In der Anti-Apartheid-Bewegung „war ich immer gegen Terror“. Genauso „abscheulich“ finde er palästinensische Selbstmordattentate. Überdies helfe der Kampfbegriff Apartheid nicht weiter. Der Nahost-Konflikt sei „viel komplexer“, der Hass hier „viel größer“. Am allerschlimmsten findet Zackie Achmat, wie die Menschlichkeit vor die Hunde gehe. Bei den Palästinensern, „weil sie unterdrückt werden“. Aber auch bei den Israelis, „wenn sie ihre Augen davor verschließen“.


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