Hilfe in Gaza

Heimtückisch, hinterhältig, tödlich

08.08.2025   Lesezeit: 7 min  
#genozid  #israel/palästina  #krieg 

Die israelische Regierung reguliert die Hilfslieferungen in den Gazastreifen, die sich als tödliche Falle für die palästinensische Bevölkerung entpuppen.

Von Chris Whitman

In den vergangenen viereinhalb Monaten hat sich die Lage hinsichtlich der Einfuhr und Verwendung von Hilfsgütern in Gaza dramatisch verschlechtert. Während die israelische Regierung seit Beginn des Krieges ständig versucht, die Einfuhr von Hilfsgütern zu kontrollieren und auf ein Minimum zu beschränken, hat sich die humanitäre Lage seit dem 2. März 2025 deutlich verschärft. An diesem Tag beendete die Regierung von Netanjahu einseitig den Waffenstillstand. In den 42 Tagen zuvor waren täglich über 600 Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gefahren, was etwa 25 Prozent der gesamten Hilfsgüter entspricht, die in den vorangegangenen 18 Monaten geliefert worden waren.

Seit Anfang März wendet die israelische Regierung ein vielschichtiges System zur Kontrolle der Hilfslieferungen an. Zunächst lässt sie nur eine ständig wechselnde Mindestmenge an Hilfsgütern der Vereinten Nationen (UN) zu, die die Lagerhäuser und Verteilungszentren erreichen dürfen. Ebenso lehnt die israelische Armee die von den UN beantragte Straßennutzung ab, verweigert ihnen angemessene Sicherheitsvorkehrungen, wie Polizei oder private Sicherheitskräfte, verbietet ganze Standorte für die Ausgabe von Hilfsgütern, wie den kompletten Norden Gazas, oder verweigert schlichtweg willkürlich Hilfslieferungen. Wenn UN-Hilfe genehmigt wird, was in zehn bis 30 Prozent der Fälle geschieht, erfolgt sie in der Regel auf unsicheren Straßen, was Plünderungen durch hungernde Menschen und durch bewaffnete kriminelle Gruppen ermöglicht. 

Dabei arbeiten kriminelle Gruppen, wie die Abu Shabab-Bande, offen mit der israelischen Armee zusammen und unterhalten seit langem schon Verbindungen zum Islamischen Staat (IS) und zu Drogenkartellen. Allein diese Bande hat viele hundert UN-Hilfsgütertransporte geplündert, die daraufhin von der israelischen Armee als Beute der Hamas ausgegeben wurden. Nachdem sie die Hilfsgüter gestohlen haben, verkaufen die Abu Shabab-Bande und andere solcher Gruppen - einige sind klein und lokal begrenzt, andere sind große Familien, die in einem bestimmten geografischen Gebiet arbeiten - diese Hilfsgüter zu astronomischen Preisen an hungernde Palästinenser:innen. Der Vorteil für die israelische Armee, die diese Banden unterstützt, besteht darin, kriminelle Strukturen zu stärken, um die Hamas zu schwächen, den gesellschaftlichen Zusammenbruch voranzutreiben und die palästinensische Gesellschaft zu spalten, um sie so leichter beherrschen zu können – entweder durch diese Strukturen selbst oder durch eine zukünftige direkte militärische Besetzung.
 

Eine falsche humanitäre Stiftung

Zeitgleich genehmigte das israelische Regierungskabinett die Einreise und die Arbeit der Gaza Humanitarian Foundation (GHF). Die GHF wurde in den Gazastreifen eingeführt, um eine Alternative zum Hilfssystem der UN zu erzwingen. Die Regierung begründet ihre Entscheidung damit, dass die Hamas die gesamte oder den größten Teil der Hilfe stehle und dass die GHF dies bekämpfen werde. Beweise, um diese Anschuldigungen zu belegen, erbrachte sie jedoch keine. Stattdessen weisen sowohl ein Bericht der US-Regierung als auch eine ausführliche Recherche der New York Times, in dem israelische Armeeangehörige zitiert werden, diese Behauptungen zurück. Dennoch agiert die GHF weiterhin und verwaltet aktuell vier Ausgabestellen in Gaza. Das mittlerweile demontierte UN-System verwaltete über 400 Hilfsstandorte im gesamten Gazastreifen.

Die beiden wichtigsten Standorte befinden sich in von der israelischen Armee zu Todeszonen erklärten Gebieten, die unter ihrer vollständigen militärischen Kontrolle stehen. In der Regel kündigt die GHF auf Social Media 15 bis 30 Minuten vorher eine Verteilung an. Tausende Palästinenser:innen eilen daraufhin zu diesen Punkten, werden wie Vieh in Einrichtungen getrieben und warten darauf, dass die israelische Armee in ihre Richtung schießt, was ihnen signalisieren soll, dass sie nun zu der Einrichtung gehen dürfen und versuchen können, eine 40-50kg schwere Pappkiste mit „Versorgungsgütern“ zu erhalten. Die Menschen müssen mit diesen Kartons zum Teil fünf bis zehn Kilometer weit laufen. Dies wiederholt sich Tag für Tag. Nicht von ungefähr assoziieren internationale humanitäre Organisationen und Journalist:innen das Modell der GHF mit der dystopischen Roman- und Filmreihe “Die Tribute von Panem. Die Hungerspiele”.

Die ausgeteilten Kartons beinhalten in der Regel Lebensmittel wie Nudeln, Linsen und Speiseöl, Produkte also, für deren Zubereitung Wasser und Gas benötigt werden. Beides fehlt in Gaza größtenteils. Die GHF behauptet zudem, dass je nach Tagesausgabe die Kartons 50 bis 90 Mahlzeiten enthalten würden und gibt an, über 100 Millionen Mahlzeiten verteilt zu haben. In den vergangenen 70 Tagen seien es also knapp 50 Mahlzeiten pro Person gewesen, weit entfernt von einer ausreichenden Tagesration unter normalen Lebensbedingungen und Abermillionen Mahlzeiten entfernt von der Menge, die die Menschen aktuell tatsächlich brauchen.

Bis heute gibt die GHF an, über 100 Millionen “Mahlzeiten” verteilt zu haben. Selbst wenn wir diese übertriebene und problematische Zahl für bare Münze nehmen, hätten 2,2 Millionen Palästinenser:innen in Gaza seit Beginn der Aktivitäten der GHF mindestens 462.000.000 Millionen Mahlzeiten verbraucht. Somit hat die GHF trotz all ihres „Erfolgs“ bestenfalls weniger als 25 Prozent des absoluten Mindestbedarfs gedeckt.

Im Gegensatz zu den UN und internationalen humanitären Organisationen gibt die GHF keine öffentlichen Informationen über ihr System, ihre Finanzierung oder ihre Methodik der Lebensmittelverteilung bekannt. Zusammengefasst lässt sich folgendes festhalten: die Gaza Humanitarian Foundation ist nicht mehr als ein privater Militärdienstleister, der in einem gesperrten Militärgebiet Kartons an hungernde Palästinenser:innen austeilt, die unter Beschuss stehen.

Todesfalle Hilfe

Als ob all dies nicht schon schlimm genug wäre, sind die Standorte der GHF zu Todesfeldern für Palästinenser:innen geworden, die Hilfe suchen. In nur neun Wochen wurden über 1.200 von ihnen an oder in der Nähe von GHF-Standorten getötet. Wochenlang leugnete das israelische Militär diese Berichte, während die Menschen vor Ort und palästinensische Journalist:innen Dutzende von Videos und Zeugenaussagen veröffentlichten, die dies belegten. Nach Wochen gab die Armee ihren Beschuss zu, behauptete jedoch weiterhin, es habe sich nur um Warnschüsse gehandelt. Eine Woche darauf musste die Armee erneut einlenken und bestätigte, dass viele Menschen in diesen Einrichtungen von Soldat:innen getötet worden waren. Soldat:innen und Offiziere berichteten der israelischen Tageszeitung Haaretz sogar, dass Kommandeure den Truppen befohlen hätten, auf Menschenmengen zu schießen - selbst dann, wenn für sie keine Gefahr bestünde. Sie bezeichneten die GHF-Einrichtungen als “Todesfelder”. Der GHF-Whistleblower Anthony Aguilar, ein dekorierter ehemaliger Soldat der US-Spezialeinheiten, ging in einem Interview mit dem rechten Moderator Tucker Carlson sogar so weit zu sagen, dass private Militärunternehmer, die für die GHF arbeiten, willkürlich in die Menschenmenge schießen und dass Schüsse eingesetzt werden, um die Bewegungen der Hilfesuchenden “zu lenken”. Dabei werden viele Menschen getroffen. Er erklärte auch, dass die israelische Armee offen und regelmäßig Panzer und Artillerie gegen die palästinensischen Hilfesuchenden einsetzt.

Unter dem Druck der Vereinigten Staaten und einer Reihe europäischer Länder begann die israelische Regierung Ende Juli, begrenzte Hilfsabwürfe durch eine Gruppe von Staaten, darunter Jordanien, Kanada und Frankreich, zuzulassen. Dies wird von den UN und Nichtregierungsorganisationen, darunter auch medico international, einstimmig als schlechtmöglichste Variante für Hilfslieferungen kritisiert. Die Kosten für Luftabwürfe sind zwischen 42 und 100 Mal höher als über den Landweg, Flugzeuge können bestenfalls nur die Hälfte dessen transportieren, was ein LKW transportieren kann, und bei den ersten Luftabwürfen im Jahr 2024 kamen Dutzende Menschen ums Leben. Auch jüngst sind wieder Aufnahmen von Luftabwürfen zu sehen, die Sachschäden und Menschenleben provozieren

Es gibt einen Grund, warum Hunger ein Kriegsverbrechen ist und warum das Völkerrecht ausdrücklich die Gewährung von Hilfe für die Zivilbevölkerung garantiert. Entgegen den Behauptungen der israelischen Regierung, die Hilfe kontrollieren zu wollen, um “die Hamas zu schwächen”, tauchen bereits Berichte auf, die auf Gegenteiliges verweisen und dass die Hamas dadurch sogar gestärkt wird

In den letzten Wochen sind Dutzende Palästinenser:innen in Gaza an den Folgen von Unterernährung gestorben. Bilder von ausgemergelten Frauen und Kindern wurden ausführlich dokumentiert und der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht. Dennoch hat die Staatengemeinschaft, darunter auch die deutsche Bundesregierung, nicht angemessen auf die Notlage reagiert. Was die Bevölkerung in Gaza dringlichst braucht, ist eine vollständige Öffnung aller Grenzübergänge, ein Ende der Behinderung der Hilfslieferungen durch die israelische Armee sowie eine Flut von Hilfsgütern nach Gaza. Nur so kann die Nahrungsmittel- und Ernährungskatastrophe in Gaza gelöst werden. Denn die Unterernährung und der Hunger der Palästinenser:innen werden langfristige Folgen haben und eine ganze Generation mit chronischen Gesundheitsproblemen belasten.

Chris Whitman

Chris Whitman ist Koordinator für den Nahen Osten.


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