Beduinen in Israel

Innere Kolonialisierung

Das Siedlungsprojekt macht auch vor einem Beduinendorf auf israelischem Staatsgebiet nicht halt. Die rechte Siedlerbewegung ist längst in der israelischen Politik verankert.

Von Riad Othman

Der Oberste Gerichtshof in Israel ist nicht inerster Linie dafür bekannt, sich in Belange der Besatzung einzumischen und sich gegen den Staat auf die Seite der palästinensischen Okkupiertenzu stellen. Ungewöhnlich war die Entscheidung aber doch, die das Gericht Anfang Mai 2015 gegen die Gemeinde Susya in den südlichen Hebronbergen auf der Westbank traf. Die Frage war, ob der geplante Abriss und die Zwangsräumung aufgeschoben werden, um die Bewohner des palästinensischen Dorfes vorläufig zu schützen.

Doch das Oberste Gericht verweigerte eine Aussetzung der Abrissorder. Ungewöhnlich war diese Entscheidung deshalb, weil erst Anfang August über einen Bebauungsplan für Susya entschieden werden soll, dessen Bewilligung zur Folge hätte, dass einige Abrisse gar nicht durchgeführt werden müssten bzw. könnten. Von dem Gericht wurde eigentlich erwartet, die Besatzungsmacht an diesen Sachverhalt zu erinnern und zumindest bis nach der Entscheidung über den Entwicklungsplan den Vollzug von Abrissen zu verschieben. Stattdessen erhielt die israelische Ziviladministration freie Hand, um gegen die Einwohnerschaft Susyas vorzugehen.

Das kleine Dorf liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zur archäologischen Stätte gleichen Namens. Bevor die Einwohner von dort vertrieben wurden, lebten sie lange zwischen den Ruinen. Heutzutage ist dieses Gelände umzäunt und wird von jüdischen Siedlern kontrolliert. Die nach internationalem Recht illegale israelische Siedlung Susya liegt ebenfalls nicht weit entfernt von dem Dorf, das der Besatzungsapparat jedoch nicht anerkennt, obwohl ein offizielles israelisches Rechtsgutachten von 1982 eindeutig belegt, dass das Land in palästinensischem Privatbesitz war. Ausgerechnet Plia Albeck, die laut den Rabbinern für Menschenrechte auch als "die Mutter der Siedlungen" bekannt ist, weil sie diverse israelische Regierungen rechtlich beim Siedlungsbau beriet, bezeugte schon vor Jahrzehnten die Legitimität der palästinensischen Ansprüche in Susya.

Nicht weit von Susya liegt die Gemeinde Um al-Hiran, wo der medico-Partner Adalah 13 Jahre lang für das Recht der Beduinen gekämpft hat, in ihrem Dorf wohnenbleiben zu dürfen. Adalah heißt auf Arabisch Gerechtigkeit. Praktisch zeitgleich wie im Fall Susya traf der Oberste Gerichtshof in Jerusalem auch eine Entscheidung gegen Umal-Hiran, die mit Gerechtigkeit wenig zu tun hat: Das Dorf darf nun offiziell abgerissen und seine gesamte Bevölkerung zwangsumgesiedelt werden, um der geplanten jüdischen Stadt Hiran Platz zu machen.

Äußere und innere Landnahme

Zwei Fälle, in denen Israel arabische Dörfer in den besetzten Gebieten abreißt? Die Ähnlichkeit scheint so offensichtlich, dass ein entscheidender Unterschied übersehen werden kann: Um al-Hiran liegt nicht im Westjordanland, sondern in der Negev-Wüste, also in Israel. Seine arabischen Bewohner sind zumindest nominell vollwertige israelische Staatsbürger, die Steuern zahlen wie andere Israelis.

Viele Beduinenfamilien ließen über Jahre ihre Söhne in der israelischen Armee dienen - oft in der Hoffnung, durch diesen Loyalitätsbeweis irgendwann doch als gleichwertige Staatsbürger akzeptiert zu werden, nachdem viele von ihnen in den 1950er Jahren durch die damalige israelische Militärregierung von ihrem Land vertrieben und dahin beordert worden waren, wo sie noch heute leben: auf Staatsland, das ihnen zwar zugewiesen, jedoch nie übereignet wurde.

Dieser Umstand bildete über Jahrzehnte die Grundlage dafür, dass ihre Dörfer vom Staat nicht anerkannt wurden. Der Zugang zu Strom und Wasser wurde verwehrt oder erschwert. Staatliche Dienstleistungen wie die Gesundheitsversorgung hinken in ihrer Qualität und Verfügbarkeit dem nationalen Standard bis heute weit hinterher. Die Kindersterblichkeit ist unter den Beduinen die höchste landesweit und liegt deutlich über dem israelischen Durchschnitt. In einem widersinnigen Urteil erkannte der Gerichtshof jetzt zwar an, dass die Menschen in Um al-Hiran keine Landbesetzer seien, weil schließlich die Regierung selbst ihnen das Staatsland zugewiesen habe. Trotzdem sollen die Beduinen zwangsumgesiedelt werden, weil der Staat das Recht habe, das Land jederzeit einer anderen Nutzung zuzuführen. Das soll nun geschehen - fast 60 Jahre nach ihrer Ansiedlung durch den Staat. Aus dem palästinensischen Um al-Hiran in Israel soll eine Stadt für die jüdische Mehrheitsgesellschaft werden: Hiran.

Im Negev vollzieht sich damit ein Prozess der Landnahme - eine Art innere Kolonialisierung -, der nach dem gleichen Muster wie die Vertreibungs- und Ansiedlungspolitik in der Westbank abläuft. Seit Jahren gibt es in unmittelbarerer Nähe zum Beduinendorf einen von Siedlern gegründeten Außenposten. Im Gegensatz zu Um al-Hiran wurde dieser Vorposten sofort mit Strom und Wasser versorgt - und seine Bewohner warten nur darauf, dass der Staat seine widerspenstigen palästinensischen Bürger räumen wird. Ähnlich wie in der Westbank trägt die Existenz der Siedler nun zur Legitimation der Gründung einer israelisch jüdischen Stadt auf den Ruinen eines arabisch israelischen Dorfes bei. So weist der medico-Partner Adalah darauf hin, dass der Oberste Gerichtshof in seinem Urteil die Frage ignoriere, warum eine neue jüdische Stadt ausgerechnet an der Stelle eines bestehenden arabischenDorfes errichtet werden müsse - ein Platzproblem gebe es in der Negev-Wüste nun wahrlich nicht.

Anlässlich der jüngsten Entwicklungenhat die Menschenrechtsorganisation die Kampagne #Save_UmAlHiran gestartet - auch um zu verhindern, dass die Beduinen nun wie geplant in ein deklassiertes Township abgeschoben werden, in dem sie ihre ländliche Lebensweise aufgeben müssten und einer Perspektive für ein besseres Leben völlig beraubt wären.

Erosion demokratischer Werte

Was die immer unverhohlener rassistisch agierende Regierung mit den arabischen Einwohnern von Um al-Hiran macht, das ist über die Jahre symptomatisch geworden für den Umgang mit ihren nicht jüdischen Bürgerinnen und Bürgern - primär mit palästinensischen Israelis. Dabei nimmt Israel nach wie vor für sich in Anspruch, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. In verschiedener Hinsicht stimmt das sogar nach wie vor, aber es tritt auch immer offener zutage, dass demokratische Werte und Rechte eigentlich gar nicht für alle Bürgerinnen und Bürger des Landes gedacht sind, sondern für diejenigen, die der jüdischen Mehrheitsgesellschaft angehören. Handlungen der israelischen Regierung verdeutlichen, dass das, wovor medico-Partner in Israel wie Breaking the Silence, Adalah oder die Ärzte für Menschenrechte seit langem gewarnt haben, immer mehr zur Realität geworden ist: Wenn eine Demokratie seit bald 50 Jahren eine Besatzung aufrecht erhält, an der Hunderttausende israelischer Bürgerinnen und Bürger aktiv beteiligt sind, kann der Geist, der dahintersteht, nicht auf ewig in jüdischen Siedlungen auf der Westbank isoliert bleiben.

Unweigerlich hat sich die Besatzung über die Jahrzehntenicht nur in die palästinensische Alltagsrealität hineingefressen, sondern auch in die israelische Gesellschaft. Längst ist die Siedlerbewegung in der israelischen Politik verankert und sie hat in den letzten Jahren auch in der Regierung an Macht gewonnen.

Dabei haben die Siedler die kolonialistische Ideologie nicht erfunden, sie hat von Anfang an das großisraelische Siedlungsprojekt überhaupt erst ermöglicht. Insofern haben die Siedler sie lediglich an ihren Ausgangspunkt rückimportiert - in die Mitte der israelischen Gesellschaft. Das alles kann an einer Demokratie nicht spurlos vorübergehen. Der Entwurf zum "Gesetz über den jüdischen Nationalstaat" soll den jüdischen Charakter des Staates über seine demokratische Verfasstheit stellen. Die Abschaffung von Arabisch als Amtssprache, immerhin die Muttersprache von mehr als 20 Prozent der israelischen Bevölkerung, wird in dem Zusammenhang ebenfalls diskutiert. Wer sich gegen die Erosion demokratischer Werte und bürgerlicher Rechte stellt, wird als Verräter und Nestbeschmutzer gebrandmarkt, mehr noch: "Unser Haus Israel", die Partei Avigdor Liebermans, hat das Schreckgespenst des Gesetzes zur Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen aus der Mottenkiste hervorgeholt und will es in einer deutlich verschärften Form zur Abstimmung bringen. Damit ließe sich die Arbeit von regierungskritischen Organisationen nicht nur kontrollieren und manipulieren, sondern binnen kürzester Zeit finanziell austrocknen.

Aus der einzigen Demokratie im Nahen Osten droht immer mehr die einstige Demokratie zu werden. Eine führende Politikerin hat bereits laut darüber nachgedacht, wie die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs zu beschneiden wären. Israelische Stimmen, die die gefährliche Politik der eigenen Regierung kritisieren, um das Land vor dem Ruin zu retten, sollen verteufelt und mundtot gemacht werden. Diese Strategie hatte erst jüngst wieder in Deutschland Erfolg, als die Stadt Köln kurzfristig beschloss,sich politischem Druck zu beugen und eine Ausstellung des medico-Partners Breaking the Silence abzusagen.

Solidarität mit Israel, so erläutern Yehuda Shaul von Breaking the Silence und Rina Rosenberg von Adalah, sollte selbst in Deutschland mit seiner besonderen Geschichte und Verantwortung nicht verwechselt werden mit der Unterstützung für die Politik einer israelischen Regierung, die demokratische Grundwerte abbaut und Bürgerrechte immer selektiver in Abhängigkeit der ethno-religiösen Zugehörigkeit respektiert. Echte Solidarität mit Israel sollte die Achtung der Menschenrechte und die Werdung der israelischen Demokratie zum Gegenstand haben.

Die medico-Partner Comet-ME und Palestinian Medical Relief Society sichern in dem Dorf Susya wie in der Vergangenheit die Basisgesundheitsversorgung und die Deckung des Energiebedarfs mit Solarstrom. Die Menschenrechtsorganisation Adalah, die aktuell die Kampagne #Save_UmAlHiran zur Rettung des bedrohten Beduinendorfes gestartet hat, setzt sich seit Langem vor allem juristisch für die Minderheitenrechte der Palästinenser inIsrael ein.

Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 2/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 25. Juni 2015

Jetzt spenden!