Nach dem IS

Hilferuf aus Rojava

Der IS scheint besiegt, der Westen freut sich. Doch mit den Flüchtlingen lässt er die Region abermals alleine.

Von Anita Starosta

Ende März 2019 haben die kurdisch dominierten Kräfte mit Baghouz die letzte IS-Bastion im Osten Syriens eingenommen. Schon in den Wochen zuvor sind Zehntausende Menschen vor den Kämpfen in die Gebiete der nordsyrischkurdischen Selbstverwaltung geflohen. Ziel der meisten war das 300 Kilometer nördlich gelegene al-Hol Camp. Die hohe Zahl der Ankommenden übersteigt die Kapazitäten des Flüchtlingslagers bei weitem, wie Sherwan Bery vom dort tätigen medico-Partner Kurdischer Roter Halbmond berichtet. Hinzu kommt, dass unter den Eintreffenden sowohl Opfer des IS als auch Angehörige des IS sind.

Überlastete Nothilfe

Niemand hatte damit gerechnet, dass sich noch so viele Menschen in der letzten Enklave des IS-Kalifats aufhielten. Inzwischen sind über 70.000 Menschen in dem Camp al-Hol angekommen, das ursprünglich für etwa 10.000 irakische Flüchtlinge vorgesehen war. „Die Strukturen sind schon jetzt völlig überlastet“, erklärt Bery. Und die Ankommenden sind meist in einem schlechten Zustand. In der IS-Zone gab es kaum noch Nahrungsmittel und die lange Flucht durch kalte Winternächte hat die Menschen weiter ausgezehrt. Besonders die Situation der Kinder ist dramatisch, sie sind unterkühlt und unterernährt. Viele hausten mit ihren Müttern zum Teil in Erdlöchern und Baracken. Über achtzig Kinder, meist Babys, sind im Lager oder auf dem Weg bereits gestorben. Im Camp durchlaufen die Flüchtlinge zuerst die Gesundheitsposten vom Kurdischen Roten Halbmond. Dort leisten die Nothelferinnen und -helfer medizinische Erstversorgung, seit Wochen, rund um die Uhr, am Ende ihrer Kräfte. „Schwere Erkrankungen und Verletzungen müssen schnell behandelt werden. Kritische Fälle bringen wir in die nächstgelegenen Krankenhäuser, aber auch dort ist kein Platz mehr“, so Bery. Auch die sanitären Anlagen reichen nicht aus. Die Sorge vor der Ausbreitung von Krankheiten ist groß. Daher sein Appell: „Wir benötigen dringend internationale Hilfe, um eine angemessene medizinische Behandlung im Camp sicherzustellen.“ In einer ersten Nothilfemaßnahme unterstützt medico den Aufbau eines Feldkrankenhauses im Camp. Dann können Verletzte und schwer erkrankte Personen direkt vor Ort behandelt werden, denn der Bedarf ist riesig.

Zu dem allgegenwärtigen Mangel kommt eine besondere Herausforderung hinzu: Viele der Flüchtenden sind Zivilisten, die unter der Herrschaft im selbsterklärten Kalifat gelitten haben. Andere jedoch sind Angehörige der IS-Kämpfer, zumeist Frauen mit ihren Kindern. Sie fliehen also Seite an Seite mit IS-Opfern und suchen ausgerechnet in einer kurdisch geprägten Region Zuflucht, die vom IS jahrelang mit brutalen Selbsmordanschlägen bekämpft worden ist. Laut dem Rat für humanitäre Aufgaben der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien befinden sich über 10.000 Angehörige von Dschihadisten in dem Flüchtlingslager, darunter auch viele nichtsyrische Frauen und Kinder. Das führt unvermeidlich zu Spannungen. „Alle Ankommende sind für uns erst einmal Flüchtlinge und wir versuchen, sie so gut es eben geht medizinisch zu versorgen“, beschreibt Bery die Haltung des Kurdischen Roten Halbmonds.

Was tun mit den IS-Angehörigen?

An den Gesundheitsposten kommt es immer wieder zu verstörenden Momenten – etwa dann, wenn jesidische Frauen oder Kinder eintreffen, die vor fünf Jahren in die Gefangenschaft der IS-Terroristen geraten waren und in Baghouz und Umgebung vier Jahre lang einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. „Ihre Kinder wurden an der Waffe ausgebildet oder zu Selbstmordattentätern erzogen. Die meisten sind völlig verstört“, so Bery, der, selbst Jeside, als Nothelfer im Shengal-Gebirge im Einsatz war, als der IS einen Genozid an den Jesiden begann. „Die Gewalttaten, die den Kindern  angetan wurden, und die ideologische Indoktrinierung zeichnen ihre Körper und ihr Verhalten.“ In der Nähe der Stadt Amude gäbe es ein Haus, in dem sie versorgt und psychologisch betreut werden können. Doch auch hier fehlt es an vielem, vor allem an Fachkräften für eine angemessene und intensive Betreuung. „Selbst unter günstigen Umständen kann eine Rehabilitation Jahre dauern“, meint Bery.

Um im Camp Eskalationen zu vermeiden, werden die IS-Angehörigen in der schwarzen Niqab und ihre Kinder behelfsmäßig in einem gesonderten Bereich untergebracht. Lösen lassen sich die Konflikte so nicht. Und es ist nicht das einzige Lager in Nordsyrien, in denen die Selbstverwaltung mit dieser Situation konfrontiert ist: Seit vier Jahren versorgt sie über 2.000 IS-Angehörige im Roj-Camp im Nordosten des Landes. Seit der Befreiung der Stadt Rakka halten sich weitere 3.000 Frauen und Kinder in dem Flüchtlingslager Ain Issa auf. Zum Teil wird versucht, bei den indoktrinierten Frauen und Kindern über psychologische und pädagogische Angebote eine Entradikalisierung einzuleiten. Nicht immer werden die Angebote auch angenommen. Es bräuchte einen langwierigen psychologischen Prozess unter professioneller Anleitung, der den Schutz, die Versorgung, die Erziehung und Rehabilitierung sicherstellt. Dies können die Strukturen der Selbstverwaltung alleine jedoch nicht leisten, sie benötigen dringend ökonomische und fachliche Unterstützung.

Auch die Situation im al-Hol Camp wird sich nicht schnell entspannen. Denn wo sollten die Angehörigen der Dschihadisten hin? Eine Perspektive auf eine Rückkehr in ein geordnetes Leben zeichnet sich für sie noch weniger ab als für die übrigen Geflüchteten. „Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die ausländischen IS-Frauen wollen zurück in ihre Herkunftsländer. Wir können sie hier auch nicht weiter versorgen“, sagt Bery auch in Richtung Deutschland. Die internationale Debatte um die Rückholung und Verurteilung von IS-Kämpfern wird hier genau verfolgt. Schon seit Monaten bitten die kurdischen Autoritäten die Staatengemeinschaft zumindest um die Rückholung der inhaftierten ausländischen IS-Kämpfer und ihrer Angehörigen. Bislang ohne Erfolg. Allein die indonesische Regierung hat eine bedeutende Anzahl zurückgenommen. Und Europa?

Frankreich hat sich dazu durchgerungen, fünf Waisenkinder aufzunehmen. Deutschland hat, zumindest offiziell, niemanden rückgeholt, könnte das doch – so ist zu vermuten – vom türkischen „Partner“ Erdogan als Anerkennung der kurdischen Selbstverwaltung gedeutet werden. Staatsräson sticht Verantwortung. In diesem Sinne wird hierzulande denn auch offen über die „Ausdeutschung“ von Staatsbürgern im Dienste der Terrormiliz diskutiert. Damit würde die Bundesregierung auch diese Last den Menschen in Rojava auferlegen –   neben dem militärischen Kampf gegen den IS und der Versorgung seiner Opfer eben auch die Herausforderung, was mit den Tätern und ihren Angehörigen geschehen soll. Dabei steht neben persönlichen Schicksalen vieles auf dem Spiel: Gelingt es nicht, Menschen, die jahrelang vom Leben im IS-Kalifat geprägt worden sind, auf einen anderen Weg zu bringen, und die Kinder von der ideologischen Indoktrinierung zu befreien, droht eine nächste Generation heranzuwachsen. Der IS mag sein Territorium, ehemals so groß wie Großbritannien, verloren haben. In Luft aufgelöst hat er sich keineswegs. Gleichzeitig werden Autonomie und der selbstorganisierte Wiederaufbau in Nordsyrien sowohl vom türkischen Nachbarn als auch durch das Assad-Regime akut bedroht. Noch ist nichts gewonnen und nichts ist vorüber.
 

Für die Aufarbeitung der Verbrechen durch den Islamischen Staat fordert medico die Einrichtung eines UN-Sondertribunals. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um zumindest minimale Gerechtigkeit und die Möglichkeit von Versöhnung auf den Weg zu bringen. Ganz akut aber braucht der medico-Partner Kurdischer Roter Halbmond dringend Unterstützung für die medizinische Nothilfe der Geflüchteten. Hierfür sind wir auf Spenden angewiesen, denn sie erhalten auch hier keine Unterstützung durch die Bundesregierung.

Spendenstichwort: Nothilfe Rojava


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 11. April 2019

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