Enttäuscht vom ANC

Gesundheitsbewegung in Südafrika

Obwohl der ANC die Wahlen in Südafrika erneut gewonnen hat, kann von einem Erfolg keine Rede sein. Die Zustimmung zur ehemaligen Freiheitsbewegung schwindet, es brodelt in der Bevölkerung. Die Gesundheitskrise und die Wiederbelebung der Gesundheitsbewegung in Südafrika sind dafür ein eindrückliches Beispiel.

Ging es in den ersten Jahren nach dem Ende der Apartheid vor allem um die Überwindung der rassistischen Spaltungslinien, verläuft der Widerspruch heute vor allem zwischen Reich und Arm, wobei Armut sich weiterhin an der schwarzen Hautfarbe festmacht. Das neoliberale Versprechen, dass mit dem ungehinderten Waren- und Kapitaltransfer auch etwas für die Armen abfallen würde, hat sich in Südafrika als genauso falsch erwiesen wie anderswo. Südafrika ist derzeit das Land mit der zweitgrößten sozialen Ungleichheit weltweit. Noch nie in der jüngeren Geschichte waren die Unterschiede bei Einkommen, sozialen Chancen und Gesundheitsstatus so groß wie heute. Soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) befürchten, dass die ökonomisch begründete Ausgrenzung der Ärmsten als dauerhafter Zustand einkalkuliert ist. Sie nutzten den Wahlkampf im Jubiläumsjahr, um öffentlich gegen die Folgen der „ökonomischen Apartheid“ zu protestieren und auf ungleiche Bildungschancen, menschenunwürdige Wohn- und Lebensbedingungen und die Zweiklassenmedizin im Gesundheitsbereich aufmerksam zu machen.

Das Recht auf Gesundheit und die Rechte von Gesundheitsarbeiter_innen

Symbolhaft für die Zweiklassenmedizin in Südafrika stehen die Community Health Worker (CHW), Gemeinde-Gesundheitshelfer_innen, die mit minimaler oder ganz ohne eine Ausbildung in der Basisgesundheitsversorgung tätig sind – überwiegend in der häuslichen Betreuung von Schwerkranken und der Präventionsarbeit. Die Beschäftigung von CHW stieg in den letzten 10 Jahren in allen Ländern des Südens stark an, ausgelöst durch den gigantischen Personalbedarf im Zuge der HIV/Aids-Krise aber auch der Abwanderung qualifizierter Kräften im öffentlichen Gesundheitsbereich. In Südafrika betreuen Zehntausende mehrheitlich weibliche Community Health Worker (CCW) Kranke in der häuslichen Pflege. Sie sind als Nachbarinnen der Kranken oft die erste Anlaufstelle für Gewaltopfer in den Gemeinden, sie versorgen die Aids-Kranken und klären über Krankheitsursachen auf.

„Die meisten Patienten, zu denen wir gehen, sind sehr arm. Wie soll ich einen Mann, der seit zwei Tagen nichts gegessen hat, dazu bringen, eine Pille zu schlucken?“ fragt eine der Gesundheitsarbeiterinnen während eines Workshops im Township Soweto im Südwesten von Johannesburg. Sie und ihre Kolleginnen sind wütend über die unzumutbaren Arbeitsbedingungen. Häufig haben sie noch nicht einmal die für ihren Schutz nötigen Gummihandschuhe, wenn sie Kranke mit einem hohen Ansteckungsrisiko versorgen. Entsprechend gibt es immer wieder Berichte, dass Community Care Worker durch ihre Arbeit selbst erkranken. Zudem kommt es des Öfteren vor, dass sie während ihres Dienstes tätlich angegriffen werden, weil sie der Kriminalität und Gewalt in den Elendsvierteln schutzlos ausgeliefert sind. Die Überforderung, die Gewalterfahrung und die allgemeine Belastung der Helfenden können in der Folge dazu führen, dass sie selbst Patient_innen grob behandeln oder vernachlässigen.

Nichtregierungsorganisationen wie das Khanya College unterstützen die Community Health Worker dabei, sich zu organisieren, ihre isolierte Arbeitssituation zu durchbrechen und für eine angemessene Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Dieser Kampf findet in einem besonderen gesellschaftlichen Spannungsverhältnis statt, denn ursprünglich war die progressive, solidarische Idee von CHW Teil eines Konzepts der Basisgesundheitsversorgung. Als Reaktion auf Repression des Apartheidregimes und eine Politik der räumlichen Segregation wurden die CHW in den 1980er Jahren zu zentralen Akteur_innen im Kampf für soziale Gerechtigkeit.

Als Ausdruck internationaler Solidarität wurde die Arbeit der CHW von NGOs aus aller Welt unterstützt, auch medico international förderte schon in den 1980er Jahren Projekte, denen ein politisches Verständnis von Gesundheit zugrunde lag, das die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheiten wahrnahm. „Die Community-Gesundheitsarbeiter_innen waren ein zentraler Bestandteil des Antiapartheidkampfes und hatten großen sozialen Einfluss“ (Helen Schneider, University of Cape Town).

Die Krise des Versprechens

Mit dem Ende der Apartheid wurde das partizipative Konzept der CHW, das in seinem breiten Gesundheitsverständnis auch die Verbesserung sozio-ökonomischer Bedingungen vorsah, weitgehend aufgegeben. Nun geht es darum, das in der Verfassung garantierte Recht auf Gesundheit durch professionelles Personal zu realisieren. Dieses ambitionierte Versprechen des demokratischen Aufbruchs wurde nicht eingelöst. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: In der frühen Phase nach dem demokratischen Wandel stellte die HIV/AIDS-Krise die Gesundheitspolitik Südafrikas vor nie gekannte Herausforderungen, denen die Regierung des damaligen Präsidenten Thabo Mbeki mit völliger Ignoranz begegnete. Gleichzeitig wurde der Gesundheitsbereich in den Jahren von Mbekis Präsidentschaft zwischen 1999 bis 2008 immer mehr privatisiert und hemmungslos ökonomisiert. Massenhaft konnten Stellen im öffentlichen Gesundheitsbereich aus Geldmangel und damit verbunden auch aus Personalmangel nicht besetzt werden und wurden damit faktisch abgeschafft. Außerdem versickerte ein beträchtlicher Teil des Geldes in den zunehmend korrupter werdenden nationalen und lokalen Strukturen des ANC, die eng mit dem Staatsapparat verbunden sind. Dem ANC wird langsam klar, dass er sich als staatsgewordene ehemalige Befreiungsbewegung nicht mehr automatisch auf die Unterstützung der Massen verlassen kann und reagiert darauf reflexhaft mit Repression und Gewalt. Die ANC-Regierung hat damit begonnen, regierungskritische Sendungen nicht auszustrahlen und die Arbeit von kritischen NGOs zu erschweren.

Anerkennung jetzt!

Die Community Health Worker sind das lebende Symbol für das gebrochene Versprechen der Regierung, das Recht auf Gesundheit zu realisieren. Auch deshalb wurden ihre Situation und ihre Anliegen lange von der Regierung ignoriert. Doch die Gesundheitsaktivistinnen beginnen sich langsam trotz großer Schwierigkeiten zu organisieren. 2012 legten schließlich Hunderte Gesundheitsarbeiterinnen in mehreren Provinzen des Landes ihre Arbeit nieder. Ihr monatelanger Streik für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Aufwandsentschädigungen hatte schließlich Erfolg, allerdings nur für eine kleine Gruppe von ihnen. Jetzt geht es darum, auch auf der nationalen Ebene Veränderungen durchzusetzen. Die Voraussetzungen waren durch die Ernennung von Aaron Motsoaledi zum Gesundheitsminister besser geworden, der ein nationales Krankenversicherungssystem und weitere Gesundheitsreformen einzuführen plant, in deren Rahmen die wichtige Rolle der Community Health Worker endlich anerkannt wird. Ein Vorschlag ist, etwa 40.000 CHW in den nächsten Jahren einzustellen, sie sollen in einem Team mit geschultem Personal arbeiten und an die Kliniken angebunden werden. Gesundheitsaktivist_innen befürchten hingegen, dass es letztlich darum geht, weiter massenhaft Menschen im Niedriglohnsektor zu beschäftigen. Soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen wie Khanya Collage, das People‘s Health Movement und Section 27 fordern qualifizierte Stellen zu schaffen, der veränderten Bedeutung von CHW durch eine angemessene Bezahlung und Fortbildungen Rechnung zu tragen und zugleich das nachbarschaftliche solidarische System der Basisgesundheitsversorgung zu reaktivieren.

Weltrekord in Ungleichheit

In der Gesundheitsversorgung beweist sich die krankmachende Wirkung neoliberaler Umverteilung, die auf Kosten der armen Massen eine überschaubare schwarze Elite hervortreten lässt, inklusive einer weiter fest im Sattel sitzenden weißen Wirtschaftselite. Die Firma Netcare ist Marktführer und beschäftigt in ihren Kliniken gut ausgebildetes Personal, das im öffentlichen Sektor fehlt. Neben lukrativen europäischen Kundinnen, die meist für schönheitschirurgische Eingriffe nach Südafrika kommen, bildet die Oberschicht Südafrikas und die der Nachbarländer die größte Zielgruppe der neuen Gesundheitsökonomie. Neben lukrativen Fett-weg-Safaris werden auch lebensnotwendige Behandlungen angeboten, die in anderen afrikanischen Ländern nicht durchgeführt werden können. 50 % der Ärztinnen in Südafrika arbeiten heute in Privatkliniken (Schäfer in iZ3w 03/04/2014). Zudem verliert Südafrika durch Abwanderung ins Ausland jährlich 17 % der Ärzt_innen. Kompensiert wird dies teilweise durch die Migration von Gesundheitspersonal aus den afrikanischen Nachbarländern, die den dortigen Gesundheitssystemen fehlen.

Während die Gewinne von NETCARE und anderen privaten Gesundheitsanbietern seit Jahren steigen, Privatversicherte durch steuerliche Absetzbarkeit ihrer Ausgaben den Staat viel Geld kosten und

die ANC-Regierung bislang keine spürbaren Anstrengungen unternimmt, die Abwanderung in den privaten Sektor zu begrenzen, droht in einigen Provinzen der völlige Kollaps des öffentlichen Gesundheitssystems. „Den Krankenwagen rufen? Dieser Gedanke würde mir gar nicht in den Sinn kommen. Ich arbeite seit sieben Jahren hier in der Pilani Klinik im Eastern Cape und ich habe hier noch nie einen Krankenwagen gesehen“ berichtet die Krankenschwester Sylvia Horner. In dem Krankenhaus fehlt es buchstäblich an allem: Es gibt kaum Medikamente, dringend benötigtes Wasser tropft nur sporadisch aus den Leitungen und schwer Kranke können nur in ein besseres Krankenhaus verlegt werden, wenn sie ihren Transport selbst organisieren. „Wir schauen den Leuten beim Sterben zu, weil wir einfach keine Medikamente haben“. Horners Bericht wurde zusammen mit vielen anderen in der Studie „Tod und Sterben in der Provinz Eastern Cape“ veröffentlicht, verfasst von einem breiten zivilgesellschaftlichen Netzwerk, darunter die medico-Partner der Treatment Action Campaign, Section 27 und das People’s Health Movement. Die Reaktion der Provinzregierung? „Es gibt keine Gesundheitskrise! Das war die bisher einzige Reaktion auf die öffentlichen Proteste gegen die unterlassene Hilfeleistung“, erzählt der Aktivist Tenashe Njanji vom People’s Health Movement im Interview mit medico. Auch Mark Heywood von Section 27 ist empört: „Die Gesundheitsmisere ist kein Vermächtnis der Apartheid, sondern Ausdruck des Politikversagens. Es ist eine Krise des Versprechens, das uns mit dem in der Verfassung verbrieften Recht auf Gesundheit 1994 gegeben wurde.

Gesundheitsminister Motsoaledi, der selbst aus der Gesundheitsbewegung kommt und sich um einen gerechteren Zugang zu Gesundheit bemüht, versprach schnelle Hilfe für das Eastern Cape. Ob er sich jedoch innerhalb des ANC durchsetzen wird, bleibt fraglich. Die Zivilgesellschaft hat jedenfalls allen Grund, die nächsten Schritte der Regierung kritisch zu begleiten und weiterhin eigene Vorschläge für einen gerechten Zugang zu Gesundheit zu machen. Das Ringen um die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit zeugen von der lebendigen Widerstandskultur die es weiterhin in Südafrika gibt. Die erwähnten Aktivist_innen haben im März einen alternativen Haushaltsplan vorgestellt, der eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums u.a. durch eine höhere Besteuerung von Bergbauunternehmen fordert, um die benachteiligten ländlichen Regionen des Landes zu fördern und den Kollaps des Gesundheitssystems in weiteren Provinzen abzuwenden.

In Südafrika äußert sich eine Gesundheitsbewegung, die auch für Europa Vorbildcharakter hat, denn ein Blick nach Griechenland genügt, um zu begreifen, dass der globale Süden längst in Europa angekommen ist. Natürlich kann keine gesundheitsbezogene Maßnahme allein die Politik des gesellschaftlichen Ausschlusses überwinden. Immer mehr Aktivist_innen fordern in Südafrika ein Eigentumsmodell jenseits von Privateigentum als Grundlage dafür, dass die die Menschen sich erobern können, was sie brauchen: Schlichtweg bessere und menschenwürdige Lebensverhältnisse in der Demokratie.

Anne Jung

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Dr. med. Mabuse.

Spendenstichwort Südafrika:

medico unterstützt seit den 1980er Jahren Projekte in Südafrika, vor allem im Bereich der psychosozialen Arbeit und der Gesundheit. Denn auch am Kap der Guten Hoffnung hängen vergangene Gewalterfahrungen und heutige armutsbedingte Ausgrenzung zusammen. Das wirtschaftlich aufstrebende Südafrika ist aber auch ein Laboratorium künftiger Kämpfe für ein Recht aller auf freien Zugang zu Gesundheit. Die medico-Projektpartner People’s Health Movement South Africa und die Organisation Section 27 kooperieren im Rahmen der Eastern Cape Gesundheits-Kampagne.

Veröffentlicht am 08. Mai 2014

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