Zentralamerika

Gehen, um zu überleben

Zentralamerika: Die wachsende Gewalt treibt auch immer mehr Kinder und Jugendliche zur Migration in die USA.

Rubén Figueroa steht an der Sozialstation der Behörde für Kinder, Jugend und Familie in San Pedro Sula in Honduras und beobachtet, wie neuerlich eine Buskolonne mit Menschen eintrifft, die aus Mexiko abgeschoben wurden. Sieben Busse sind es heute mit 155 Minderjährigen und 99 Müttern. „Seit Beginn des Jahres sind bereits mehr als 5.000 Menschen allein hier in San Pedro Sula von den Behörden in Empfang genommen worden“, erklärt der Aktivist des medico-Partners Movimiento Migrante Mesoamericano (M3), das sind schon jetzt deutlich mehr als im gesamten Vorjahr. „Einige sagen, dass sie sich baldmöglichst wieder auf den Weg machen werden. Denn hier ist ihr Leben in Gefahr. Sie werden von den Pandillas, den Jugendbanden in Honduras, bedroht.“ Und in den Städten und Dörfern, aus denen sie einst aufgebrochen sind, ist die Lage nicht besser.

Waren es bislang vor allem Armut und Perspektivlosigkeit, die die Menschen in Zentralamerika dazu bewegten, ihre Heimat zu verlassen, hat sich die Situation verändert: Nicht mehr nur der Traum von einem anderen Leben, sondern die Angst ums nackte Überleben zwingt die Menschen in Honduras, El Salvador oder Guatemala, den gefährlichen Weg Richtung Norden zu wagen. „Das zentrale Problem ist, dass in ihrer Heimat ihre Grundrechte nicht gewährleistet sind“, sagt Fray Tomás, medico-Partner von der Migrantenherberge La 72 an der mexikanisch-guatemaltekischen Grenze. Fray Tomás erzählt von einer Karikatur, auf der drei Kindern erklären, warum sie in die USA migrieren wollen. Ihre Antworten: „Ich bin auf der Suche nach meinem Vater.“ – „Ich fliehe vor meinem Vater.“ – „Was ist ein Vater?“

Forderung nach würdigem Transit

Die wachsende Gewalt in Zentralamerika führt dazu, dass sich verstärkt Jugendliche auf den Weg Richtung Norden machen. So waren unter den über 6.000 Menschen, die in der Herberge La 72 von Januar bis Mai 2014 aufgenommen und betreut wurden, etwa 1.000 Frauen mit Kindern und rund 800 unbegleitete Jugendliche. Schätzungen gehen von über 60.000 Minderjährigen aus Zentralamerika aus, mit denen die USA 2014 rechnen müssen. Angesichts dieses neuen Phänomens und der fast täglichen Berichterstattung über dramatische Einzelschicksale hat das Weiße Haus die Lage an der südlichen Grenze der USA jüngst als humanitäre Krise bezeichnet. Präsident Obama forderte daher die zentralamerikanischen Regierungen auf, ihre Bürgerinnen davon abzubringen, sich illegal in die USA zu begeben, woraufhin diese hastig Aktionsprogramme lancierten. So hat die Regierung El Salvadors eine Aufklärungskampagne angekündigt, mit der vor allem Minderjährige und ihre Eltern für die Risiken der Migration sensibilisiert werden sollen.

Marta Sánchez von M3 kritisiert diesen Diskurs, der den Eltern unterstellt, unverantwortlich zu handeln. „Bei den unbegleiteten Minderjährigen handelt es sich in der Regel nicht um Kleinkinder, sondern um Jugendliche im Alter ab 14 Jahren, die aufgrund der Lebensumstände in ihren Heimatländern oft schon viel Verantwortung übernehmen müssen“, sagt Marta. „Diese Menschen sind Opfer extremer Gewalt und nur deshalb auf der Flucht.“ So erzählt sie von einer Mutter, deren beide älteste Kinder in Honduras ermordet worden und die sich deshalb mit ihren drei jüngeren Kindern nach Norden durchzuschlagen versucht. Sie habe gesagt: „Soll ich denn in Honduras bleiben und darauf warten, bis alle meine Kinder ermordet werden?“ Insofern finde die eigentliche humanitäre Krise nicht in den Auffanglagern im Süden der USA statt, sondern in den zentralamerikanischen Herkunftsländern. „Würde die Situation dort als solche anerkannt, könnten die internationalen Übereinkommen zum Schutz von Flüchtlingen in Kraft treten.“ Fray Tomás ergänzt: „Der Präsident und die Verantwortlichen im Lande sollten sich zu humanitären Helfern erklären, die die Flüchtenden erst einmal aufnehmen, wie sie es früher mit den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Guatemala oder mit jenen getan haben, die vor Nazi-Deutschland fliehen mussten.“ Und wenn schon kein „freier Transit“ durchsetzbar erscheint, müsste es zumindest darum gehen, einen „würdigen Transit“ zu ermöglichen. „Doch was tut die mexikanische Regierung? Sie verstärkt Verbote, Kontrolle und Abwehr.“

Aufrüstung entlang der Routen

Tatsächlich haben die Regierungen von Mexiko, Guatemala und den USA im Rahmen des neuen Abkommens „Programa Integral Frontera Sur“ ein koordiniertes sicherheitspolitisches Vorgehen vereinbart. Um Migrationsbewegungen frühzeitig zu unterbinden, stehen Hundert Millionen Dollar bereit. Mit diesem Ziel, den Transit durch Mexiko zu erschweren, wurden entlang der Bahnstrecke massive Kontingente von Armee und Bundespolizei zusammengezogen. Streckenabschnitte, an denen die Züge ihre Geschwindigkeit drosseln und Migranten aufspringen konnten, sind umzäunt oder umstellt worden. Gleichzeitig werden die Gleisanlagen so ausgebaut, dass der Zug mit konstant hoher Geschwindigkeit fahren kann. Die zynische Begründung: All dies geschehe zum Schutz der Menschen und zur Verhinderung von Unfällen. Ein Aktivist aus Veracruz bestätigt, dass auf den meisten Zügen nicht mehr wie noch vor kurzem mehrere Hundert Personen gen Norden reisen, sondern nur noch wenige Dutzend. „Die große Zahl bot aber auch einen gewissen Schutz. Heute müssen sie sich in kleinen Gruppen durchschlagen und sind Kriminellen noch stärker ausgeliefert.“ Das sieht Rubén Figueroa von M3 genauso: „Indem man den Menschen die Züge nimmt, müssen sie auf andere, noch gefährlichere Routen ausweichen und sind stärker auf Schlepper angewiesen. Diese haben umgehend ihre Preise erhöht, weil nun auch die Sicherheitskräfte von Frontera Sur bestochen werden müssen.“ „Auf zynische Weise erledigt Mexikos Präsident Peña Nieto die schmutzige Arbeit für Barack Obama“, so Fray Tomás.

medico-Partner und anderer Menschenrechtsgruppen protestieren vehement gegen diese neuen Entwicklungen. Sie begleiten Migranten auf den Güterzügen, informieren sie über aktuelle Gefahren und versuchen die Öffentlichkeit in Mexiko und international aufzurütteln. Und immer wieder machen sie darauf aufmerksam, dass weder Sensibilisierungskampagnen noch repressive Abschottung etwas an den Ursachen ändert, die die Menschen aus Zentralamerika fliehen lässt. Gefordert wären tiefgreifende Veränderungen der sozio-ökonomischen Bedingungen und ein Ende der Gewalt in Zentralamerika. Das ist jedoch kaum möglich, ohne die Strukturen anzugehen, die in den USA, Mexiko und den zentralamerikanischen Ländern von Drogenhandel, gnadenloser Ausbeutung der Rohstoffe, Landnahmen und einem Heer an billigster Arbeitskraft profitieren.

Im August besuchte die honduranische Präsidentengattin, Ana García de Hernández, die Migranten-Herberge La 72 in Mexiko und sprach davon, dass an einer Verbesserung der Situation gearbeitet würde und dass dies Zeit bräuchte. „Schöne Worte“, kommentierte Marta Sánchez von M3, „die Leute sterben aber Tag für Tag. Sie werden nicht aufhören, ihr Land zu verlassen, das ihnen nur Chancenlosigkeit, Unsicherheit und immer mehr Gewalt bietet.“ Ein Zuhörer hatte sich direkt an die First Lady gewandt: „Keiner von uns würde aus Honduras weggehen, wenn er dort ein gesichertes Einkommen erwirtschaften und in Sicherheit leben könnte. Keiner würde freiwillig seine Kinder zurücklassen, um sein Glück in den USA zu suchen.“

Spendenstichwort Migration

Der langjährige medico-Partner M3 fordert von der mexikanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft, die Migrantinnen und Migranten aus Zentralamerika als Flüchtlinge anzuerkennen und ihnen Schutz zu gewähren. Aktuell bereitet die Bewegung die zehnte Karawane der Angehörigen von in Mexiko verschwundenen Migrantinnen und Migranten vor. Dank der Förderung durch medico waren die Karawanen in den vergangenen drei Jahren sehr viel wirksamer und haben maßgeblich dazu beigetragen, Öffentlichkeit und Medien zu sensibilisieren und den Schicksalen ein Gesicht zu geben.

Veröffentlicht am 01. September 2014

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