Syrien

Fluchthilfe aus der belagerten Stadt

Eine exemplarische Geschichte ohne Namen und Ort: Er bekommt direkte Morddrohungen. Jetzt muss er weg. Wie medico versucht dabei zu helfen.

Er ist noch jung, gerade mal Mitte 20 und war in seinem früheren Leben Student. Er hat einen Namen, den wir nicht sagen werden und er ist an einem Ort, den wir nicht nennen können. Es ist eine kleine Stadt in Syrien, in der jetzt auf einmal wieder die syrischen Sicherheitsdienste aufgetaucht sind. Der oppositionelle Ort war lange abgeriegelt. Wie auch in anderen Regionen des Landes, versuchte das syrische Regime die dissidente Bevölkerung regelrecht auszuhungern. Nur wenige Waren kamen noch in die Stadt, Lebensmittel wurden extrem verknappt, die Preise stiegen ins Absurde, der Schwarzmarkt blühte und die Bevölkerung hungerte. Trotzdem ging er nicht weg. Er war wegen seiner politischen Aktivitäten bereits zweimal im Gefängnis, kämpfte aber nie mit der Waffe, sondern nur mit seinen Überzeugungen. Er begreift sich als Bürgerjournalist, er drehte kleine Filme aus seiner belagerten Stadt und versuchte die internationale Öffentlichkeit aufzurütteln. Dafür ging er durch die Straßen, interviewte die Hungernden. Er war mutig, denn er entschied sich auch vor der Kamera zu sprechen und er nannte seinen richtigen Namen. Jetzt bekommt er Anrufe. Seit einer Woche wird er vom syrischen Geheimdienst und anderen regimeloyalen Milizen angerufen. Die Anrufe kommen täglich. Er bekommt direkte Morddrohungen. Jetzt muss er weg.

Denn die Stadt, in der er ausharrt, ist durchlässiger geworden. Früher gab es die Viertel der Opposition und den Belagerungsring der Armee. Jetzt, wo die oppositionellen Milizen mehrheitlich abgezogen sind, die Belagerung aber weitergeht, kommen Leute in die Stadt, die vorher nicht da waren. Manche sagen, sie wollen helfen, andere helfen wirklich, aber werden vom syrischen Geheimdienst erpresst zugleich Informationen zu sammeln. Wer hat mit den Rebellen zusammen gearbeitet, wer hat Demonstrationen oder das tägliche Leben organisiert? Fast noch gefährlicher als die bewaffneten Kämpfer sind für das Regime all jene, die als zivile AktivistInnen das Geschehen beobachteten, die über die Menschenrechtsverletzungen berichteten. Sie sind lebende Zeitzeugen der erlittenen Gewalt. Deswegen sollen sie Schweigen.

Wir wissen von ihm über unsere KollegInnen von Adopt A Revolution. Gemeinsam haben wir mit einer lokalen AktivistInnengruppe ein Projekt gemacht. Er war einer von ihnen. Jetzt fürchtet das Komitee um sein Leben. Und sie haben darum gebeten ihn aus der Stadt zu holen. Aber dafür braucht es viel Geld. Denn je enger und dichter eine Stadt oder Region von der Armee belagert wird, desto höher sind die Preise für die Fluchthilfe. In diesem Fall fand sich tatsächlich nur ein Schmuggler in seiner Stadt, der bereit ist ihn hinauszubringen. Aber erst muss der fünfstellige Betrag in die Stadt hineinkommen. Eine Erfolgsgarantie dafür gibt es nicht. Das Geld wird über ein Nachbarland per Hand hineingebracht. Auch das ist ein Wagnis. Trotzdem haben wir uns zusammen mit Adopt entschieden, zu versuchen ihn zu retten. Denn sein Fall macht auch etwas klar. Wenn in Europa von der großen Flucht aus Syrien gesprochen wird, werden meist die vergessen, die eigentlich nicht gehen wollen, weil sie den Menschen vor Ort helfen und ihre Hoffnung auf ein besseres Land nicht aufgeben wollen. Wenn in Europa von der Gefahr durch den „Islamischen Staat“ und radikalislamische Milizen gesprochen wird, werden oft jene vergessen, die vor allem von Assad und seinen Sicherheitsdiensten gejagt werden. Er ist einer von jenen, die gerade deshalb, weil die Kämpfe in seiner Stadt abgeflaut sind, um sein Leben fürchten muss. Denn der syrische Geheimdienst vergisst niemanden. Und wir verstehen, dass so eine „Waffenruhe“ auch einen Krieg mit anderen Mitteln nach sich ziehen kann. Das gilt für die Stadt, in der er ist. Das gilt auch für den Großraum Aleppo. Wer dort jetzt die russischen Bombenangriffe überlebt und von der syrischen Armee „befreit“ wird, ist damit noch längst nicht in Sicherheit. Hoffen wir, dass wir demnächst seinen Namen nennen und die erfolgreiche Geschichte einer Flucht aus Syrien erzählen können.

 

 

PS: Gestern veröffentlichte das Syrian Centre for Policy Research (SCPR) einen neuen Report des Schreckens. Die vorgelegten Zahlen sprengen alle bisherigen Kategorien. Tatsächlich seien bislang 470.000 Menschen in diesem Krieg ums Leben gekommen. 400.000 kamen gewaltsam ums Leben, die anderen 70.000 starben infolge des kriegsbedingten Zusammenbruchs der Gesundheitsdienste, besonders chronisch Kranke. Dazu Mangelernährung, fehlendes Frischwasser und schlechte Unterkünfte. Mehr als jeder zehnte SyrerIn im Land, 11,5 Prozent der Bevölkerung, sei demnach in dem Krieg verletzt worden oder kam um - insgesamt 2,4 Millionen Menschen. Die Lebenserwartung ist von 70 Jahren im Jahr 2010, dem letzten Jahr vor dem Aufstand, auf 55 Jahre 2015 gesunken. 45 Prozent aller SyrerInnen sind aktuell auf der Flucht, ob nun im Inland, in den Anrainerländern, oder in und auf dem Weg nach Europa.

 

Martin Glasenapp

Veröffentlicht am 11. Februar 2016

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