Türkei

Eine Wahl über alle Grenzen

Es ist ein Wahlkampf unter besonderen Bedingungen und er geht gewissermaßen über alle Grenzen. Mark Mühlhaus fotografierte den Ausnahmezustand.

Es ist ein Wahlkampf unter besonderen Bedingungen und er geht gewissermaßen über alle Grenzen. Da ist die anhaltende Gewalt in der Türkei, die auch nach dem schrecklichen Anschlag von Ankara vom 10. Oktober mit 102 Toten und über 500 Verletzten nicht aufhört. In den kurdischen Gebieten des Landes sterben weiter täglich Menschen, gibt es Ausgangssperren und regelrechte Belagerungen von Dörfern und Stadtteilen. Die oppositionelle  Halkların Demokratik Partisi (HDP-Partei) hat alle großen Wahlkundgebungen abgesagt; zu hoch ist die allgegenwärtige Gefahr, dass wieder ein Attentat geschieht, dass wieder Menschen zu Tode kommen, weil sie aus der Sicht der herrschenden AKP der falschen Partei zuhören wollen. Denn auch wenn es jetzt wohl erstmals Fahndungserfolge der türkischen Polizei gegen Zellen des „Islamischen Staates“ gibt, sind doch immer noch einige „lebende Bomben“, wie die Selbstmordattentäter in türkischen Zeitungen genannt werden, auf freiem Fuss.

Es bleibt also beim Straßenwahlkampf von Haus zu Haus, wie etwa von der HDP-Kandidatin Feleknas Uca, die bereits bei den letzten Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 für die HDP den Wahlkreis Diyarbakır gewann. Feleknas Uca ist in Celle geboren, sie war bereits im Europaparlament - und sie ist eine jesidische Kurdin. Auch wenn sie in der Millionenstadt Diyarbakır (Amet) antritt, in der es faktisch keine von dort stammende jesidische Bevölkerung mehr gibt, hat sie hier bereits ein Mandat gewonnen und wird mit größter Wahrscheinlichkeit auch wiedergewählt. Auch das ein deutlicher Hinweis auf den bewusst pluralen Demokratie- und Freiheitsbegriff der HDP, in der die Herkunft und religiöse Ausrichtung kaum eine Rolle spielen.

In der Türkei sind am 1. November etwa 53 Millionen Bürgerinnen und Bürger stimmberechtigt. Und es verspricht, trotz oder vielleicht sogar auch gerade wegen der exzessiven Gewalt der letzten Wochen - die fortwährende Bombardierung der PKK im Nordirak, der wieder aufgeflammte Krieg in den Städten, das Attentat von Ankara  - eine Entscheidungswahl zu geben. Die gesellschaftliche Polarisierung in der Türkei hat auch unter den außerhalb des Landes lebenden etwa 2,9 Millionen türkischen Stimmberechtigten, von denen knapp die Hälfte in Deutschland wohnen, zu hoher Wahlbeteiligung geführt.  Die sogenannten „Auslandstürken“ haben traditionell bereits jetzt ihre Stimme abgegeben. Und die Beteiligung ist mit 1.267.000 Stimmen und damit 44% für den 1. November deutlich höher als am 7. Juni. Damals gaben nur 1.041.479 Millionen und damit 36% ihre Stimme ab.

Wenn sich die Prognosen und Umfragen bewahrheiten, wird die AKP am 1. November das Ziel einer Alleinherrschaft wieder nicht erreichen. Eher droht sie erneut Stimmen zu verlieren und auch ihr Ziel, die kurdische HDP quasi unter die 10%-Hürde bomben zu lassen, wird scheitern. So fällt die AKP aktuell auf 38,6% und ist damit jenseits der absoluten Mehrheit. Die HDP steigt dagegen auf 14,5%. Die sozialdemokratisch-kemalistische CHP liegt bei 28,5% und die rechtsnationalistische MHP bei 15,4. Hinzukommen dann noch 3,1% für andere Parteien. Aber auch auf dieses Szenario scheint sich die AKP in ihrer unnachahmlichen Chuzpe einzustellen. So deuteten führende AKP-Politiker bereits an, dass man sich durchaus vorstellen könne ein drittes Mal wählen zu lassen, damit vielleicht dann das gewünschte Ergebnis erzielt wird. Oder eine Art „Notstandsdemokratie“ ist vorstellbar, sozusagen die formale „Lukaschenkorisierung“ der türkischen Republik unter einem Präsidenten Erdogan mit offenen Sondervollmachten.

Bis zum Wahlgang am Sonntag wird auch der Krieg nochmals eingesetzt und an einer neuen Front intensiviert: So bombardierte gestern die türkische Armee Stellungen der kurdischen YPG in Syrien, da diese begonnen hatte westlich von Kobane auf die vom „Islamischen Staat“ besetzte syrische Grenzstadt Jarabulus vorzurücken. Die YPG wird dabei von der US-amerikanischen Luftwaffe unterstützt. Die Türkei greift damit also syrische Partner des NATO-Partners USA an, um deren Kampf gegen den terroristischen IS zu unterbinden – auch eine Form von Bündnispolitik.

Darunter leiden nicht zuletzt auch die Aufbaubemühungen in Kobane selbst, wo medico eine Gesundheitsstation unterstützt. Die Grenze zwischen Kobane und der Türkei ist aktuell dichter denn je, kaum Hilfe kann passieren, geschweige denn ausländische Journalisten. Ohne eine offene Grenze und damit die Möglichkeit eines schnellen Wiederaufbaus der zerstörten Stadt wird auch die Fluchtbewegung aus dem kurdischen Rojava nicht abnehmen. Die Türkei, die von der Europäischen Union und Deutschland hofiert wird, um die anhaltende Flucht aus dem syrischen Bürgerkriegsgeschehen zu unterbinden, schafft so ihrerseits aus politischem Kalkül jene Fluchtgründe, die sie im Auftrag der EU eigentlich eindämmen sollte. Weil die regierende AKP wieder die Alleinherrschaft will und auch deshalb keine kurdische Autonomie in Syrien ertragen kann, versucht sie alles, um dieses demokratische Experiment in Syrien zu schwächen oder eben sukzessive zu entvölkern.

Auch deshalb wird am 1. November in der Türkei nicht nur über die Zukunft der eigenen Demokratie entschieden, sondern auch über die Vorraussetzungen eines besseren Lebens in Rojava in Syrien. Interessiert das die Europäische Union? Allenfalls bedingt, denn der EU-Kommissionspräsident Juncker drängte heute vor dem EU-Parlament, die Türkei müsse sofort drei Milliarden Euro erhalten, um die Flüchtlinge im Land zu halten. Und weiter: Es sei jetzt nicht die Zeit, die türkische Regierung auf Verstöße gegen Menschenrechte hinzuweisen. Das mag der AKP helfen, aber Syrien, dem eigentlichen Fluchtgrund der Region, wird diese eigennützige Containment-Politik der EU nichts nützen. Nein, sie schafft  eher neue Flüchtlinge - und straft die Kurdinnen und Kurden in der Türkei ab.

Veröffentlicht am 27. Oktober 2015

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