Reportage

Durch Rojava

Hinter Mauern und mit Grenzposten droht die Türkei der kurdischen Region in Syrien. Trotzdem ist überall die Energie des Wiederaufbaus zu spüren. Zum Beispiel im Gesundheitswesen.

Von Anita Starosta.

Die etwa zweistündige Autofahrt von Qamishli, der Hauptstadt des nordöstlichen kurdischen Kantons Cizîrê in Syrien, in die Kleinstadt Serê Kaniyê führt entlang einer drei Meter hohen Betonmauer. Diese Mauer trennt den nördlichen Teil Syriens von der Türkei und wird seit 2016 von der Türkei errichtet. Dort, wo früher eine grüne Grenze war, stehen jetzt Wachposten und Militärs. Stacheldraht, bewachte Gräben und Berichte über gelegentlichen Artilleriebeschuss über die Mauer sind ein permanentes Bedrohungsszenario für die Kurdinnen und Kurden in Rojava. Diese Mauer wird zum ständigen Reisebegleiter auf unserer Fahrt durch Rojava. Wir passieren den letzten Checkpoint der lokalen Polizeikräfte (Asayish) und fahren nach Serê Kaniyê ein, die Stadt liegt direkt an der Mauer. Auf der anderen Seite liegt die türkische Kleinstadt Ceylanpınar die für die syrische Bevölkerung seit dem Mauerbau nicht mehr erreichbar ist und den Besuch von Freunden oder Verwandten unmöglich macht. Dass wir hier ein Projekt kennenlernen sollen, das für die Entwicklung der demokratischen Selbstverwaltung Nordsyriens im Gesundheitsbereich von Bedeutung ist, wie es uns zuvor Dr. Agri von der Gesundheitskoordination angekündigt hat, ist noch schwer vorstellbar.

Medizinstudium in Trümmern

Erst als wir ein Klassenzimmer betreten, in dem ein Dutzend junger Frauen und Männer sitzt und aufmerksam einem Anatomie-Vortrag der Dozentin lauscht, wird deutlich, was er meinte. An den Wänden des Klassenzimmers hängen Plakate mit medizinischen Fachbegriffen und Zeichnungen von Organen, in den Regalen steht mehrsprachiges Unterrichtsmaterial. In dem Gebäudekomplex, in dem wir uns befinden, hatte sich 2013 die dschihadistische Al-NusraFront verschanzt. Im Kampf um die Befreiung der Stadt wurde das damalige Krankenhaus zu großen Teilen zerstört, die meisten Kriegsspuren sind inzwischen jedoch beseitigt. Im Erdgeschoss ist das neu eingerichtete Krankenhaus in Betrieb und im zweiten Stock befindet sich die Akademiya Tenduristiyê a Rojava (Gesundheitsakademie von Rojava). Hier werden seit über einem Jahr etwa 70 Studierende in Gesundheitsberufen ausgebildet, seit Winter letzten Jahres auch Ärztinnen und Ärzte.

Eine studentische Hilfskraft führt uns durch die Lehrräume; Mikroskope, Plastik-Torsos mit herausnehmbaren Organen, Skelette und Knochenimitationen liegen fein säuberlich aufgereiht nebeneinander. Einen Blick in den Sezierraum lehnen wir dankend ab. Schlafsäle und gemeinschaftliche Essensversorgung ermöglichen es den Jugendlichen auch ohne hohen finanziellen Aufwand an der Ausbildung teilzunehmen. Bisher gab es diese Möglichkeit in Nordsyrien für sie nicht, für das Studium hätten sie in die größeren Städte Syriens gehen müssen, etwa in das 350 Kilometer entfernte, aber weitgehend zerstörte Aleppo. Interessierte Schulabgänger können sich nun an die lokalen Komitees in ihrer Stadt wenden, um sich für einen Studienplatz an der neuen Akademie zu bewerben. Die Lehre findet in Arabisch und in Kurdisch statt, das bislang keine offizielle Sprache in Syrien war. Je nach Zusammensetzung des Kurses entscheiden Kursleitung und Teilnehmende gemeinsam in welcher Sprache unterrichtet wird.

Der Leiter Dr. Zeki, ein ehemaliger Hochschulprofessor aus Diyarbakır, referiert die Idee der Akademie, die für ihn einen Meilenstein in den Autonomiebestrebungen der Kurden darstellt. Er und sein Team haben ein eigenes Studiensystem für die Akademie entwickelt, das Curriculum haben sie an die WHO geschickt, aber trotz mehrmaliger Nachfrage keine Antwort erhalten. Eine internationale Anerkennung ihrer Lehre steht also noch aus. Für die Umsetzung haben sie weltweit die Ausbildungen und Studiengänge für Medizin ausgewertet und ein für sich passendes Modell entwickelt. Die Ausbildung der jungen Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Teilen Nordsyriens kommen, soll langfristig helfen, eine kostenlose Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung sicherzustellen. Das ist das erklärte Ziel der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava. Erster Punkt auf der Agenda, so erläutern uns später die Kolleginnen und Kollegen der Gesundheitskoordination von Rojava, sei es, die regelmäßige Bezahlung des Personals sicherzustellen.

Schon vor dem Krieg herrschte in ganz Syrien, auch in den kurdischen Regionen, extremer Ärztemangel. Schlechte und unregelmäßige Bezahlung und fehlende Mittel für die Ausstattung des öffentlichen Gesundheitssystems führten zu einer Stärkung des privaten Sektors. In Privatkliniken gab es zwar die Möglichkeit sich behandeln zu lassen, die ärmere Bevölkerung konnte sich die Behandlungen jedoch kaum leisten. Etwa die Hälfte der Ärzte hat das Land seit 2011 verlassen, auch deshalb, weil medizinische Einrichtungen gezielt angegriffen wurden. Laut einer Studie der britischen Zeitschrift Lancet hat das syrische Militär gezielt diese Einrichtungen bombardiert. In der kurdischen Region standen die Einrichtungen im Fokus des IS. Dieses durch Krieg und Privatisierung zerstörte Gesundheitssystem organisiert nun die Gesundheitskoordination, die dem demokratischen Rat Nordsyriens unterstellt ist, neu. medico unterstützt sie seit Beginn der Selbstverwaltung dabei - mit humanitärer und medizinischer Nothilfe oder der Ausstattung von Krankenhäusern, wie mit einer Blutbank, Ultraschallgeräten oder Krankenwagen.

Immer die Mauer entlang

Von Serê Kaniyê ist es eine etwa dreistündige Autofahrt, die Mauer entlang, bis nach Kobanê. Dort sind es die Gespräche mit Flüchtlingen aus Afrin, Ersthelferinnen und Ersthelfern, die uns bewusst machen in welch bedrohlicher und fragiler Lage der Wiederaufbau und die Arbeit der Gesundheitskoordination stattfindet.

Alle Hilfsgüter, Medikamente und Lebensmittel, die nicht aus Syrien kommen, müssen aus der Türkei in den Nordirak gebracht und dann über den einzigen Grenzübergang nach Rojava eingeführt werden. Das berichtet uns die Co-Vorsitzende des Kurdischen Halbmondes, Cemila Heme. Sie wirkt erschöpft und dennoch, das Bedürfnis uns das Erlebte zu berichten scheint zu überwiegen. Sie ist gerade zurück aus einem Einsatz im nordsyrischen Kanton Afrin. Genauer gesagt aus der Sheba-Region, der einzige Fleck des Kantons, den die Türkei nicht besetzt hält und wo sich etwa 130.000 Flüchtlinge aufhalten. Cemila und ihre Kolleginnen sind seit der türkischen Militäroperation in Afrin im Einsatz. Erst halfen sie in dem auch von medico unterstützten Afriner Krankenhaus, das einzige der Region, die Verletzten zu versorgen und fuhren mit ihren mobilen Kliniken Rettungseinsätze, um Verletzte zu bergen und die Menschen vor den beteiligten dschihadistischen Milizen in Sicherheit zu bringen. Dabei wurden sie zu unmittelbaren Zeugen des Krieges. Cemila berichtet wie Dorfbewohnerinnen und -bewohner von Luftschlägen getroffen wurden und Kollegen zwischen die Fronten gerieten, dabei kommen ihr wiederholt die Tränen. Sie war eine der letzten, die die Stadt verlies, als die Stadtverwaltung zur Evakuierung der Bevölkerung aufrief. Während hinter ihr die Bomben einschlugen, die auch das Krankenhaus trafen, floh sie mit Tausenden Zivilisten in Richtung Sheba. Eine Region in Afrin, aus der zuletzt der IS vertrieben wurde. Viele leerstehende, oft jedoch verminte Häuser, dienten als Schutzorte. In den ersten Tagen waren sie dort auf sich allein gestellt und behalfen sich mit Geräten und Medikamenten, die sie aus dem Krankenhaus mitnehmen konnten.

Rückkehr nach Afrin?

Inzwischen sind in Eigenleistung zwei Camps und mehrere Gesundheitsstationen für die etwa 130.000 Flüchtlinge errichtet worden. Mit Spendengeldern konnte medico bei der Medikamentenbeschaffung sowie dem Kauf zweier mobiler Kliniken unterstützen. Hilfskonvois kommen zu den Flüchtlingen durch, sind aber oft erheblichen Verzögerungen ausgesetzt. Sie müssen syrisches Regimegebiet durchqueren. Cemila, die gerade mit so einem Konvoi zurückgekehrt ist, berichtet wie sie auf Genehmigungen der Militärs warten müssen, oft dauert dies mehrere Tage. Die Hilfe wird aus Kobanê und Qamishli organisiert. Medikamente, Decken und Lebensmittel werden dort sortiert und auf große Laster geladen. Wie lange die autonomen Strukturen der Kurden diese Hilfe noch leisten können, ist schwer zu sagen. Nicht nur Cemila geht es so, die Helferinnen und Helfer arbeiten am Limit. Neben der Hilfe für die Menschen in Afrin hält der Kurdische Halbmond die Organisation sechs weiterer Flüchtlingscamps aufrecht, u.a. bei Raqqa oder Al Hasakah. Dieser Kraftakt übersteigt die Ressourcen von Rojava.

Wie es für die Flüchtlinge aus Afrin weitergeht ist völlig unklar. Sie wollen zurück nach Afrin, es gibt keine andere Option. Mehr als alles andere hoffen sie auf den Rückzug der Türkei aus der Region, damit sie in ihre Häuser und in ihren Alltag zurückkehren können. Berichte über Plünderungen und Belagerungen der Häuser durch Mitglieder dschihadistischer Milizen, die Einsetzung einer türkischen Verwaltung, islamischer Schulunterricht lassen erahnen, wie sich Afrin entwickeln wird, wenn die Türkei sich nicht zurückzieht. Schon zu Beginn des Einmarschs rechtfertigte Erdogan den Einsatz innenpolitisch mit der Ankündigung viele der über 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Land in Afrin anzusiedeln. Dies bedeutet eine gewaltsame demografische Neustrukturierung der Region, in der bisher überwiegend kurdische Bevölkerung lebte und sich das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der Jesiden befand. Umsiedlungen von Bewohnerinnen und Bewohnern aus Ost-Ghouta oder dem syrisch-palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk (Süd-Damaskus) sind dabei Teil dieses „demografischen Engineerings“. Es erinnert außerdem an die Entwicklungen in der Südosttürkei. Dort wurden nach der Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus den Städten ganze Stadtteile abgerissen und mehrstöckige Wohnhäuser für neue Bewohnerinnen und Bewohner gebaut, die kurdische Bevölkerung kann sich die Wohnungen meist nicht leisten.
 

Zuletzt unterstützte medico den Medikamentenkauf und die Anschaffung zweier mobiler Kliniken für die Flüchtlinge aus Afrin in der Sheba Region. Für weitere Hilfe und die Unterstützung beim Aufbau der Gesundheitsversorgung in Rojava braucht es unsere Solidarität.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 20. Juni 2018

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