„Die Verfassung ist unser Backup“

Prof. Louis Reynolds ist Mitglied im südafrikanischen People’s Health Movement. Kirsten Schubert sprach mit ihm über die aktuellen Umbrüche im Gesundheitssystem Südafrikas

In Südafrika vollziehen sich durch die Einführung einer nationalen Krankenversicherung große Veränderungen. Chance oder Gefahr?

Bei uns existiert noch immer ein zweigeteiltes Gesundheitssystem, öffentlich und privat - und beide Seiten sind aktuell in einer Krise. Zwischen beiden Sektoren besteht eine extreme Ungleichheit, die aus den neoliberalen makroökonomischen Maßnahmen resultiert, welche die ANC-Regierung im Jahr 1996 einbrachte. Der öffentliche Sektor leidet, bis auf einige Ausnahmen, unter einer chronischen Unterfinanzierung. Sie resultiert aus der Privatisierung, aber auch der Korruption. Zudem existiert eine sehr ungleiche Verteilung zwischen Stadt und Land, zwischen den verschiedenen Provinzen, aber sogar auch innerhalb der Stadtgebiete. Selbst der private Sektor wird zunehmend unbezahlbar. Nötig sind daher neue Strategien zur Finanzierung des Gesundheitssystems. Als die Idee einer nationalen Krankenversicherung (National Health Insurance, NHI) aufkam, lehnte sie der private Sektor zunächst jedoch mit dem Argument der Unbezahlbarkeit komplett ab. Mittlerweile hat sich diese Ansicht jedoch geändert. Ich glaube, viele haben verstanden, dass ein solcher steuerfinanzierter Gesundheitsfonds tatsächlich die Lage verbessern kann. Zudem ist es für einige private Akteure ein guter Topf voll Geld, aus welchem auch sie sich finanzieren könnten. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass der Gesundheitsminister sich wirklich für ein umfassendes und gerechtes Gesundheitssystem einsetzt, aber der Prozess in der Regierung ist absolut intransparent.

Im Moment gibt es 11 Pilotprojekte, in denen das neue Versicherungssystem NHI implementiert werden soll. Vor zwei Wochen haben wir einen Township besucht und in einem Workshop über den Fortschritt der Umsetzung diskutiert. Wir sprachen mit Patienten und waren schockiert, wie wenig sie über das NHI wussten! Sie berichteten zudem, dass sie sich oft in den frühen Morgenstunden in die Schlange vor dem Gesundheitszentrum einreihen müssen um überhaupt an die Reihe zu kommen. Es klafft eine massive Lücke zwischen Intention und Ergebnis! Aufgrund der Intransparenz wissen viele Betroffene überhaupt nicht, was passiert - insbesondere in den ärmeren Stadtteilen und auf dem Land.

Wir haben hier das Paradox, dass die Regierung das NHI unbedingt umsetzen will, der private Sektor sich aus Finanzierungsgründen auch dafür einsetzt und die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie die Zivilgesellschaft, die das Projekt zwar sehr kritisch beobachten, ebenso prinzipiell dafür sind: und dennoch geht es nicht voran. Ich vermute, dass der Prozess von Strömungen beeinflusst wird, welche aus dem NHI ein profitgenerierendes System machen wollen. Die Auseinandersetzung ist also wirklich eine zwischen einem umfassenden, öffentlichen System und öffentlich-privaten Partnerschaften.

Südafrika hat eine sehr lebhafte Geschichte - auch in Bezug auf die historischen Kämpfe um das Recht auf Gesundheit. Spielt das heute noch eine Rolle?

Wir verstehen das Recht auf Gesundheit als einen umfassenden Anspruch. Es geht um Zugang zu Gesundheitsversorgung und um die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren von Gesundheit, welche auch in unserer Verfassung verankert sind. Wir reden also von einem Gesamtpaket. Natürlich gibt es Fortschritte, etwa beim Zugang zu Wasser, bei sanitären Einrichtungen und dem öffentlichem Wohnungsbau. Aber es bestehen weiterhin massive Ungleichheiten - insbesondere bei den Einkommen. Südafrika ist eines der Länder mit der größten Ungleichheit. Die sozialen Voraussetzungen sind also weiterhin ein riesiges Problem, denn die Menschen leben unter Bedingungen, die sie krank machen.

Während der Apartheid war der Zugang zu qualitativ guten Gesundheitseinrichtungen für einen Großteil der Bevölkerung eingeschränkt - einigen blieb er sogar komplett verwehrt. In dieser Zeit entstanden verschiedene kleinere stadtteilbasierte Gesundheitsprojekte in den Townships und informellen Siedlungen. Daraus ging im Jahr 1987 das National Progressive Primary Health Care Network hervor. Zusammen mit anderen Organisationen mobilisierten sie für ein gerechtes Gesundheitssystem für alle, aber viele Initiativen schliefen nach der Wende zur Demokratie ein, weil sie annahmen, dass eine demokratische Regierung und die progressive Verfassung eine gerechte Gesellschaft und ein umfassendes Gesundheitssystem garantieren würden.

Im Land gab es eine lebhafte Zivilgesellschaft, mehrheitlich demokratisch und basisnah organisiert in der United Democratic Front (UDF). Meiner Meinung nach war die UDF zusammen mit dem Gewerkschaftsverband Congress of South African Trade Unions (COSATU) der effektivste Widerstand gegen das Apartheidsystem! Als das Verbot des ANC aufgehoben wurde und die Apartheid langsam zu Ende ging, wurde die UDF aufgelöst. Das war sicher einer der größten Fehler auf dem Weg zur Demokratie. Die partizipative, stadtteilbasierte Kultur der UDF wurde damit abgeschafft, aber auch das zentrale Forum für den Ansatz einer Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care). Die Zivilgesellschaft wurde fragmentiert und die ganze Macht dem ANC übergeben. In dieser Situation kam dann die HIV/Aids-Epidemie auf - und mit ihr politische Programme wie die Treatment Action Campaign, welche den inadäquaten Umgang der neuen Regierung mit dieser Krankheit und den mangelnden Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten kritisierte. Dies fand zu einer Zeit statt, und das muss man wissen, als HIV/Aids noch größtenteils verleugnet wurde. Heute sind die lebenswichtigen HIV/Aids-Medikamente nahezu uneingeschränkt zugänglich und viele der damaligen Organisationen haben ihr Themenspektrum geweitet. Mittlerweile kann man wirklich von einem multisektoralen Ansatz sprechen - von gesundheitlichen Auswirkungen der Bergbauprojekte im Land bis hin zur NHI.

Das Recht auf Gesundheit steht seit 1994 in Südafrika in der Verfassung. Nur leere Worte oder wirklich Rechte?

Naja, die Verfassung ist noch da, aber ihre Legitimität in Gefahr, denn die Verfassungsversprechen werden von der Lebensrealität vieler Menschen konterkariert. Doch viele Initiativen nutzen die Verfassung, um sich für eine progressive Implementierung der sozialen Rechte einzusetzen. In vielen Provinzen gibt es beispielsweise ein massives Schulproblem. Obwohl das Schuljahr bereits im Januar angefangen hat, haben viele Schüler bis heute keine Schulbücher erhalten. Auch der Zustand der Toiletten und Gebäude ist oft schrecklich. Das ist natürlich eine Verletzung des Rechts auf Bildung! Eine unserer Partnerorganisationen, Section 27, hat das zum Anlass genommen, die Regierung vor Gericht zu bringen und dieses Recht für die Millionen Kinder einzuklagen. Die Verfassung dient also als eine Art Backup. Aber wir brauchen noch deutlich mehr Erfahrung in rechtsstaatlicher Demokratie.

Veröffentlicht am 13. September 2012

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