Gespaltenes Mittelamerika

Die Solidarität lebt fort

Ein Interview mit medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer über gespaltene Gesellschaften, linke Regierungsprojekte, medicos Gesundheitsarbeit und die Strahlkraft von Inseln der Vernunft.

Im Herbst 2017 ist medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow von Mexiko über Guatemala und El Salvador bis nach Nicaragua gereist.

Du warst bereits in den 1980er Jahren für medico mehrfach in Mittelamerika. Wie hat sich die Region seither verändert?

In den 1980er Jahren erreichte die Globalisierung auch die entlegenen Dörfer entlang der mexikanischen Grenze zu Guatemala. Eine Straße wurde gebaut, Stromtrassen gelegt. Das war die Voraussetzung, um die bis dahin unerschlossenen Gegenden von Chiapas für den kapitalistischen Weltmarkt öffnen zu können. Heute sind auch die indigenen Dörfer an das Stromnetz angeschlossen. Allerdings können sich nur wenige Bewohnerinnen und Bewohner Geräte leisten, die Strom benötigen. Sie sind an die Globalität an- und gleichzeitig von ihr ausgeschlossen. Dieses Phänomen findet man überall in Lateinamerika. Im Petén im Norden Guatemalas sind die Wälder abgeholzt und Plantagen für die Herstellung von Palmöl angelegt worden. Auch diese Region ist in den globalen Markt integriert. An diesem verdienen einige Wenige Unsummen, während unendlich Viele nur an dessen unterem Rand teilhaben dürfen – als Tagelöhner auf den Plantagen oder als Käuferinnen von ungesunden industriell produzierten Nahrungsmitteln.

Die Integration in den Weltmarkt hat die gesellschaftlichen Gegensätze verschärft?

Ja, sie hat die Gesellschaft extrem gespalten und fragmentiert, es gibt eine Gleichzeitigkeit von Verarmung und Bereicherung, von Ausschluss und Teilhabe. Auf vielen Stationen haben wir erlebt, wie die Kluft zwischen dem, was wir globaler Norden und Süden nennen, angewachsen ist. Selbst in San Salvador gibt es Stadtteile, die sich kaum von noblen Vierteln in Los Angeles unterscheiden, mit allen Selbstverständlichkeiten und Statussymbolen des globalen Kapitalismus. Direkt daneben leben die Menschen in bitterer Armut.

Ist Armut die zentrale Ursache, die immer mehr Menschen die gefährliche Reise Richtung Norden wagen lässt?

Menschen versuchen der Armut zu entfliehen, aber auch Perspektivlosigkeit und grassierender Gewalt. Je weiter südlich wir gereist sind, umso mehr hat die Präsenz von Waffen zugenommen. In Ländern wie Guatemala, El Salvador und Honduras haben Kriminalität und Gewalt große Teile der Gesellschaft fest im Griff. An dem Wochenende, an dem wir in San Salvador waren, gab es allein in der Stadt 116 Morde. Die kriminellen Banden der Maras haben Parallelgesellschaften ausgebildet, während Polizei und Militär nur noch dazu da sind, die Privilegierten zu schützen. Das macht das Leben vieler Menschen unerträglich.

Wie ist euch die Migration auf der Reise begegnet?

Wir sind von Nord nach Süd gegen die Fluchtrouten gereist. Überall sind wir auf Gruppen von Menschen getroffen, die das Wagnis der Migration auf sich nehmen, zumeist junge Männer, manche auch mit noch kleinen Geschwistern an der Hand. Besonders beeindruckt hat mich der Besuch zweier medico-Projekte, die den Migrantinnen und Migranten zumindest kurzzeitig Zuflucht bieten. Die Herberge „La 72“ in Mexiko begann als kleine Kapelle, heute ist sie ein großes Refugium, in dem Flüchtlinge sich in einem geschützten Raum ausruhen können. Vielen sieht man die Entbehrungen an. In Playa Grande in Guatemala betreibt unsere Partnerorganisation ACCSS ein Ausbildungszentrum für Gesundheitspromotoren und Gemeindeentwicklung. Es ist wie eine Oase inmitten einer von Bergbau und Palmölanbau verwüsteten Welt. Auch hier machen Migrierende Rast, und ich fand es faszinierend zu sehen, wie der medico Grundsatz „Für das Recht zu gehen und das Recht zu bleiben“ konkret gelebt wird: Sie bekommen Informationen für die Weiterreise, aber auch Unterstützung und Ideen, was sie tun können, wenn sie doch bleiben wollen.

Du hast über die Gemeinsamkeiten der Länder gesprochen. Welche Unterschiede gibt es?

Ich habe eben die Richtung Süden wachsende Waffendichte beschrieben. Kommt man aber nach Nicaragua, sieht man plötzlich sehr viel weniger Waffen. Das hat damit zu tun, dass im Zuge der sandinistischen Revolution die alten Kräfte des reaktionären Militärs komplett aufgelöst und damit unheilvolle Traditionen gebrochen wurden. Es ist auch spürbar, wie der Sieg über die Diktatur das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt hat. Ohne die heutigen Machtstrukturen des Ortega-Clans schönreden zu wollen: Man merkt, dass Nicaragua die Erfahrung einer gesellschaftlichen Umwälzung gemacht hat. Das wird im Vergleich zu Guatemala besonders drastisch spürbar. Dort haben der grausame Bürgerkrieg und die vom Regime begangenen Menschenrechtsverletzungen derart verbrannte Erde hinterlassen, dass das Land heute noch auf vielen Ebenen um eine Aufarbeitung der Vergangenheit ringt. Hierbei sind in den vergangenen Jahren – auch durch die Arbeit von medico-Partnerorganisationen – zwar beachtliche Erfolge errungen worden, bis hin zu Verurteilungen von hochrangigen Ex-Militärs. Aber es ist noch ein langer und unsicherer Weg.

Ähnlich wie in Südamerika gibt es auch in Mittelamerika immer wieder linke Regierungsprojekte, momentan etwa in El Salvador. Welche Hoffnungen verbindest du damit?

In El Salvador gibt es im Bereich der Gesundheit seit Jahrzehnten eine ungeheuer starke und breite Zivilgesellschaft. Mit ihr und unter ihrem Druck versucht die linke Regierung eine Gesundheitsreform zu verwirklichen, die wirklich beeindruckend ist. Gleichwohl stehen diese Erfolge auf tönernen Füßen. Der salvadorianische Gesundheitsminister hat es im Gespräch so formuliert: „Wir sind zwar an der Regierung, aber nicht an der Macht.“ Genau da liegt das Problem und das ist durchaus vergleichbar mit Ländern wie Brasilien: Weder hier noch dort gab es eine grundlegende Veränderung der sozioökonomischen Verhältnisse. Die alten feudalen Strukturen sind weiterhin intakt. Das beschränkt die Möglichkeiten jedes linken Regierungsprojektes, Entscheidendes an den extremen sozialen Ungleichheiten zu verändern. Damit geht auch die Gefahr ihres Scheiterns einher.

Auch medico hat in seinem langen Engagement vor Ort vieles lernen müssen. Ein Beispiel: In Folge des Hurrikans Mitch 1998 gab es in Nicaragua das erfolgreiche Wiederansiedlungsprojekt El Tanque. Ein Nachfolgeprojekt, La Palmerita, hingegen ist gescheitert. Wo lagen die Unterschiede?

Veränderung ist immer Sache der Menschen selbst. Projekte lassen sich nicht überstülpen. Die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner von La Palmerita hat sich trotz aller Bemühungen im Bereich von Fort- und Ausbildung sowie der psychosozialen Arbeit nicht mit der Perspektive einer kleinbäuerlichen Existenz anfreunden können. Immer mehr Familien verkauften ihr Land an Dritte, was den Ansatz eines kooperativen Gemeinwesens schwächte. In El Tanque hingegen besitzt bis heute die Kooperative das Vorkaufsrecht. Das hat viel damit zu tun, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner, nachdem sie durch den Hurrikan alles verloren hatten, das Land in einem kollektiven Kampf angeeignet haben. Landtitel wurden ihnen nicht geschenkt, sie haben sie sich erstritten. Natürlich gab und gibt es auch in El Tanque Schwierigkeiten, es ist kein Paradies auf Erden. Trotzdem ist es das einzige Dorf, das wir auf unserer Reise besucht haben, in dem die Menschen für die Zukunft planen und nicht eine Zukunft an einem anderen Ort imaginieren. Das zeigt sich auch in einem schonenden Umgang mit den Agrarflächen. Was hier entstanden ist, ist eine ziemlich stabile Form von Eigenständigkeit. Genau darum geht es auch in anderen medico-Projekten, etwa wenn in Guatemala Gemeinden kollektiv die Trinkwasserversorgung verbessern oder Brücken bauen.

In den 1980er Jahren hat sich medico an der Seite von vor allem für den Aufbau von Gesundheitsdiensten engagiert. Gibt es diesen Schwerpunkt so noch?

Unser weites Verständnis von Gesundheit spiegelt sich in der Projektförderung wider. In Guatemala werden Gesundheitspromotorinnen und -promotoren ausgebildet, in Nicaragua unterstützen wir in ländlichen Regionen Menschen mit chronischer Niereninsuffizienz. In Guatemala fördern wir aber auch die psychosoziale Arbeit bei der Aufarbeitung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen sowie den Kampf um wirtschaftliche, soziale, kulturelle und Umwelt-Rechte indigener Gemeinden – und damit um die sozialen Determinanten von Gesundheit. In El Salvador geht es um partizipatorische Gesundheitsmodelle und den zivilgesellschaftlichen Einfluss auf die nationale Gesundheitspolitik. Selbst der Kampf gegen die Enteignung von Land im Zuge des Kanalbauprojekts in Nicaragua ist gesundheitsrelevant. Denn ohne Land drohen Armut und Ernährungsunsicherheit – und damit Krankheit. Insofern arbeitet medico heute in Mittelamerika entlang der ganzen Palette dessen, was ein gesundes Leben erfordert und ausmacht.

Wenn man wie du den Elan der 1980er Jahre mit den großen Befreiungsbewegungen mitbekommen hat: Wie fällt heute die Bilanz aus?

Auf einen ersten Blick stimmt die heutige Lage wenig hoffnungsvoll. Die neoliberale Kraft zielt überall darauf, Solidarität zu zerstören und durch Konkurrenz zu ersetzen. Aber wenn man genau hinsieht, entdeckt man, dass Solidarität, Aufbegehren und das Beharren auf Rechten fortleben. Wir haben das 50jähige Jubiläum von medico nicht umsonst unter das Motto „Rettung lauert überall“ gestellt: Auch und gerade in Mittelamerika ist das erfahrbar. Ich glaube aber auch, dass sich in den Strategien etwas verändert hat: In den 1980er Jahren dominierte die Idee von befreiten autonomen Gebieten. Auch heute geht es darum, „Inseln der Vernunft“ zu schaffen. Aber es gibt ein viel stärkeres Bemühen, kleinere lokale Widerstandspole aufzubauen, sich zu vernetzen, sich in den Widersprüchen zu bewegen und Spielräume zu nutzen. Es ist dieser Kampf um Hegemonie durch Netzwerke, der die Zukunft prägen wird.

Du sprichst von Oasen und Inseln: Inwiefern strahlen diese auf ihr Umfeld ab?

Pater Fray von dem Refugio La 72 in Mexiko hat das so beantwortet: Wenn die Migrantinnen und Migranten in der Herberge eine Praxis von Solidarität erleben, ist das eine Erfahrung, die sie verändern kann – und die sich mit ihnen auf den Weg macht.

Das Interview führte Christian Sälzer.
 

„Hilfe? Hilfe!“

Ein Buch zeigt Wege aus der globalen Krise

Thomas Gebauer arbeitet seit 1979 für medico international, seit 1996 als Geschäftsführer. Er ist einer der beiden Initiatoren der 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten »Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen«. Im Sommer 2018 wird er seinen Posten im Verein medico abgeben und sich ausschließlich um die siftung medico international kümmern. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow hat er 2017 mehrere zentrale Projektregionen von medico bereist. Ausgehend von diesen Reisen haben sie das Buch „Hilfe? Hilfe! – Wege aus der globalen Krise“ geschrieben, das gegen die verschiedenen Facetten der Wohltätigkeit einen kritischen Hilfsbegriff stark macht, der zur Selbsthilfe animiert und dennoch grundsätzliche Veränderungen ermöglicht. Das Buch erscheint Ende August im S. Fischer-Verlag. Foto

Veröffentlicht am 17. Mai 2018

Jetzt spenden!