Nach dem Erdbeben

Die Reichen sind noch reicher geworden

Ein Interview mit Pierre Esperance, dem Direktor des medico-Partners, der haitianischen Menschenrechtsorganisation RNDDH.

Nach dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar 2010 wurde das Ziel verkündet “Haiti besser wiederaufzubauen”. Bewegt sich der Wiederaufbau in diese Richtung?

Direkt nach dem Erdbeben hat die haitianische Regierung verkündet, erdbebensichere Baunormen zu erlassen. Darauf warten wir bis heute. So gelingt es nur den Reichen und Mächtigen, ihre Häuser erdbebensicher wieder aufzubauen. Die ökonomisch Schwächsten verfügen dagegen über gar keine Mittel sich vor künftigen Erdbeben zu schützen. Sie bauen ihre alten schwer beschädigten Häuser irgendwie wieder auf. Meistens können sie sich einen Abriss und Wiederaufbau nicht leisten. Würde sich Morgen ein Erdbeben derselben Größenordnung ereignen, gäbe es mehr Opfer vor allen Dingen unter den Allerärmsten. Die Opfer von damals wären wieder die Opfer. Drei Jahre nach dem Erdbeben müssen wir erleben, dass Port au Prince weiter die Abhänge hoch wächst. Elendsviertel entstehen überall in der Hauptstadt und ihrer Umgebung. Eines der größten Elendsviertel ist Corail-Cesseless (Ein nach dem Erdbeben im Norden von Port au Prince angelegtes Viertel, in dem fast 100.000 Menschen leben).

Wie sehen Sie die Rolle der großen internationalen Geldgeber? Sind die Versprechen zur ökonomischen und politischen Stabilisierung Haitis eingehalten worden?

Die internationale Gemeinschaft hat in der Nothilfe unmittelbar nach dem Erdbeben eine große Rolle gespielt. Trotzdem sehen wir nicht genügend positive Ansätze. Nach der Nothilfe hätte eine Phase der Entwicklungshilfe stattfinden müssen. Hier ist die internationale Hilfe gescheitert. So wurde zum Beispiel die Interimskommission zum Wiederaufbau Haitis (ICRH) gebildet. Es gibt keine Evaluierung ihrer Arbeit, keinerlei Transparenz über ihre Tätigkeit. Es entstanden viele Organisationen, die aus dem Erdbeben Profit geschlagen haben, während die Menschen wie zuvor in Armut verharren. Wir haben eine Invasion von NGOs erlebt. Es kamen viele internationale Experten, die hier viel Geld verdienten, während gut ausgebildete Haitianer ihr Recht auf Arbeit nicht verwirklichen konnten. Wir erhielten internationale Unterstützung bei der Durchführung von Wahlen 2010 und 2011. Aber die Wahlen waren gekennzeichnet von Wahlfälschungen, fehlender Partizipation und Transparenz. Die verkündeten Wahlergebnisse sind anzuzweifeln. Kein Wunder, dass sich nicht viel verändert hat. Verändert hat sich vieles zum Negativen. Gerade auf politischer Ebene fehlen handlungsfähige demokratische Institutionen. Wir geraten von einer politischen Krise in die nächste. Und demokratische Errungenschaften sind gefährdet.

Es herrscht die Straflosigkeit. Die Mächtigen stehen über dem Gesetz. So hat der Ex-Diktator Duvalier, gegen den Klagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Menschenrechte vorliegen, einen Diplomatenpass von der Regierung erhalten und kann juristisch somit nicht belangt werden.

Nach wie vor konzentriert sich die gesamte Macht in der Hauptstadt. Lokale demokratische Institutionen sind durch die geltende Verfassung geschwächt worden. Politik besteht in Haiti weitestgehend aus leeren Versprechungen. Die Politiker haben kein politisches Projekt für das Land. Die Mächtigen leben in einem Luxus, den das Land in seiner Geschichte noch nie erlebt hat. Juridikative und Legislative sind nicht unabhängig von der Exekutive. Das Korruptionsniveau wächst sowohl im öffentlichen wie im privaten Sektor.

Welches sind aus menschenrechtlicher Sicht die größten Probleme, mit denen sich Ihre Organisation auseinandersetzen muss?

Wir erleben eine weitere Verarmung breiter Teile der Bevölkerung. Besonders dramatisch ist die Situation der Frauen. Es herrscht eine umfassende Unsicherheit, eine Verschlechterung der Umweltsituation und ein hohes Korruptionsniveau. In den Lagern leben die Menschen unter extrem unhygienischen Bedingungen, extremer Armut und gefährdet durch Cholera. Die Menschenrechte der Haitianerinnen und Haitianer werden auf verschiedenen Ebenen verletzt. Das Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf Wohnung, Arbeit etc. Das betrifft vor allen Dingen die 380.000 Menschen, die nach wie vor in den Lagern leben. Das Regierungsprojekt 16-6 zur Unterstützung von Erdbebenopfern hatte einige sehr gute Effekte, weil damit die Lager auf wichtigen öffentlichen Plätzen geräumt werden konnten. Aber leider war es von nur geringer Reichweite. Mit 20.000 Gourdes, die jeder erhielt, der den Platz verließ, kann man sich keine anständige Wohnung für ein Jahr mieten. Deshalb wurden mehr als 50 Prozent mit Gewalt von den Plätzen vertrieben.

Die größte Herausforderung in Haiti besteht heute darin, die Bürgerschaft zu ändern. Wenn es nicht gelingt, aktive und sozial engagierte Bürger in Haiti zu bilden, werden wir keine wirklichen Veränderungen erzielen können.

Das Interview führte Katja Maurer

Veröffentlicht am 16. Januar 2013

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