Syrien

Die nächste Kampfzone

"Wir wollen auf jeden Fall weg." Drei Augenzeugenberichte über die Situation in Idlib.

Die an die Türkei grenzende Provinz Idlib steht im Fadenkreuz der nächsten Schlacht und syrische wie russische Luftwaffe bombardiert regelmäßig Ortschaften der Provinz, in die alle Rebellen aus anderen mittlerweile besiegten Region gebracht wurden, darunter auch viele islamistische Gruppierungen, die mittlerweile die Kontrolle über weite Teile der Region haben.

Auch viele Oppositionelle wurden nach Idlib vertrieben, die in den Rebellengebieten zuvor eine zivile Infrastruktur oft im Widerstand gegen bewaffnete Gruppen aufrecht erhielten. Uns liegen Berichte von Menschen vor, die jetzt in Idlib leben müssen und verzweifelt immer wieder versuchen, die Grenze zur Türkei zu überwinden, um vor der Verfolgung durch das syrische Regime sicher zu sein. Sie haben zuvor in von  medico und adopt a revolution geförderten Projekten gearbeitet.

Sie berichten von ihrer Vertreibung aus Ost-Ghouta, von ihren Lebensbedigungen in Idlib und von ihrer Hoffnung, Syrien verlassen in eine sichere und menschenwürdige Umgebung verlassen zu können. Aus nachvollziehbaren Gründen veröffentlichen wir die Auszüge anonym. Ihre Berichte zeigen die ausweglose Situation der Zivilisten in Idlib, die nun keine Fluchtmöglichkeit mehr haben, da die Türkei die Grenze geschlossen hält. Das Schicksal Hunderttausender ist von der kommenden Schlacht bedroht. 
 

Unser zweiter Tod

17 Mal versucht über die Grenze zu gelangen

Diese Vertreibung machte uns von Anfang an Angst, denn wir wussten, dass wir nun an ein prekäres und verwundbares Leben als Flüchtlinge führen würden. Wir wählten eine Stadt aus, die nicht von der Nusra-Front kontrolliert wird und zu diesem Zeitpunkt auch nicht involviert war in die Kämpfe zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen im Norden Syriens.

Aufgrund meiner Verfolgung durch die Nusra-Front und andere bewaffnete Akteure stand für mich von Anfang an fest, dass ich Nordsyrien in Richtung Türkei verlassen würde. Bisher haben ich und meine Familie insgesamt 17 Mal versucht die Grenze zur Türkei zu überqueren. Alle diese Versuche schlugen jedoch fehl und endeten mit unserer Rückdeportation nach Syrien. Wir wurden insgesamt drei Mal von der türkischen Polizei inhaftiert. Wer in den Händen der türkischen Grenzpolizei deklariert, er verlange Asyl aufgrund seiner Verfolgung in Syrien und zumindest eine Prüfung seines Falls, stößt auf taube Ohren und wird direkt wieder über die Grenze gefahren.

Nach unserem ersten Tod in Ost-Ghouta sterben wir hier so jedes Mal einen weiteren Tod bei unseren Versuchen, die Betonmauer, die die Türkei sich gebaut hat, unentdeckt zu über- oder unterqueren. Allein der Anblick der Schmuggler ist beängstigend. Häufig tragen sie Waffen, drücken sich vulgär aus und fluchen, sind tätowiert und hören laute, billige Musik. Viele Male hatten wir aber trotz ihres Erscheinungsbilds keine Probleme mit ihnen.

An meinem dreißigsten Geburtstag versammelten wir uns für einen erneuten Versuch im Haus eines Schmugglers aus Homs, der zu einer der FSA-Brigaden gehört. Es war eine der heißen Sommernächte und wir brachen gegen acht Uhr abends in Richtung Grenze auf. Mit uns waren 14 weitere Personen im Minibus. Sie kamen aus Raqqa, Deit El-Zour und Homs. Nur ich und meine Familie waren Neuankömmlinge aus Ost-Ghouta. Noch auf dem Weg an die Grenze, wurden wir an einem Checkpoint einer der bewaffneten Gruppen angehalten. Alles ging sehr schnell - plötzlich hielten uns die Bewaffneten ihre geladenen Gewehre an den Kopf und zwangen den Fahrer dazu, den Bus an die Seite zu fahren. Sie trennten die Männer von den Frauen und aus dem anderen Raum konnten wir ihr verängstigtes Weinen hören. Überrascht stellten wir fest, dass sie, während wir festgenommen wurden, unseren Schmuggler freiließen. Der kooperiert ganz offensichtlich mit den Bewaffneten und hatte uns ihnen ausgeliefert. Wir wurden von ihnen beschuldigt dem IS anzugehören und sollten uns nun freikaufen. Mir wurden die 2.000 Dollar, die ich für unsere Flucht mühsam gesammelt und mein Tablet abgenommen – die Gegenleistung für mein Leben, das meiner im neunten Monat schwangeren Frau und das Leben meiner zweijährigen Tochter.

Wir sitzen jetzt wieder in der kleinen Wohnung, die wir angemietet haben und warten darauf, dass ein Wunder passiert und wir es irgendwie schaffen, aus dieser angsteinflößenden Gegend herauszukommen. Am 23. Juli brachte meine Frau unsere zweite Tochter zur Welt. Während der Geburt spürte ich die Bitterkeit der Vertreibung und der Fremde besonders – niemand außer mir war da, um ihr bei ihren Schmerzen und der Anstrengung beizustehen. Es kommt mir absurd vor, wie viele Prüfungen wir durchlaufen müssen, während andere ein normales Leben führen. Wir werden aber nicht aufgeben und weiter versuchen, uns aus dieser Hölle zu befreien. Denn für ein Leben in Freiheit und Würde sind wir 2011 in unserer Revolution auf die Straße gegangen und wir sind immer noch davon überzeugt davon, dass auch uns ein solches Leben zusteht.
 

Route der Demütigung

Mit 50.000 in Richtung Idlib

Ich war Photograph und Mitglied des Komitees Erbin, und habe in den letzten sieben Jahren nebenher auch viel humanitäre Arbeit in der Ost-Ghouta geleistet. Ich überlebte, doch Erbin, meine Heimatstadt, wurde zerstört. Während dieser Zeit starben viele Menschen, unter anderem auch in den Schulen, die wir betrieben hatten. Diese dienten zum Schluss als Luftschutzkeller und wurden gezielt bombardiert. In einer der letzten Nächte der Offensive verbrannten so 32 Menschen in einem Keller 500 Meter entfernt, der mit Napalm bombardiert wurden war

Circa 50.000 Menschen wurden zur Flucht in den Norden des Landes gezwungen. Auch ich verließ die Ost-Ghouta Richtung Nordsyrien in den altbekannten, grünen Bussen, die das Regime zum Transport einsetzt. Sie sind in Syrien zu einem Symbol für das forced displacement oppositioneller Bevölkerungsteile geworden. Vor unserer Abfahrt wurden wir unter Aufsicht der russischen Militärpolizei von Regimesoldaten durchsucht. Ich werde nie vergessen, wieviel Angst ich in diesem Moment hatte – es war ja das erste Mal, dass ich direkt mit einem Soldaten des Regimes konfrontiert war, nachdem sie uns sechs Jahre lang belagert und bombardiert hatten.

Die Fahrt nach Nordsyrien dauerte mehr als 24 Stunden, obwohl die Strecke zwischen Damaskus und Nordsyrien nur circa 400 Kilometer beträgt und man dafür eigentlich nicht länger als fünf bis sechs Stunden braucht. Das Regime ließ die Busse mit Absicht durch die Gebiete an der Küste fahren, die eigentlich gar nicht auf der Strecke liegen. Die Küstenregion ist das Stammland des Regimes und unsere größte Angst war, dass man sich an uns rächen würde für die Soldaten, die in den Kämpfen um Ost-Ghouta getötet worden waren. Unsere Busse wurden regimeloyalen Gruppen vom Straßenrand aus mit Steinen beworfen und man beschimpfte uns. Das Regime hatte diese letzte Demütigung mit der Streckenänderung minutiös eingeplant. Auf einige Busse wurde sogar geschossen, einige der Businsassen wurden dabei verletzt, manche sogar getötet – und das, nachdem sie die Hölle in der Ost-Ghouta überlebt hatten.

Am Ankunftspunkt Qalaa Al-Madiq im nördlichen Umland von Hamah wurden wir von der Bevölkerung freundlich aufgenommen. Dort konnte jeder für sich entscheiden, wo er hingehen wollte. Es stand uns offen, in den provisorisch eingerichteten Camps oder bei Bekannten unterzukommen, oder selbst eine der knappen und teuren Wohnungen anzumieten. Ich fuhr mit meiner Frau, meinen drei Brüdern, meiner Schwester und ihren Kindern weiter Richtung türkische Grenze. Für mich war klar, dass ich Syrien verlassen werde, denn die verschiedenen bewaffneten Gruppierungen im Norden mich ein zu großes Sicherheitsrisiko. Einer meiner Brüder war in Ost-Ghouta von einem Scharfschützen nahe unsres Hauses angeschossen wurden und ist seitdem schwer verletzt. In Idlib kann er nicht behandelt werden und eine Grenzüberquerung ist für ihn fast unmöglich, da er keine langen Strecken laufen, geschweige denn rennen kann.

Circa 100 Tage lang versuchte ich eine halbwegs sichere Schmuggelroute zu finden. Doch die Vorfälle an der Grenze häuften sich: Die Präsenz der Grenzpolizei nahm zu und diese eröffnete auch immer häufiger das Feuer auf Flüchtende. Mehrere Menschen starben. Ende Juni versuchte ich es schließlich trotzdem. Ich machte mir viele Sorgen und hatte Schuldgefühle, da meine Frau zu diesem Zeitpunkt im sechsten Monat schwanger war und die Schmuggelroute für sie eine extreme Belastung. Die Grenzüberquerung ist der schwerste, aber auch der schicksalhafteste Moment für mich und alle anderen, die sich ein Leben in Würde und Sicherheit wünschen. Es ist vielleicht irrational, aber meine Angst vor und während der Überquerung der Grenze kam der Furcht gleich, die ich fühlte, als wir in der Ost-Ghouta unter heftigster Bombardierung im Keller ausharrten.

Ich hatte, im Gegensatz zu vielen andern, Glück, denn unser erster Versuch war erfolgreich. Wir machten uns gegen zwei Uhr nachts auf den Weg, mussten circa eine Stunde zu Fuß laufen und kamen von der Grenzpolizei unbehelligt auf der türkischen Seite der Grenze an. Von dort wurden wir weiter nach Istanbul geschmuggelt, denn auch innerhalb der Türkei wird man an den Checkpoints kontrolliert und im schlimmsten Fall über die syrische Grenze zurück deportiert. In dem Minibus, der uns nach Istanbul brachte, waren wir circa 24 Personen, eigentlich passen da aber nur 14 Personen rein. Die Fahrt dauerte noch einmal 24 Stunden und für mich war dieser Tag schwerer als der Tag, an dem ich Ost-Ghouta verlassen musste.

Am 28.06. kamen wir in Istanbul an. Nur wenige Tage lang hatte ich das Gefühl, mich von den Anstrengungen der Flucht entspannen zu können und war erlöst, unser vom Krieg zerrüttetes Land hinter mir gelassen zu haben. Dann begannen allerdings schon die Sorgen darüber, wie man sich als illegaler Flüchtling in Istanbul versorgen, wie arbeiten und Geld verdienen soll. Nicht mal eine Aufenthaltsgenehmigung konnte ich bisher organisieren und ich träume davon, irgendwie nach Deutschland oder in ein anderes europäisches Land zu können, in dem Menschenrechte respektiert werden und uns ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird.
 

Auf jeden Fall weg

Der Weg mit Schmugglern

Am 30.03.2018 verließ ich die Ost-Ghouta und kam am 31.03. im Norden Syriens an. Ich bin in Maret Al-Numan unterkommen. Für mich war Maret Al-Numan als Stadt die beste Wahl, denn hier ist die Nusra-Front nicht präsent. Es gibt allerdings viele andere Probleme – Wohnraum zum Beispiel. Die billigsten Wohnungen kosten monatlich 35000 SYP, aber sind komplett leer. Wir sind aus der Ost-Ghouta jeder mit nur einem Koffer hier angekommen und können es uns nicht leisten, eine Wohnung neu einzurichten. Wohnungen, in denen wenigstens eine Grundausstattung vorhanden ist, kosten mindestens 100 Dollar im Monat.

Schon als ich noch in Ost-Ghouta während der brutalen Offensive des Regimes war, hatte ich beschlossen, dass ich Syrien definitiv mit meiner Familie verlassen will, auf welchem Weg auch immer. Ich habe bisher viele Male versucht die Grenze in die Türkei zu überqueren. Ich versuchte es über den offiziellen Checkpoint in Bab Al-Hawa, aber wenn man durch den Checkpoint in Bab Al-Hawa kommen will, dann muss man persönliche Verbindungen zu Leuten haben, die dort etwas zu sagen haben. Als das also nicht funktionierte, versuchte ich es mit Schmugglern. Ich versuchte es über verschiedene Routen - Darkoush, Atme, Harem und Salqin. Keiner meiner Versuche war bisher erfolgreich. Insgesamt haben Familien mit Kindern schlechtere Chancen. Entweder wurden wir von der Grenzpolizei aufgegriffen und zurückgeschickt, oder der Versuch scheiterte schon vorher, an der türkischen Mauer. Bei den Versuchen, bei denen uns die Grenzpolizei aufgriff, wurde ich mehrmals auch von dieser körperlich misshandelt und geschlagen.

Ich habe nun einen medizinischen Bericht bei der zuständigen Organisation eingereicht. Mein rechtes Auge wurde in Ost-Ghouta verletzt und muss operiert werden. Dieser medizinische Eingriff kann nur in der Türkei vorgenommen werden und vielleicht kann ich so als humanitärer Fall die Grenze legal überqueren. Momentan warte ich auf eine Antwort und hoffe, sie fällt positive aus.

Es ist schon viel zu viel Zeit vergangen, seit wir Ost-Ghouta verlassen haben und wir stecken immer noch hier im Norden fest. Das ist ein Problem, weil es sehr schwer ist, hier eine Arbeit zu finden. Gleichzeitig sind die Kosten für Miete und den Unterhalt einer Familie sehr hoch. Langfristig gibt es hier keine Perspektive für uns.

Veröffentlicht am 06. September 2018

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