Spendenaufruf Kurdistan

Die kurdische Zivilgesellschaft hilft zwischen allen Fronten

Die Menschen im Irak und Syrien fliehen vor ISIS, Kalifat und Armee in die kurdischen Gebiete

30.09.2014   Lesezeit: 6 min

Nein zu religiösem Terror und autoritärer Gewalt! Solidarische Nothilfe für Flüchtlinge vor dem Kalifat! Wasser, Nahrung & ein Zelt für Schutzsuchende im kurdischen Nordirak und in Syrien.
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Von Karin Mlodoch (Haukari e.V.)

Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks sind im Irak zurzeit mehr als 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Ein Großteil der Flüchtlinge sucht Schutz in der kurdisch verwalteten Region im Nordirak: Hunderttausende in den Provinzen Duhok und Erbil; weitere Zehntausende im Südosten der kurdischen Region im Germian-Gebiet. Hier gibt es nicht nur seit Wochen heftige Gefechte zwischen IS-Milizen und verschiedenen kurdischen Kräften um die Städte Jalawla und Saadya, sondern auch die Luftangriffe der irakischen Armee führten dazu, dass Zehntausende von kurdischen, arabischen und turkmenischen Menschen in Panik nach Kanaqin entwichen. Viele fliehen vor dem Terror der IS-Milizen, andere vor den irakischen Luftangriffen, wieder andere aus Angst vor den schiitischen Milizen und deren Racheaktionen an der sunnitischen Bevölkerung. Ihre Geschichten sind dramatisch: Fast alle haben Angehörige verloren, selbst Gewalt erlebt, ihre Häuser wurden zerstört; meist haben sie tagelange Fußmärsche hinter sich.

Kanaqin selbst ist eine multiethnische Stadt mit ca. 200.000 Einwohnern, einer großen kurdisch- schiitischen Gemeinde, sowie turkmenischen und arabischen Bevölkerungsgruppen. Zurzeit kurdisch kontrolliert, gehört sie zu den umstrittenen Gebieten, auf die sowohl die irakische Zentralregierung als auch die kurdische Regionalverwaltung Anspruch erheben. 70.000 Flüchtlinge sind aktuell registriert. Alle Ankommenden werden von kurdischen Sicherheitskräften kontrolliert. Die Angst ist groß, dass mit den Flüchtlingen IS-Kämpfer oder deren Familien in die Stadt kommen könnten. Flüchtlinge, die Freunde oder Verwandte haben, die für sie bürgen, können in der Stadt in Mietwohnungen, Pensionen oder notdürftig auf halbfertigen Baustellen unterkommen. An die zweitausend vor allem arabisch-sunnitischer Familien, mehr als 10.000 Menschen, die keine Bürgen finden, sind in vier Zeltlagern am Rande der Stadt untergebracht.

Lokale Vernetzungen

Hier leisten UN-Organisationen, internationale, regionale und lokale NGOs und die Bevölkerung von Kanaqin Hilfe, koordiniert von der Stadtverwaltung und der örtlichen „Organisation der Demokraten“. Es gibt - wenn auch unzureichend - Wasser, Strom und sanitäre Anlagen; Essen wird über Großküchen bereitgestellt, in jedem Lager gibt es eine Gesundheitsstation. Angesichts der ständig wachsenden Zahl von Flüchtlingen, ihrem katastrophalen psychischen und gesundheitlichen Zustand und der extremen Hitze in den in sandigen, schattenlosen Ebenen angesiedelten Camps bleibt der Hilfsbedarf immens.

Schon seit Mitte Juni 2014 leisten Haukari und die lokale Gesundheitsorganisation Kurdistan Health Foundation (KHF) mit Unterstützung von medico international eine akute Nothilfe für die Flüchtlinge in den vier Zeltlagern. Beide Organisationen arbeiten seit vielen Jahren in der Germian-Region, haben langjährige Kontakte zur lokalen Verwaltung und Zivilgesellschaft und können flexibel und direkt am akuten Bedarf orientiert Hilfe leisten. So wurden die provisorischen Krankenstationen in den Flüchtlingslagern mit Kühlschränken, Generatoren und Medikamenten unterstützt. Tausende Mütter von Neugeborenen und Kleinkindern stehen angesichts der erlebten Grausamkeiten unter Schock, sind voll Sorge sowie erschöpft von der Flucht und haben keine oder zu wenig Muttermilch um ihre Kinder zu nähren. Es werden daher unter ärztlicher Aufsicht Zusatznahrung für die Kleinkinder sowie Hygieneartikel für Frauen verteilt. Daneben werden entlastende Maßnahmen für die Bevölkerung von Kanaqin gefördert, auch um die beginnenden Spannungen zwischen Bevölkerung und Flüchtlingen abzubauen. Nachdem es einigen Unmut gab über die vorübergehende Nutzung von Schulen sowie Sportanlagen als Notunterkünften und deren Beschädigung, wird jetzt der Stadtverwaltung von Kanaqin dabei geholfen, dass eine Instandsetzung des örtlichen Fußballstadions mit aktiver Beteiligung von Jugendlichen aus den Flüchtlingslagern gelingt.

Gesamtirakische Solidarität und Unterstützung für die Flüchtlinge

Aber jenseits dieser Alltagskonflikte ist auch im Germian-Gebiet die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung enorm – und keineswegs selbstverständlich. Insbesondere gegenüber den arabisch-sunnitischen Flüchtlingen gibt es tiefsitzendes Misstrauen. Jahrzehntelang hat die arabisch-sunnitische Bevölkerung das Rückgrat für die Gewaltherrschaft des Baath- Regimes gebildet. In der Germian-Region gibt es kaum eine kurdische Familie, die unter Saddam Hussein nicht von Zwangsdeportation betroffen war oder Angehörige verloren hat. Umso beeindruckender ist ihre jetzige Solidarität mit allen Flüchtlingsgruppen. „Als Saddam Hussein uns damals nach Ramadi zwangsumgesiedelt hat, waren es einige wenige freundliche arabisch-sunnitische Nachbarn, die uns geholfen haben, zu überleben. Heute geben wir diese Geste zurück“, sagt ein kurdischer Mitarbeiter einer lokalen NGO im Camp Bahary Taza. Im nahegelegenen Rizgari organisieren Frauen, die bei den Anfal-Operationen der irakischen Armee 1988 Männer, Söhne und Brüder verloren haben, eine Nachbarschaftshilfe für dort Schutz suchende Frauen aus Baquba. Ihnen habe damals niemand geholfen, sagen sie. Auch habe sich noch nie ein arabisch-sunnitischer Araber bei ihnen entschuldigt für das ihnen angetane Leid. „Aber diese Frauen sind auch Mütter, die nur ihre Kinder schützen wollen. Deshalb helfen wir ihnen.“

Inmitten des Gewirrs aus Konfliktlinien und Akteuren finden sich hier großartige Zeichen gesamtirakischer Solidarität gegen die Brutalität und das Sektierertum des salafistischen Kalifats. Auf der politischen Bühne kommt eine solche gesamtirakische Allianz hingegen nur zögerlich in Gang. Die nun gebildete neue Zentralegierung unter Ministerpräsident Haider al-Abadi hat Entscheidungen zu den Kernkonflikten zwischen kurdischen, schiitischen und sunnitischen Fraktionen erstmal verschoben; die kurdische Fraktion hat der Regierung nur „auf Probe“ zugestimmt. Es bleibt zu hoffen, dass es der irakischen Regierung dennoch gelingt, erste Schritte zu einer gemeinsamen Strategie gegen den „Islamischen Staat“ zu entwickeln – eine Voraussetzung, um den neuen und alten Terror im Irak besiegen zu können. Wenn die Gesellschaft selbst wie in Kanaqin im eigenen alltäglichen Handeln der Politik vorrangeht, dann sind es die Politiker in Bagdad, die von ihr zu lernen haben.

medico-Nothilfe für die Flüchtlinge in Syrien und im Irak

Syrien und der Irak sind allen Schreckensmeldungen zum Trotz noch immer Regionen einer ethnischen und konfessionellen Vielfalt, in der seit vielen Jahrhunderten unterschiedliche Ausprägungen des muslimischen und des christlichen Glaubens zusammenleben. Das alte Europa hat zwar historisch der Region in einem autoritären Akt Grenzen und Staatsgebilde verordnet, aber die kulturelle Diversität bestand bereits vorher.

Die solidarische Nothilfe in den kurdischen Gebieten Syriens und des Irak ist mehr als nur eine humanitäre Aktion, sondern auch eine politische Antwort auf die radikale Kriegsführung des „Islamischen Staates“, dessen Terror die Kultur und Geschichte dieser Region auslöschen will. In Syrien hilft medico der vom IS-Terror bedrängten kurdische Enklave Kobane mit einer Blutbank und bereitet weitere medizinische Transporte für die jesidischen und innersyrischen Flüchtlinge in Rojava vor. Im kurdischen Kanaqin im Irak versorgen die lokalen medico-Partner Haukari und KHF ebenfalls all jene, die vor der konfessionalisierten Gewalt fliehen müssen. Die Bereitstellung von Wasser, Medikamenten und Zusatznahrung für Babys soll auch verdeutlichen, dass es um eine plurale Gesellschaft geht, in der alle Kriegsflüchtlinge, ob sie nun Jesiden, Christen, schiitische Kurden oder sunnitische Araber sind, ein Recht auf Unterstützung und Teilhabe haben.

Das Spendenstichwort lautet: „Kurdistan“

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