Irak

Klima der Straflosigkeit

Bedroht von pro-iranischen Milizen, versuchen Aktivist:innen im Irak, die Revolution vom Oktober 2019 fortzusetzen. Von Schluwa Sama.

Ihab al-Wazni war ein Aktivist der irakischen Oktoberrevolution von 2019 aus Kerbala. Er hatte dazu aufgerufen, am 25. Mai 2021 in der irakischen Hauptstadt Bagdad demonstrieren zu gehen, um die Revolution fortzuführen und die Forderung nach einem Systemwechsel zu bekräftigen.

Im Oktober 2019 hatte den Irak eine Protestwelle erfasst, deren Zentrum die Besetzung des Tahrir-Platzes in Bagdad bildete. Die Menschen forderten ein Ende von Korruption und Klientelismus. Sie gingen konfessionsübergreifend auf die Straße und widersetzen sich jeglicher Vereinnahmung der Proteste. Bis heute sind die Nachwirkungen der monatelangen Proteste in der irakischen Gesellschaft spürbar.

Ihabs Aufruf erhielt relativ wenig Resonanz und es schien als würde er ins Leere laufen. Als Ihab al-Wazni dennoch wegen seines Aufrufs von pro-iranischen Milizen bedroht wurde, ging er zur Polizei. Die tat allerdings nichts, um ihn zu schützen. Am 8. Mai 2021 wurde Ihab umgebracht.

Sein Tod brachte das Fass zum Überlaufen. Spontan gingen Menschen nach dem Mordanschlag in Kerbala auf die Straße und protestierten. Denn Ihab ist einer von Hunderten Aktivist:innen, die seit der Oktoberrevolution von pro-iranischen Milizen getötet wurden. Nach Ihabs Tod haben Aktivist:innen seinen Aufruf zur Demonstration am 25. Mai 2021 aufgegriffen und zu ihrer Sache gemacht. Diese Aktivist:innen kannten Ihab nicht unbedingt, aber jede und jeder von ihnen kennt Menschen, die wegen ihres Aktivismus in der Oktoberrevolution ermordert wurden. Für den 25. Mai wurde eine Kampagne ins Leben gerufen, die Rechenschaft fordert für alle politischen Morde, die von pro-iranischen Milizen verübt worden sind. Die Kampagne trägt den Namen „Wer hat mich umgebracht?“ und zeigt die Bilder und Geschichten all derer, die getötet wurden. 

Militärische Konfrontation

Ihab gehörte zu den meinungsstarken Aktivist:innen, die in ihrer Region die Ideale der irakischen Oktoberrevolution fortführen wollten. Damit wurden sie zum Angriffsziel von Milizen, die straflos im Irak agieren. Ziel der Milizen ist es, eine Fortführung der Oktoberrevolution zu verhindern, die das Herrschaftssystem destabilisiert. Nadia Mahmud, eine der Gründerinnen der irakischen Aman – Organisation für Frauen, mit der medico kooperiert, erklärt: „Wer den Irak regiert, wird nicht innerhalb des irakischen Parlaments entschieden sondern von Milizen, die die Straße kontrollieren.“

Erst kürzlich wurde das besonders deutlich bei der Konfrontation zwischen irakischem Militär unter Führung von Premierminister Al-Kathemi, der den USA politisch nahesteht und den Kräften der Hashd al-Shaabi/Popular Mobilization Force, deren politische Loyalität dem Iran gilt. Die Hashd Al-Shaabi wurde gegründet um gegen den IS zu kämpfen. Damals wurde jungen Männer ein Gehalt dafür versprochen, dass sie ihre Heimat gegen den IS verteidigen. Später und besonders in der Oktoberrevolution 2019 wurde die Hashd Al-Shaabi für ihre Korruption, sektiererische Haltung und Loyalität zum iranischen Regime heftig kritisiert. Dabei ist die Hashd Al-Shaabi heute formell der irakischen Regierung unterstellt: Sie bekommen ihre Gehälter aus dem irakischen Staatshaushalt. Ihre politische Loyalität gilt allerdings weiterhin dem Iran.

Die Familie von Ihab al-Wazni hat Qasim Muslih, ein Führer der Hashd al-Shaabi in der Region Anbar beschuldigt, Ihab umgebracht zu haben. Obwohl Premierminister Al-Kathemi bei anderen politischen Morden nicht viel unternommen hat, entschied er in diesem Fall, Qasim Muslih zu verhaften. Dies mag aus politischer Rivalität erfolgt sein oder um die Protestbewegung für sich zu vereinnahmen. Doch auch unter Al-Kathemi haben die sogenannten Aufstandsbekämpfungskräfte verschiedene Proteste unterdrückt.

Unterstützung bei der Verhaftung von Qasim Muslih kam vonseiten der USA. Deshalb sind die Kräfte der Hashd al-Shaabi mit bewaffneten Militärfahrzeugen in die ‚Green Zone‘ in Bagdad einmarschiert. Erst nach Warnung der USA, sie anzugreifen, haben sich die Hashd al-Shaabi zurückgezogen. Am folgenden Tag hat dann das irakische Militär unter al-Kathemi mit Panzern die zentralen Plätze Bagdads besetzt. Diese Machtdemonstration ist wahrscheinlich ein Mittel, die Hashd al-Shaabi unter Kontrolle zu halten, wobei eine direkte Konfrontationen auch eine Konfrontation mit dem Iran bedeuten würde, die zur Zeit nicht eingegangen wird.

Es ist dieses politisch und militärisch angespannte Klima, in dem sich Aktivist:innen im Irak bewegen und gegen das sie ankämpfen. Dabei bringen die anstehenden Wahlen nur noch mehr Spannungen und Rivalitäten zwischen den Parteien und ihnen zugehörigen Milizen als ohnehin. Bei Wahlen im Irak ging es fast nie um eine demokratische Repräsentation von Iraker:innen. Dies ist auch ein Grund, warum viele Organisationen und auch politische Parteien, die aus der Oktoberrevolution entstanden sind, zum Boykott der Wahlen aufgerufen haben. Für die Anhänger:innen der Oktoberrevolution ist klar, dass es bei den Wahlen letztlich nur um eine weitere Aufteilung von Ressourcen und Gebieten zwischen Parteien und Milizen geht. Die sogenannte „Unabhängige Hohe Wahlkommission“ wurde nach der US-Invasion 2004 auf Basis von politischem Sektierertum aufgebaut und repräsentiert heute die Vertreter der herrschenden Parteien. Das Vertrauen in faire Wahlen ist gering, wenn man die Intransparenz und Wahlfälschung früherer Wahlen in Betracht zieht.

Der Kampf um Rechenschaft

Das politische System des Irak ist nicht darauf aus, die politische Freiheit seiner Bürger:innen zu schützen. Es kann nur, wie in der Oktoberrevolution gefordert, die Abschaffung des gesamten Post-US-Invasionssystems sein, die eine Verbesserung der Verhältnisse mit sich bringt. Bis dahin ist es an den Aktivist:innen, sich selbst zu schützen. Zivile Aktivst:innen haben sie sich seit der Oktoberrevolution in verschiedenen Netzwerken und politischen Parteien organisiert, doch ist es ihnen fast unmöglich, sich gegen militärisch gut ausgerüstete Milizen zu schützen. So bleiben nur der Protest und die soziale Bewegung, mit denen die Menschen sich der tödlichen Gewalt widersetzen. Ein Aktivist der Bagdader Gruppe Workers Against Sectarianism (WAS) erklärt im Interview: „Unser Protest ist auch eine Warnung an das gesamte System, dass wir bereit sind, die Oktoberrevolution fortzuführen. Keines der ursprünglichen Probleme ist gelöst. Es gibt immer noch kein sauberes Wasser, keine Elektrizität, Müll auf den Straßen, keine Arbeit für uns und Milizen, die frei und unter Straflosigkeit unsere Aktivist:innen umbringen. Wir leben bis heute ein vergiftetes Leben.“

Etwa 30.000 Menschen demonstrierten am 25. Mai 2021 schließlich in Bagdad, darunter auch viele Aktivist:innen aus dem Südirak. In Reden wurde versprochen, im Oktober 2021 die Revolution fortsetzen zu wollen, Bilder der Märtyrer der Revolution wurden hochgehalten, internationale Solidarität und Unterstützung gefordert. Doch auch an diesem Tag schlugen die Aufstandsbekämpfungseinheiten zu, wobei Aktivist:innen zufolge 10 Menschen getötet und 46 verletzt wurden.

Während die anhaltenden Proteste aus dem Bedürfnis der Menschen gespeist werden, ein würdevolles Leben in Sicherheit führen zu können, versuchen verschiedene Seiten, die Proteste entsprechend ihrer eigenen Interessen zu vereinnahmen: Insbesondere die USA, aber auch pro-iranische Milizen, wie zum Beispiel die Sadr-Bewegung, führen einen gewaltvollen Machtkampf auf irakischem Boden. Während Muqtada al-Sadr schon 2019 versucht hatte, die Oktoberrevolution für sich zu vereinnahmen und zu kontrollieren, gibt es auch von Seiten der USA verschiedene Statements, die ihre Unterstützung für die Forderungen der Revolution deutlich machen. So drückt die US-Botschaft in Bagdad auf ihrer Facebook-Seite ihr Mitgefühl für die Familie von Ihab al-Wazni aus und erklärt, auf Seiten derer zu stehen, die für einen friedlichen und erfolgreichen Irak streiten. In den Augen vieler revolutionärer Kräfte schadet diese Positionierung jedoch den Zielen der Menschen, da sie pro-iranischen Milizen die Grundlage dafür bietet, Aktivist:innen als sogenannte „Söhne der Botschaft“ zu beschuldigen, das heißt für die USA zu arbeiten. Und diese Anschuldigungen können tödlich sein.

Schluwa Sama

Schluwa Sama ist Autorin und schreibt aus Bagdad und Erbil vor allem zu den Protestbewegungen und den ökonomischen Verhältnissen im Irak und Kurdistan. Sie hat vor kurzem an der University of Exeter ihre Promotion zur politischen Ökonomie des Irak mit einem Fokus auf das Alltagsleben von Bäuer:innen abgeschlossen.

Veröffentlicht am 07. Juni 2021

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