Ringvorlesung

Die Erschütterungen erkundet

Rückblick auf "Turbulente Psyche(n) – Affekte und Kämpfe in der Pandemie".

Von Julia Manek

und Usche Merk

Kurz vor der Auftaktveranstaltung schickte Rita Segato eine Mail. Die feministische Intellektuelle schrieb, dass sie ihren Beitrag für den allerersten Termin der Turbulenten Psyche[n] leider verschieben müsse. Denn: „Ich muss in die USA, darf aber nicht einreisen, weil ich in Argentinien mit dem Impfstoff Sputnik geimpft wurde. Daher muss ich jetzt schnell für eine Impfung mit Johnson & Johnson nach Brasilien fliegen. Eine Umarmung.“ So geriet die Ringvorlesung durch Corona selbst in Turbulenzen: Der Name wurde in mehrfacher Hinsicht zum Programm.

Im Fokus der von medico mit dem Institut für Sozialforschung und dem Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt organisierten Reihe standen die psychosozialen Dimensionen und affektiven „Nebenwirkungen“ der Pandemie im Politischen – von Ängsten und Ohnmachtsgefühlen über Trauer und Depression bis zu Wut und Sehnsucht. Inwiefern wurden Affekte zu Katalysatoren politischer Debatten und Bewegungen und umgekehrt? Erkundet wurden diese politischen Affekte von Oktober 2021 bis Februar 2022 von elf Referentinnen und einem Referenten. Inmitten der von vielen empfunden Enge oder Einsamkeit, ob der Lockdowns und des Gebots der sozialen Distanzierung entstanden über sechs Kontinente hinweg Räume des gemeinsamen Nachdenkens zwischen den Referent:innen und den über tausend angemeldeten Teilnehmenden. Während der Verzicht der physischen Nähe und damit einhergehend die Digitalität der Reihe bedauerlich erschien, unterstrich Koketso Moeti aus Südafrika, dass das Sein in der heutigen Welt sowieso davon geprägt sei, dass „online“ und „offline“ untrennbar miteinander verwoben seien.

Da aber die digitale Sphäre von rassistischen Algorithmen durchzogen und dadurch keinesfalls „neutral“ oder gar per se emanzipatorisch ist, betonte Tobias Matzner die Wichtigkeit, für alternative Plattformen zu kämpfen. In der Pandemie mehr denn je. Djamila Ribeiro bekräftigte dies: In Brasilien sei der – wie sie überraschend deutlich machte, im offiziellen staatlichen Narrativ gar nicht existierende – Rassismus massiv durch soziale Netzwerke geschürt worden. Doch gerade in der Pandemie haben sich dort progressive soziale Bewegungen vor allem an einem Ort organisiert: online. So entstand auch mit der Ringvorlesung ein virtueller Raum mit spürbaren Auswirkungen: Viele Zuschauer:innen und Referent:innen berichteten von Momenten des emotionalen Berührtseins und der Hoffnung.

Doch zunächst erschien Hoffnung unerreichbar, angesichts der Verschärfungen der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der [Poly-]Pandemie, insbesondere an den Orten, die gemeinhin als „Globaler Süden“ bezeichnet werden. Rita Segato sprach im Interview sogar von der „apokalyptischen“ Phase des Kapitals, das sich in der Aneignung des gesamten Lebens als bloße Sache ausdrückt. Einfach nur über „Ungleichheit“ zu sprechen, reiche nun nicht mehr aus: wenn es keine wirklichen Regulationsmechanismen mehr gebe, die die Eigentümer kontrollieren und einhegen könnten, weil sie Macht, Kapital und Boden in extremer Weise angehäuft haben.

Mpumi Zondi aus Südafrika machte deutlich, dass die Erfahrungen der Pandemie auf engste mit struktureller und patriarchaler Gewalt verschränkt sind: Andere Krisen und psychische Zumutungen verschärfen sich dadurch dramatisch, insbesondere für arme, Schwarze Frauen. Für das bloße Auge unsichtbar bleibt nicht nur häusliche Gewalt, sondern auch der Zwang, Kredite aufnehmen zu müssen, bspw. für Grundnahrungsmittel – und was es bedeutet, verschuldet zu sein. Die Soziologin Vanessa Thompson verband die Verunmöglichung des Atmens durch das Virus mit rassistischer (Polizei-)Gewalt und letztendlich auch kolonialer Ausbeutung: hier wie da drohen sie das Atmen zu verunmöglichen und die Lebensgrundlagen zu zerstören. Angesichts des Angriffs auf (nicht bloß das gute, sondern gar das bloße) Leben und das gezielte Töten von rassifizierten und feminisierten Körpern kann bereits der Kampf ums alltägliche Überleben eine Form des Widerstands darstellen. Derartige Gewalt und Zerstörung machen Angst. Doch sie vermögen die Wut über diese Zurichtungen und das gemeinsame Aufbegehren nicht zu unterdrücken.

Ähnlich wie der Widerstand der Black Lives Matter-Bewegung gegen rassistische Morde von Trauer und Wut begleitet wird, sind auch die anti-patriarchalen Massenproteste #NiUnaMenos von ihnen getragen. Elsa Dorlin expliziert dieAusbeutung von Körpern und Natur als patriarchalen Terrorismus, gegen den es keine andere Wahl gebe als Selbstverteidigung. Dabei meint die feministische Selbst-Verteidigung ein Selbst, das über das „Ich“ hinausreicht und ein kollektives „Wir“ anvisiert. Klar ist, wie Verónica Gago beschreibt, dass Selbstverteidigung kollektiv und solidarisch geschehen muss: „Mich schützen meine Freund:innen, nicht die Polizei. Uns geht es darum, die Ressourcen des Lebens – Natur, Körper, solidarische, fürsorgliche Beziehungen wider die Vulnerabilität des (würdigen) Lebens – zu verteidigen.“

Während nun also optimistische Perspektiven Fürsorge als zentrales Element sozialer Veränderung benannten, merkte Julia Dück kritisch an, dass „Care“ nicht per se widerständig sei: rationalisiert und maximal ausgebeutet sind die medizinische Pflegearbeit und unbezahlte Reproduktions- und Sorgearbeit der Kitt, der die Welt und das System der Ausbeutung und Ungleichheit vor dem Auseinanderbrechen bewahrt. Dennoch: Die Verhältnisse bringen auch selbst den Widerstand gegen sie hervor. Gegen die Ausbeutung und aus Solidarität und Sorge für- und umeinander können in der Sehnsucht nach einer anderen Welt auch Funken der Hoffnung Aufstände entfachen. Das zeigte NadiaMahmood die der massiven Repression gegen die revolutionäre Frauenbewegung im Irak solidarische Beziehungen entgegengesetzt. Die Perspektive der Selbstverteidigung muss einen langen Atem haben. Clemencia Correa ergänzte einen kämpferischen Ausblick: „Die Pandemie wird irgendwann vorbei sein. Die Gewalt wird weitergehen.“

Durch die Sitzungen hindurch zog sich die Frage nach einem „wir“: Gibt es trotz der unterschiedlichen Erfahrungen eine Art von gemeinsamer Subjektivität, geteilter Erfahrung und Sehnsucht durch die Pandemie? Und wie können widerständige Räume der Empathie und Solidarität entstehen? Es gehe darum, aus den Zwischenräumen heraus andere andere Beziehungsweisen zu entwickeln, sagte die Philosophin Eva von Redecker,die die Grundlage sind/sein können, um eine „Revolution für das Leben“ aus verschiedenen Orten und Perspektiven zu erkämpfen.

Hoffnung blieb rar. Doch angesichts der Epochenbrüche durch Pandemie und Krieg artikulierte sich der Wunsch, sich zu verbinden – das transnationale Gespräch über alle Ungleichheiten hinweg fortzusetzen; und der gemeinsamen Sehnsucht nach einer solidarischen und lebenswerten Welt zu folgen. Die Suche danach und der Kampf um sie gehen weiter.

Die Ringvorlesung Turbulente Psyche(n) erkundet globale Affektpolitiken und psychosoziale Kämpfe um Gesundheit und Gerechtigkeit in pandemischen Zeiten. Die Veranstaltungsreihe wagt einen globalen Blick auf neue Subjektivierungen. Sie fragt danach, was die Pandemie mit „uns“ gemacht. Gleichzeitig geht es um die Differenzierung eben jenes „wir“ und dessen extrem unterschiedlichen Formen von Subjektivierung. Wer werden „wir“ geworden sein?

Veröffentlicht am 29. März 2022

Julia Manek

Julia Manek ist Psychologin und Humangeographin. In der Öffentlichkeitsarbeit von medico international ist sie als Referentin für psychosoziale Arbeit tätig.


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