Der rettende Anker

Das Frauenzentrum KHANZAD in Sulaimania, Kurdistan-Irak

Über den deutschen Projektträger Haukari e.V. unterstützt medico international die Arbeit von Khanzad im Norden des Irak. Mittelpunkt der Aktivitäten von KHANZAD ist das 1996 als Begegnungs- und Bildungsstätte gegründete soziale und kulturelle Frauenzentrum in Sulaimania. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist die Beratung vor allem von Frauen und Jugendlichen in Krisen-und Gewaltsituationen, sowie gegenüber häuslicher Gewalt und Praktiken der Genitalverstümmelung. Ein weiterer Arbeitsbereich ist die Versorgung und psychosoziale Betreuung von inhaftierten Jugendlichen, Fortbildungen des Gefängnispersonals im Umgang mit Konflikten und Depression unter den Jugendlichen sowie die Arbeit mit den Angehörigen der Inhaftierten. Darüber hinaus macht KHANZAD Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit zur Situation von Frauen und den Umgang mit Gewalt.

Kurdistan-Irak gilt heute als Zone der Sicherheit und Demokratie in einem von Gewalt zerrissenen Irak. Seit 2005 ist die Region qua Verfassung ein Bundesland mit weitgehender Autonomie in einem föderalen Irak. Die Sicherheitslage und die Verwaltungs- und Polizeistrukturen sind stabil, für ihre Infrastruktur-, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen erhält die kurdische Regionalregierung ausreichend Geld aus dem irakischen Staatshaushalt. Internationale Firmen fördern Öl und ein ungehemmter Bauboom vor allem in den Großstädten zeugt vom wirtschaftlichen Aufschwung. Die Zeiten, in denen medico international hier Nothilfe- und Wiederaufbauprojekte förderte, sind Vergangenheit.

Neue Spielräume für die Zivilgesellschaft

Auch innenpolitisch herrscht Aufbruchsstimmung. Hatten sich die Demokratische Partei Kurdistan (DPK) und die Patriotische Union Kurdistan (PUK) seit 1992 unumstritten die politische Macht geteilt, holte die von ehemaligen PUK-Funktionären neu gegründete Oppositionsbewegung Goran (kurdisch: Wandel) bei den letzten Regionalwahlen auf Anhieb 25% der Stimmen. Mit massiver Kritik an Korruption und Klientelwirtschaft und Forderungen nach Transparenz politischer und ökonomischer Entscheidungen bildet sie nun eine starke Opposition im kurdischen Parlament. Auch wenn Skepsis vorherrscht, ob die Goran-Führung, die selbst aus dem alten Machtapparat kommt, wirklich Neues entwickelt, hat das Auftreten dieser dritten Kraft lange stagnierende Debatten um Reformen und Demokratisierung der kurdischen Gesellschaft wiederbelebt. Das eröffne auch der Zivilgesellschaft neue Spielräume zur Durchsetzung von Reformen und Frauenrechten, sagen die Mitarbeiterinnen des Frauenzentrums KHANZAD in Sulaimania, einem der Projektpartner von medico.

Intervention bei Gewalt und Missbrauch

Das Frauenzentrum KHANZAD arbeitet vor allem mit Frauen in Krisen- und Gewaltsituationen und wird seit der Gründung 1996 von dem deutschen Verein HAUKARI e.V. gefördert, mit dem medico international eine lange Kooperation verbindet. Ende der 1990er Jahre war KHANZAD maßgeblich an der öffentlichen Thematisierung der bis dahin tabuisierten familiären Gewalt gegen Frauen und der Gründung erster Zufluchtshäuser beteiligt. Seither konnten unter anderem die Abschaffung der Strafmilderung bei „Mord aus Gründen der Ehre“ und die Besserstellung von Frauen im Scheidungs-, Sorge- und Erbrecht durchgesetzt werden. Heute arbeiten Polizei und Regierung bei der Verfolgung von Ehrenmord und Gewalt gegen Frauen mit Frauenprojekten zusammen. Nach wie vor aber sind die familiären und sozialen Strukturen traditionell geprägt und Frauen den Männern ihrer Familie untergeordnet. Für all jene, die aus familiären Gewaltverhältnissen ausbrechen wollen, gibt es keine sozial akzeptierten Alternativen. Gerade in ländlichen Regionen sind Zwangsverheiratung, die Bestrafung und Ermordung von Frauen durch Familien bei Entdeckung von außer- oder vorehelichen Beziehungen, aber auch Genitalverstümmelung an Mädchen verbreitet. Noch immer fliehen zahlreiche Frauen in den Selbstmord.

Sozialarbeit im Gefängnis

KHANZAD kümmert sich seit 1999 auch um Frauen, die unter dem Vorwurf des Ehebruchs oder der Prostitution in den Straf- und Untersuchungsgefängnissen von Sulaimania einsitzen. Von ihren Familien verstoßen oder bedroht, landen die Betroffenen nach ihrer Entlassung schnell wieder in der Prostitution, sind dann erneut von Verhaftung bedroht. Die Kolleginnen betreuen die Frauen deshalb auch nach ihrer Freilassung, versuchen mit ihnen und ihren Familien Perspektiven zu erarbeiten. Mit der Hilfe medicos konnten sie ihre Arbeit 2006 auf das Jugenduntersuchungsgefängnis von Sulaimania ausdehnen und betreuen dort mittlerweile während und nach der Haftzeit ca. 500 Kinder und Jugendliche. Zunächst kümmerten sie sich vor allem um Mädchen, deckten sexuelle Übergriffe durch Wachpersonal und Mitgefangene auf und erreichten die Verlegung der Mädchen in ein anderes Gebäude. Inzwischen arbeiten sie auch mit inhaftierten Jungen zwischen 6 und 18 Jahren, von denen die meisten wegen Diebstahl, Körperverletzung, „Bettelei“, manche auch wegen Mord verhaftet wurden. Oft wurden die Jungen zuvor von ihren Familien verstoßen oder mussten vor Gewalt und Missbrauch fliehen. Staatliche Kinder- und Jugendheime nehmen sie nicht auf, weil sie bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. KHANZAD organisiert Freizeit- und Bildungsangebote im Gefängnis, sorgt für rechtlichen und psychologischen Beistand, besucht ihre Angehörigen und kümmert sich nach der Entlassung um Unterbringungsmöglichkeiten.

Obdach für die Verstoßenen

„Für die einzelnen Jugendlichen sind wir oft der rettende Anker“ sagt eine KHANZAD-Mitarbeiterin, „aber eigentlich übernehmen wir so Aufgaben der Regierung.“ Mit der Betreuungsarbeit haben sie Verbesserungen der Haftbedingungen und die Einstellung von weiblichem Wachpersonal und Sozialarbeiterinnen erreicht. Heute engagiert sich KHANZAD vor allem für die Einrichtung von Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten für Frauen und Jugendliche, die aus ihren Familien verstoßen werden oder ausbrechen. „Mangels Alternativen geht es dabei meist um eine Lösung in und mit der Familie. Uns bedrückt, dass wir durch unsere Präsenz zwar oft Ehrenmorde verhindern, die Frauen und Jugendlichen in der Familie aber auf andere Weise leiden müssen.“ 2006 veröffentlichte KHANZAD das Buch „Ocean of Crimes“, eine auf der Arbeit im Gefängnis basierende Studie zu Hintergründen, Strukturen und Nutznießern der Prostitution in Kurdistan. Bei der Regionalregierung wurde ein Vorschlag zur Einrichtung eines Zentrums eingereicht, in dem der Prostitution und des Ehebruchs angeklagte Frauen soziale Beratung und eine Berufsausbildung erhalten und bei der gesellschaftlichen Reintegration unterstützt werden sollen. So könnten staatliche Angebote und zivilgesellschaftliche Frauengruppen zusammenwirken. Das Buch erhielt 2006 den Frauenrechtspreis der Kurdischen Regionalregierung. Die konkrete Umsetzung des sozialen Zentrums steht noch aus.

Schutzräume für Frauen und Kinder

Für von Gewalt oder Ehrenmorden bedrohte Frauen gibt es in Kurdistan mittlerweile drei staatliche Zufluchtshäuser, in denen jährlich etwa 150 Frauen mit ihren Kindern leben. Einige bleiben nur vorübergehend, andere leben hier teilweise jahrelang. Doch auch die Verhältnisse in den Zufluchtshäusern bleiben kompliziert. Die gesellschaftliche Marginalisierung und Diskriminierung von Frauen trägt sich auch in ihren Strukturen fort, und der Mangel an Alternativen führt zu einer Situation, in der die ‚Hilfe‘ für betroffene Frauen eher einer ‚Verwahrung‘ gleichkommt. KHANZAD engagiert sich im Ausbau und der Verbesserung von Schutzmaßnahmen für verfolgte Frauen und arbeitet intensiv mit den staatlichen Stellen zusammen. Da die staatlichen Zufluchtshäuser schlecht ausgestattet und das Personal zum Teil unzureichend qualifiziert ist, unterstützt KHANZAD durch Renovierungsmaßnahmen und Weiterbildungsangebote, sowie durch Kooperation und Supervision die Verbesserung der Situation in den Zufluchtshäusern und der Lebenssituation der Frauen und Kinder. Die Frauenzufluchtshäuser sollen finanziell und personell besser ausgestattet werden, um den bestehenden Zuständen von fehlenden Perspektiven, räumlicher Enge, Bewegungsmangel und unzureichender Beratung und Betreuung entgegenzuwirken. KHANZAD fördert dabei die Weiterbildung und Einstellung von Personal, und bietet selbst auch psychosoziale Beratung und Familienarbeit an. Durch das Angebot von Freizeitaktivitäten oder auch Alphabetisierungs- und Nähkursen haben die Frauen die Möglichkeit, eigene Perspektiven zu entwickeln. In den Auseinandersetzungen mit ihrer Lebenssituation können die Frauen auch auf Mediationsverfahren und rechtliche Beratungsangebote zurückgreifen. Darüber hinaus macht KHANZAD auch durch Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit auf die Situation der Frauen und in den Zufluchtshäusern aufmerksam, und sucht die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen weiter zu entwickeln und zu intensivieren. Medico unterstützt dieses Engagement.

Projektstichwort

Die Arbeit unseres kurdischen Projektpartners KHANZAD und des Vereins Haukari unterstützen wir jährlich mit rund 15.000 €. Dies wollen wir auch zukünftig fortsetzen. Bitte spenden Sie unter dem Stichwort: Kurdistan.

Veröffentlicht am 20. April 2014

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