Soziale Kämpfe in Südafrika

Das Aufbegehren der nächsten Generation

Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid sind die Versprechen auf Gleichheit und Gerechtigkeit nicht eingelöst. Auch die Community Health Worker kämpfen um Anerkennung und für würdige Arbeitsbedingungen. Von Usche Merk

Manchmal braucht es eine neue Generation, die den Finger in die Wunden der Vergangenheit und der ungelösten Fragen der Gegenwart legt. In Südafrika ist es die Studierendenbewegung, die das Post-Apartheid- Narrativ der Regenbogennation massiv in Frage stellt. Auf vielfache Weise ist sie damit konfrontiert, dass die rassistische, koloniale Vergangenheit in den Köpfen und Strukturen der Gesellschaft fortlebt. Verantwortliche für Menschenrechtsverbrechen sind kaum zur Rechenschaft gezogen worden und Apartheidopfer kämpfen noch immer um Entschädigung, Aufklärung über Verschwundene und eine Strafverfolgung, die ihren Namen verdient. Auch die ökonomische und gesellschaftliche Ungleichheit entlang der alten rassistischen Kategorien hat sich mit der aggressiven neoliberalen Wirtschaftspolitik eher noch verschärft als verringert. Die Profiteure von gestern sind weitgehend auch die Profiteure von heute. Die Hoffnung, mit der ehemaligen Befreiungsbewegung African National Congress (ANC) an der Macht werde sich die Gesellschaft langsam zum Besseren entwickeln, hat sich als Trugschluss erwiesen.

Es ist also kein Zufall, dass die junge Generation in ihrer Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation den Blick auf die historischen Wurzeln richtet: auf die koloniale Landnahme, die kulturelle Demütigung und Entwürdigung durch den Rassismus, auf Kolonisierung, Sklaverei und Apartheid. Die Geschichte Südafrikas ist auch eine Geschichte der Forderungen nach einem Bruch mit Gewalt und Unterdrückung sowie der Kämpfe für eine andere Zukunft. Hieran knüpft die junge Generation an, indem sie die alten Sehnsüchte nach würdigen Lebensverhältnissen mit neuem Leben füllt. So legt der ANC zwar große staatliche Sozialhilfeprogramme für fast 17 Millionen Empfängerinnen und Empfänger auf. Das hält die Menschen am Leben, beseitigt aber nicht die strukturellen Ursachen von Armut. Arbeitslosigkeit und Armut sind lediglich weniger sichtbar. Die „Born Free“ – die junge Generation, die nach dem Ende der Apartheid geboren wurde – erlebt dies als entwürdigend und lähmend, zumal die Zahlungen weit unter dem Existenzminimum bleiben. Auch die vielen prekären Arbeitsverhältnisse sehen sie nicht als ökonomische „Entwicklung“, sondern als Zementierung ungerechter Arbeitsstrukturen. „Diese Ausbeutung unserer Eltern können wir nicht mehr zulassen.”

Mit dieser Aussage solidarisieren sich Studierende mit den Arbeiterinnen und Arbeitern an den Universitäten – Putzleute, Gärtnerinnen, Fahrer, Aufsichtspersonal oder Hausmeister – , die gegen ihre Prekarisierung protestieren und ordentliche Arbeitsverträge als Festangestellte forderten. Dabei verknüpften sie die Kämpfe für kostenlose und dekolonisierte Bildung mit der Forderung nach einem Ende des Outsourcing. Tatsächlich hängt beides zusammen: Mit der Kürzung öffentlicher Zuschüsse und der zunehmenden privatwirtschaftlichen Finanzierung von Universitäten folgte nicht nur eine Erhöhung der Studiengebühren, sondern auch das neoliberale Outsourcing von Dienstleistungen, um Kosten zu reduzieren. Die Folge: Arme Familien wurden noch ärmer. Durch die Solidarität der Studierenden geriet die Situation von prekären Arbeitskräften, die sich isoliert und rechtlos erlebten, viel stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und ermutigte andere Betroffene, sich zusammenzuschließen und bessere Arbeitsbedingungen zu fordern. Es öffnete den politischen Raum zur Kritik an einer staatlichen Praxis, die öffentliche Dienste privatwirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren überlässt, ohne sich um die Qualität der Dienstleistungen und die Situation der Arbeitskräfte zu kümmern.

Gesundheitsarbeiterinnen gegen Prekarisierung

Eine zentrale Gruppe dabei sind die Community Health Worker (CHW), deren Selbstorganisationsprozess medico seit 2014 unterstützt. Anfang der 2000er Jahre wurde Südafrika von einer riesigen HIV-Krise überrollt. Erst durch jahrelange Kämpfe der HIV-Betroffenen wurde der flächendeckende Zugang zu antiretroviralen Medikamenten erreicht, und über externe globale Finanzierungsprogramme wie den Global Fund wurden Zehntausende von Gesundheitsarbeiterinnen beschäftigt, um die Krise aufzufangen. Sie sind die Verbindung zwischen Patientinnen und Patienten in den Gemeinden und dem formalen Gesundheitssystem, sie kümmern sich um AIDS-Beratung, Medikamentenüberwachung, Prävention und Pflege, auch über HIV und Aids hinaus. Südafrika wird für das weltweit größte antiretrovirale Programm gefeiert, das die Aids bezogene Todesrate massiv gesenkt hat. Ohne die Arbeit der rund 70.000 Community Health Worker, die meisten von ihnen Frauen, wäre das nicht möglich gewesen. Anerkannt wird all das allerdings nicht, im Gegenteil. Obwohl sie fünf Tage die Woche arbeiten und von Haus zu Haus gehen, gelten sie als „Freiwillige“, die nur Kurzzeitverträge mit einer extrem niedrigen Aufwandsentschädigung bekommen, die weit unter dem Mindestlohn liegt. Obwohl sie die Basis des Gesundheitssystems bilden, sind sie entgegen aller Lippenbekenntnisse und Reformvorschläge arbeitsrechtlich noch immer nicht in das System integriert. Eine Studie der Wochenzeitung Mail&Guardian befand 2016, dass die Gesundheitsarbeiterinnen in den Gemeinden die am niedrigsten bezahlten Arbeiterinnen in Südafrika sind und „das Gesundheitssystem durch ihre niedrigen oder ausbleibenden Gehälter subventionieren“.
 

Der fragile Status der Community Health Worker ist auch mitverantwortlich dafür, dass das Fachpersonal in Kliniken ihre Arbeit oft nicht anerkennt und sie zugleich mit den überwältigenden Herausforderungen in den armen Gemeinden alleine lässt. Zu Beginn des medico Projekts waren viele der Frauen verzweifelt und frustriert über die Unwürdigkeit ihrer Situation, wussten aber nicht, was sie dagegen tun konnten. Sie hatten Angst, schikaniert zu werden, wenn sie als Einzelne die Zustände öffentlich ansprechen. Nach und nach aber tauschten sie sich über ihre Erfahrungen aus. Sie sahen, dass sie sich zusammenschließen müssen, um gemeinsam ihre Situation zu verbessern. Durch ein Netzwerk von sechs solidarischen südafrikanischen NGOs, das medico fördert, werden die Arbeiterinnen in verschiedenen Provinzen mit logistischer Hilfe, Finanzierung, organisatorischer und politischer Bildung und Beratung unterstützt. Im Zuge der Netzwerkarbeit entstanden ganz neue Dynamiken. 2017 mündeten diese in einer Region in den Aufbau einer eigenen Organisation, dem Gauteng Community Health Workers Forum, das inzwischen 1.750 Arbeiterinnen repräsentiert, die zu 105 Kliniken gehören. In einem sehr demokratischen, partizipatorischen Prozess wählten die Frauen eine Führungsstruktur und zwei Organisatorinnen. Sie eröffneten ein Büro, etablierten eine WhatsApp-Gruppe sowie eine Facebook-Seite und produzierten regelmäßige Newsletter mit eigenen Texten. Sie sind sich jedoch sehr bewusst darüber, dass sie keine Machtstrukturen innerhalb der Organisation entwickeln wollen. „Wir wollen keine Eliten schaffen“, sagt Zoleka Mbotshelwa, die Vorsitzende des Forums. „Alles muss an die Mitglieder zurückberichtet werden.”

Landesweit vernetzt

Ähnliche Foren haben sich auch in anderen Provinzen entwickelt und langsam vernetzen sie sich auf nationaler Ebene. Durch ihre Diskussionen haben sie ein gemeinsames Kampagnenziel formuliert: : „Wir wollen in das öffentliche Gesundheitssystem als Festangestellte im Rahmen des Mindestlohns integriert werden.“ In ihren Kampagnen nutzen sie die verschiedenen Ebenen: rechtliche Schritte, um ihren Status als „Freiwillige“ in Frage zu stellen, organisationspolitische Fortbildungsworkshops mit neuen Kolleginnen, Protestaktionen und Demonstrationen auf der Straße. Ein erster Erfolg war das Urteil des Gauteng Arbeitsgerichts, dass Community Health Worker nicht länger als „Freiwillige“ gelten, sondern als Arbeitnehmerinnen eingestuft werden müssten. Das Gesundheitsministerium reagierte prompt und wies das Urteil unter Verweis auf die steigenden Kosten zurück. Mehr noch: Nach dem Urteil versuchte die Regierung, die Arbeiterinnen in eine private Outsourcing Agentur zu zwingen. Viele weigerten sich jedoch. Das Gauteng CHW Forum ist sich bewusst, dass der Weg bis zur ernsthaften Anerkennung ihrer Arbeit noch weit ist: „Unsere Solidarität wird uns weitertragen, wir müssen stark sein und zusammenhalten”, sagt Zoleka.

Als der Organisationsprozess anfing, äußerten manche aus dem Gesundheitssektor Bedenken, dass die Gemeindegesundheitsarbeiterinnen ihre fürsorgliche Perspektive in den Gemeinden verlieren könnten, indem sie sich auf ihre eigenen Interessen fokussieren. Eine partizipative Untersuchung 2017 zeigte, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Sorge der Arbeiterinnen für das Wohlbefinden ihrer Patientinnen, Patienten und Gemeinden hat sich noch erhöht. Und ihre Forderungen sind nicht nur auf sie selbst bezogen. Neben würdigen Arbeitsbedingungen wollen sie auch eine würdige, qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung für ihre Gemeinden. So schließt sich der Kreis, der die Kämpfe der CHW, der Gemeinden und der Studierenden verbindet: Es geht um die Vision eines anderen Südafrikas, das im Bewusstsein der historischen Gewaltgeschichte und der vielen opferreichen Kämpfe der vorangegangenen Generationen an der Verwirklichung der Idee einer gerechten, nicht-rassistischen und menschenwürdigen Gesellschaft festhält.

Veröffentlicht am 22. Mai 2018

Jetzt spenden!