Haiti in der Dauerkrise

Wenn keiner hinschaut

Ein Präsidentenmord, Gang-Gewalt, Naturkatastrophen, eine Grenzmauer: Ein Land wird seiner Zukunft beraubt. Hierzu tragen die internationalen Geberländer aktiv bei.

Von Katja Maurer

„Die Mehrheit der Menschen lebt dort, wohin wir nicht schauen wollen.“ Diesen Satz legt die Schriftstellerin Yanick Lahens dem französischen Journalisten Francis in ihrem Roman „Sanfte Debakel“ in den Mund, aus dem die weit über Haiti hinaus anerkannte Schriftstellerin im Oktober vergangenen Jahres in Frankfurt bei medico international gelesen hat. Sie selbst ist danach an einen solchen Ort zurückgekehrt. Damals zeichnete sich gerade ab, was die jüngste Eskalation des haitianischen Alltags bedeutet. Weite Teile von Port-au-Prince und Umgebung stehen unter der Kontrolle von Gangs, die vom wahllosen Kidnapping leben und sich im Kampf um Einflusszonen bekriegen. Um nicht in die Konfrontationen zu geraten, verlässt die Bevölkerung am Abend die Wohnungen nicht mehr. Wer fliehen kann, flieht. Manche vergleichen ihre Situation mit der der ukrainischen Bevölkerung.

Der mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 installierte Regierungschef Ariel Henry sagt dazu nichts. Der Publizist Robenson nennt das ein beredtes Schweigen: „Die Untätigkeit der Regierung ist eine deutliche Form, Position zu beziehen. Sie unterstützt die Gewalt der Gangs.“ Das Fernmanagement einer No-Go-Zone (Achille Mbembe), zu der die haitianischen Eliten und internationale Akteur:innen, allen voran die USA, Haiti gemacht haben, lässt sich hier genau studieren. Einziges Ziel ist, dass sich das haitianische Unglück nicht auf die Nachbarstaaten ausweitet. Ein kontinentweiter Konsens versucht, die Migration von Haitianer:innen zu unterbinden. Die gewalttätige „Rückführung“ von 17.000 Menschen binnen weniger Wochen aus den USA war die massivste Deportationsrate in der US-amerikanischen Einwanderungsgeschichte, wohlgemerkt unter einem demokratischen Präsidenten. Der begonnene Bau einer Mauer entlang der Landesgrenze zur Dominikanischen Republik ist die logische Konsequenz.

Die medico-Partnerorganisationen bewegen sich in diesem Umfeld mit Mut und Unverdrossenheit. Das Menschenrechtsnetzwerk RNDDH beispielsweise beharrt auf der vollständigen Aufklärung des Präsidentenmords und legt regelmäßig Berichte zum Stand der Ermittlungen vor. Der jüngste nennt alle Namen, deren Verwicklung durch Telefonate, Bankverbindungen und Treffen belegt sind, darunter der von Nachfolger Ariel Henry. Nach der Veröffentlichung nahmen ernst zu nehmende Todesdrohungen gegenüber Pierre Esperance, Direktor von RNDDH, weiter zu. Die Menschenrechtsorganisation gehört dem breiten zivilgesellschaftlichen Netzwerk an, das mit der Montana-Vereinbarung im August 2021 einen konsistenten Übergangsplan vorgelegt hat, um einen zweijährigen Transformationsprozess unter haitianischer Führung in die Wege zu leiten. Er sieht nicht nur Wahlen von Präsident, Parlament und Regierung vor, sondern auch einen Übergang zum Ende der Gewalt und zum Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen. Solche menschenrechtlichen Bedingungen sind in einer No-Go-Zone aber nicht vorgesehen. Die US-Regierung und die internationale Core Group haben bisher alle Vorschläge der Montana-Vereinbarung abgelehnt.

Dieser Beitrag ist Teil des medico-Jahresberichts 2021, den Sie hier online lesen und kostenlos bestellen können.

Veröffentlicht am 30. Mai 2022
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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