„Ist die PKK eine terroristische Organisation?“ wurde ich gestern in einer Radiosendung gefragt. „Kommt darauf an, welchen Standpunkt man einnimmt“, antwortete ich. „Ist man Jeside auf dem Shingal-Berg im Nordirak fällt die Antwort sicher anders aus, als sie der Westen oder die Türkei geben würde.“
Um zu verstehen, welche politische Dimension der aktuelle Feldzug der AKP-Regierung gegen die kurdische PKK hat, reicht es nicht aus, nur die türkische Innenpolitik zu betrachten. Es geht auch um die möglichen Konturen eines neuen Nahen Ostens.
Ein Putsch des ‚Palastes’ gegen die Prinzipien der Republik
Offensichtlich ist, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP mit allen Mitteln versuchen, die kurdische und linke Opposition im Land zu zerschlagen. Dabei operiert die Regierung zunehmend im rechtsfreien Raum, wie der Co-Vorsitzende der oppositionellen „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) Selahattin Demirtaş am Dienstag im Parlament erklärte: „Wir erleben einen Putsch des ‚Palastes’ gegen die Prinzipien der Republik und des Parlaments. Es gibt keine Regierungsmehrheit und der Präsident will mit einer Angst- und Kriegskampagne Neuwahlen erzwingen, um uns aus dem Parlament zu jagen.“
Demirtaş wies alle Drohungen seitens der AKP zurück und erklärte: „Wir haben keinerlei Verbrechen begangen, außer dass wir 13 Prozent bei den letzten Wahlen bekommen haben.“
Die Stimme der Ausgeschlossenen
Damit sprach Demirtaş eine politische Hoffnung an, die in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung weit über einen bloßen Machtkampf zwischen der AKP und der kurdischen Opposition hinausgeht. Denn der Wahlerfolg der HDP beruhte auf mehr als nur den Stimmen der kurdischen Minderheit im Land.
In einer Regenbogenkoalition hatten sich die Protestgeneration des Gezi-Parks, schwul-lesbische Aktivist_innen, Angehörige der armenischen und jesidischen Minderheiten, der Sinti und Roma, sowie ein signifikanter Anteil der post-kemalistischen urbanen Mittelklasse und die große Gruppe der kurdischen Bevölkerung zusammengeschlossen.
Sie alle vereint nicht nur die Ablehnung der zutiefst korrupten und antidemokratischen AKP-Alleinherrschaft, sondern vor allem der Wunsch nach Transformation der Türkei in eine Gesellschaft der Vielfalt, die die Freiheitsrechte und kulturellen Differenzen ihrer Bürger_innen respektiert und in einen neuen Gesellschaftsvertrag integriert.
Wahlkampf mit F-16-Bombern
Nicht die bewaffneten Angriffe der PKK, sondern das neue demokratische Projekt stellt die wirkliche Gefahr für Erdoğans frömmelnden Autoritarismus dar.
Daraus erklärt sich auch der entscheidende Zusatz, den Erdoğan auf seiner Pressekonferenz am Dienstag aussprach: Er drohte nicht nur HDP-Abgeordneten mit der Aufhebung ihrer Immunität, sondern auch allen anderen, die seinem Politikstil widersprechen – ob Journalist_innen, Intellektuelle oder Künstler_innen: „Machst du gemeinsame Sache mit einer Terrororganisation? Dann musst du dafür bezahlen.“
Erdoğan will die Demokratiefrage in der Türkei zu einer Frage des Terrorismus machen und führt schon jetzt einen Wahlkampf mit F-16-Bombern. Er will Neuwahlen, die Zweidrittelmehrheit und damit die Institutionalisierung einer präsidialen Allmacht, die letztlich auch die republikanischen Prinzipien des kemalistischen Erbes aushebeln kann.
Die Kinder des Gezi-Parks
Den ohnehin nur noch auf dem Papier bestehenden „Friedensprozess“ mit der PKK kündigte Erdoğan nicht erst gestern auf, sondern spätestens mit der verweigerten Anteilnahme für die 32 Opfer des Terroranschlages in Suruç vom 20. Juli. Fast die gesamte AKP-Führung spuckte den Opfern und ihren Angehörigen förmlich ins Gesicht, als sie ihnen jede öffentliche Anteilnahme, jede angemessene Würdigung und auch jeden politischen Respekt versagte.
Die Opfer von Suruç waren jung, mehrheitlich Studierende, sie waren Kurd_innen oder Alevit_innen und sie waren links – „die Kinder des Gezi-Parks“, wie eine Überlebende des Massakers sagte. Sie wollten im kurdischen Kobanê in Syrien helfen, einen Kinderpark bauen und einen Wald der Solidarität pflanzen.
Hier liegt die Scheidelinie zwischen dem neuen religiösen Autoritarismus und der Möglichkeit einer demokratischen Zukunft in der Türkei. Nicht zufällig ist diese Hoffnung mit dem Beispiel Kobanê verbunden, nicht zufällig ist diese Perspektive eine grenzüberschreitende.
Im Kampf gegen den „Islamischen Staat“
Der drohende Krieg gegen Kurdistan ist keine innenpolitische Frage der Türkei mehr. Ebenso wie auch die PKK weniger ein „Terrorproblem“ darstellt (wie immer noch viele auch im Westen meinen) sondern sie für viele die letzte Hoffnung ist in einem von ethnischen und religiösen Feindschaften zerklüfteten Irak und Syrien.
Es waren Kämpfer_innen der PKK, die im Spätsommer letzten Jahres zusammen mit YPG/YPJ-Einheiten die jesidische Volksgruppe im irakischen Shingal-Gebirge gegen die IS-Terrortruppen verteidigten. Sie tun das bis heute.
Zeitgleich mit der dritten Angriffswelle der türkischen Luftwaffe auf Camps der PKK entlang der türkisch-irakischen Grenze am letzten Wochenende befreiten PKK-Einheiten zusammen mit jesidischen Selbstverteidigungsgruppen die Kleinstadt Bara westlich vom Shingal-Gebirge aus den Händen des IS.
Gleiches passiert in Syrien: Zeitgleich mit dem Beschuss kurdischer YPG/YPJ-Einheiten und syrischer FSA-Gruppen durch die türkische Artillerie westlich von Kobanê gelang es beiden Gruppen mit US-amerikanischer Luftunterstützung, den IS aus der arabischen Kleinstadt Sarrin östlich des Euphrat in Zentralsyrien zu vertreiben.
Wer hat das Sagen im Nordirak und in Nordsyrien?
Das Herrschaftsmodell Erdoğan setzt nicht nur auf eine autoritäre Formierung der Türkei im Innern, sondern auch auf deren Ausweitung über die Staatsgrenzen hinaus: Die Bomben im Nordirak treffen die PKK, aber sie sollen auch dem mit der AKP liierten Masud Barzani – dem Präsident der kurdischen Autonomie im Nordirak – verdeutlichen, wer im Zweifelsfall das Sagen hat.
Die Türkei schafft lieber eine eigene „Sicherheitszone“ zwischen den kurdischen Kantonen Afrin und Kobanê bzw. Cizîrê auf syrischem Staatsgebiet, als dass sie kurdischen Kräften und mit ihnen verbündeten Einheiten einer tatsächlich „Freien Syrischen Armee“ (FSA) die Möglichkeit einräumt, das ca. 100 Kilometer breite Gebiet vom IS und anderen djihadistischen Gruppen zu befreien.
Ähnliches gilt für die USA: Bis auf weiteres erkennen sie die Rolle der YPG/YPJ im Kampf gegen den IS an. Inoffiziell sagen Vertreter der US-Administration auch, dass die Kooperation mit der YPG/YPJ im Kampf gegen den IS weitaus verlässlicher und effektiver ist, als dies mit den Peshmerga von Mesud Barzani der Fall sei. Letztere werden von der deutschen Bundesregierung bekanntlich mit Waffen ausgestattet.
Die Kurd_innen wollen keinen Staat
Gleichzeitig aber die PKK für die Türkei zum Abschuss freizugeben und lediglich als „Terrorproblem“ zu fassen, unterschätzt nicht nur das gegen den IS entstandene, grenzüberschreitende Zusammengehörigkeitsgefühl der KurdInnen. Auch das demokratische Potential, das eben mit der „kurdischen Frage“ in der Türkei, aber auch in Syrien und dem Irak verbunden ist, wird ausgeblendet. Die PKK ist bei all ihrer Widersprüchlichkeit aus diesem gesellschaftlichen Prozess nicht herauszulösen, vielmehr ist sie eine seiner treibenden Kräfte.
Längst hat die PKK, ähnlich wie die syrischen Kurd_innen, die postkolonialen Fragen staatlicher Souveränität und Unabhängigkeit hinter sich gelassen und orientiert in all ihren Stellungnahmen auf ein multireligiöses und multiethnisches Gemeinwesen in basisdemokratischer Selbstverwaltung – ausdrücklich innerhalb der bestehenden staatlichen Grenzen der Türkei, Syriens oder des Irak.
Demokratie ohne Grenzen
Im kurdischen Rojava in Syrien wird mit dieser gesellschaftlichen Idee unter den Bedingungen eines fortwährenden Angriffs und einer immer drohenden Gefahr bereits experimentiert: Eine Demokratie ohne Grenzen und gegen alle Grenzen. Angesichts des syrischen Bürgerkriegsschreckens scheint dies tatsächlich eine Option sein, um religiösen Fanatismus und zunehmende Ethnisierung überwinden zu können.
Es besteht Hoffnung
Trotzdem sieht Erdoğan in der Existenz Rojavas eine größere Gefahr für die Türkei als im „Islamischen Staat“. Dass die Demokratie in Rojava nicht ganz so staatszersetzend ist wie Erdoğan behauptet, belegt eine Umfrage von CNN-Türk von gestern. Eine überraschend klare Mehrheit der türkischen Bevölkerung und selbst mehrheitlich die AKP-Anhängerschaft zieht die Existenz des kurdischen Rojava einem radikalreligiösen IS-Kalifat auf der anderen Seite der Grenze deutlich vor.
Insoweit gibt es durchaus noch Hoffnung. Uns als sozialmedizinischer Hilfsorganisation bleibt ohnehin nur eine Möglichkeit: Helfen auf Seiten derer, die der Hilfe bedürfen; politische Unterstützung jener, die sich dem allgegenwärtigen Autoritarismus, der religiösen und ethnischen Spaltung widersetzen und für ein demokratischen Gemeinwesen einstehen. In der Türkei, im Irak, in Syrien. Der Zugang für humanitäre Hilfe nach Rojava über die türkische Grenze muss geöffnet werden. Es geht nicht um Grenzen, sondern um Rechte.