Ukraine

Trotzige Normalität

Im westukrainischen Transkarpatien haben Hunderttausende Menschen Zuflucht gefunden. Lokale Initiativen organisieren die Hilfe – auch für den umkämpften Osten des Landes.

Von Moritz Krawinkel

Wir erreichen die ukrainische Grenze an einem kleinen, verschlafenen Übergang im ländlichen Nordwesten Rumäniens. Erst auf der rumänischen, dann auf der ukrainischen Seite werden die Pässe eingesammelt, wir bekommen sie mit einem kleinen Stempel auf der letzten Seite des Passes zurück. Kritisch betrachten die Grenzer:innen die drei leeren Benzinkanister im Kofferraum, nur einen hat unsere Fahrerin in Rumänien aufgefüllt. „Ihr habt mir doch gesagt, ich darf nur einen vollen Kanister pro Auto zurückbringen“, sagt sie vorwurfsvoll. Die Grenzbeamten wirken fast enttäuscht. Ob es ein Missverständnis ist oder sie gerne die drei anderen Kanister konfisziert hätten, bleibt unklar. Wir können einreisen in ein Land im Krieg. Doch Kämpfe gibt es in Transkarpatien, auf das sich unsere Reise beschränkt, bislang keine. Vor wenigen Tagen ist das erste Mal seit Kriegsbeginn eine Rakete in der Region eingeschlagen. Menschen kamen nicht zu Schaden, nur eine Bahnstrecke in den Bergen wurde getroffen.

Immer wieder fahren wir an Werbetafeln vorbei, auf denen heroisch dreinblickende Soldaten abgebildet sind, die zur Unterstützung der Armee aufrufen. Viele Tankstellen sind verlassen, an anderen haben sich lange Schlangen gebildet, um das rationierte Benzin tanken zu können. Schon den einen Kanister mit über die Grenze zu bringen hat sich gelohnt. Wir sind auf dem Weg nach Zeleny Hay, zu dem Hof des europäischen Kooperativen-Netzwerkes Longo Maï in der Nähe des Dorfes Nischnje Selischtsche, mit dem wir bei der Hilfe für Binnenflüchtlinge zusammenarbeiten.

Seit Kriegsbeginn hat die Bevölkerung des Dorfes stark zugenommen: 1400 Binnenflüchtlinge sind in den vergangenen Wochen hier angekommen. Insgesamt haben in Transkarpatien etwa 380.000 Menschen Schutz gefunden, so viele wie nirgendwo sonst in der Ukraine. Das zeigt sich auch auf Zeleny Hay. Zu den sechs Bewohner:innen, die sich hier um Gemüseanbau, Schweine, Ziegen, Hühner, ihre Gärten und Obstbäume kümmern, gesellten sich junge Leute aus Kiew, die Tochter einer befreundeten Familie und Mitglieder von anderen Longo Maï-Höfen in Westeuropa. Alle packen mit an – oder beteiligen sich an der Hilfe, die Longo Maï seit Kriegsbeginn für Flüchtlinge und Eingeschlossene in der Zentralukraine und im Osten des Landes organisiert. So ist auch Sergej aus Kiew hier gelandet, der eigentlich ein kleines Unternehmen im Lebensmittelbereich führt. Unsere ukrainische Übersetzerin, die ebenfalls aus Kiew stammt, nennt ihn konsequent Serhij und markiert damit das veränderte Verhältnis zur russischen Sprache in der Ukraine, spätestens seit dem 24. Februar, dem Beginn des russischen Angriffs. Der junge Mann erzählt, dass er russischsprachig aufgewachsen ist und erst spät in der Schule Ukrainisch lernte. Auch seine kleine Tochter spricht zuhause Russisch. Aber seit Kriegsbeginn wechseln viele Russischsprachige ins Ukrainische, auch wenn es ihnen eigentlich sprachlich fremd ist. Der Krieg zerstört auch die Bilingualität des Landes.

Historische Vielstimmigkeit

Der oblast Transkarpatien, die südwestlichste Region der Ukraine, teilt eine Grenze zu Polen, zur Slowakei, Ungarn und Rumänien. Durch die Bergkette der Karpaten getrennt vom Rest des Landes war der Nationalismus hier immer schwächer ausgeprägt als beispielsweise in der Westukraine. Dass Transkarpatien in den letzten hundert Jahren zeitweise zu Ungarn, zur Tschechoslowakei, wieder zu Ungarn und bis zur Unabhängigkeit der Ukraine 1992 zur Sowjetunion gehörte, trägt seinen Teil zur vielstimmigen Identität der Region bei. Bis heute ist insbesondere Ungarisch als Umgangssprache in ganz Transkarpatien verbreitet. Nicht mehr gesprochen wird Jiddisch. Mit dem Holocaust wurden die jüdischen Gemeinden Transkarpatiens, die bis 1941 noch die drittgrößte Bevölkerungsgruppe stellten, ausgelöscht. Über 70.000 Rom:nja leben in hundert Siedlungen in den Randgebieten einiger Orte der Region. Und in den grenznahen Dörfern finden sich nationale Minderheiten, die sich auch dem jeweiligen Nachbarland zugehörig fühlen, zum Teil auch beide Pässe haben. Grenzüberschreitende Verwandtschaften und Arbeitswege sind hier die Regel.

Nischnje Selischtsche hatte bisher offiziell 2000 Einwohner:innen. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand genau, denn viele haben die Perspektivlosigkeit des Landlebens hinter sich gelassen, um im Ausland Arbeit zu suchen. Bis 2014 war das Ziel dabei für viele Menschen hier Russland. Eher eine Seltenheit im Westen der Ukraine war auch, dass die pro-russische „Partei der Regionen“ des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch hier viele Stimmen erhielt. Eigentlich hatte der 2010 gewählte Präsident seine Basis vor allem im russischsprachigen Osten des Landes. Als dann 2014 der Aufstand auf dem Kiewer Maidan gegen Janukowitschs Absage des Assoziierungsabkommens mit der EU, die Bindung an Moskau und den fatalen Einfluss der Oligarchen auf die ukrainische Politik begann, waren viele in Nischnje skeptisch. Der Einfluss des russischen Fernsehens war nach wie vor groß. Erst als Russland infolge der Flucht Janukowitschs und der neuen pro-westlichen Regierung in Kiew begann, die Grenze zur Ukraine stärker zu kontrollieren und den Arbeitsmigrant:innen ihre mitgebrachten Essensvorräte abzunehmen, änderte sich das. Viele aus Nischnje wandten sich seitdem in Richtung ihrer westlichen Nachbarländer, um dort einen Erwerb zu finden.

Notwendige Selbsthilfe

Zurück zu Sergej. Nachdem er seine Familie Ende Februar mithilfe von Longo Maï in Sicherheit bringen konnte, zog er nach Zeleny Hay. Viel Zeit verbringt er allerdings nicht auf dem Hof. Er organisiert Hilfstransporte in den Osten des Landes. Insbesondere zu Beginn der Kämpfe beruhte die humanitäre Hilfe für Binnenflüchtlinge und Eingeschlossene komplett auf privaten Initiativen, berichtet er. Große Organisationen oder der ukrainische Staat seien nicht präsent gewesen, als der überraschende Angriff auf Kiew begann. Also haben sich die Menschen selbst organisiert – und vielfach auf das Netzwerk von Longo Maï zurückgegriffen. In Rumänien gab es Kontakte zur Nichtregierungsorganisation Declic, die eigentlich Online-Kampagnen zu verschiedenen politischen Themen betreibt. Mit Kriegsbeginn begann die Organisation, Spenden zu sammeln, um lange Bedarfslisten zu erfüllen, die ihnen von Longo Maï übermittelt wurden. Auf dieser Grundlage konnten fünf große Hilfstransporte zusammengestellt werden.

Die Hilfslieferungen – unter anderem Lebensmittel, Medikamente, Schlafsäcke, Powerbanks und Hygieneartikel – seien zunächst nach Kiew gebracht worden, erzählt Sergej, in unmittelbare Nähe der Kampfzone. Hier konnte in einer protestantischen Kirche ein Anlaufpunkt geschaffen werden für Helfer:innen, die in den Trümmern zerstörter Häuser nach Verletzten und Toten suchten. Außerdem wurden Medikamente gebracht und ein Krankenwagen zur Evakuierung Verletzter aus der Kampfzone organisiert. Nachdem die russische Armee schließlich aus der Region abgezogen ist und die Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung sichtbar wurden, fokussierten die Helfer:innen die Lieferung tausender Lebensmittelpakete mit Produkten von Longo Maï und zugekauften Gütern auf Tschernihiw nahe der belarussischen Grenze. Schon zuvor hätten sie von hier Menschen über Nebenstrecken aus der russisch besetzten Zone in Sicherheit gebracht, berichtet Sergej.

Seit einiger Zeit konzentrieren sich die Aktivitäten der Longo Maï-Hilfe im Osten nun auf Saporischschja am Fluss Dnjepr, wohin die Menschen aus Mariupol und anderen umkämpften Städten evakuiert werden. 110.000 Menschen waren es bei seiner letzten Tour vor wenigen Tagen, erzählt Sergej. Warum sie nicht weiter Richtung Westen fliehen, sondern hier, nur wenige Kilometer von der Fronlinie entfernt, ausharren, versteht er nicht. Ihre Autos seien jedenfalls leer zurück in den Westen gefahren. In einer alten Destillerie von Saporischschja haben Helfer:innen, mit denen Sergej Kontakt herstellen konnte, einen halbwegs sicheren Zufluchtsort geschaffen. Mit einem trockenem Keller, Kantine und Sanitäranlagen können hier bis zu 350 Menschen unterkommen. 45 Tonnen Medikamente, Schlafsäcke und Lebensmittel hat Longo Maï hierhin geliefert, genug für einen ganzen Monat.

Normalisierung des Krieges

Am Bahnhof von Uschgorod treffen wir auf Mariana und Anja, die mit einer Gruppe weiterer Frauen Hilfe für ankommende Flüchtlinge in der Stadt organisieren. Und auch hier gab es zunächst keinerlei staatliche Hilfe oder Unterstützung durch internationale Organisationen. So haben die Restaurantbesitzerin und die Innenarchitektin sich wie überall begonnen selbst zu organisieren und innerhalb kürzester Zeit eine Struktur geschaffen, die Spenden entgegennimmt, Essen kocht und ausgibt, psychologische Hilfe und Beratung für die Weiterreise oder eine temporäre Unterkunft anbietet. Letztere sind knapp in der Stadt mit eigentlich 120.000 Einwohner:innen. Offiziell sind genauso viele Flüchtlinge dazugekommen, in Wahrheit dürften es deutlich mehr sein.

Während wir da sind, erreicht ein Zug aus Odessa den Bahnhof, voll ist er nicht. Viele Menschen kommen zurzeit nicht aus dem Osten, die Evakuierungen laufen schleppend, sagen die Frauen. An einem Tisch gibt es Fahrpläne und Kontakte zu Menschen aus Uschgorod, die Flüchtlinge bei sich zuhause aufnehmen. Am anderen Ende der Halle werden warme Mahlzeiten und Sandwiches ausgegeben. Viele Helfer:innen haben gelbe T-Shirts an, sie sind selbst aus Kiew, Charkiw und anderen Orten hierher geflüchtet und vorerst geblieben.

Während wir in der Stadt unterwegs sind, geht mehrfach die Sirene los: eine Warnung vor möglichen Luftangriffen. Doch die Straßen bleiben voller Menschen, die in Cafés sitzen, einkaufen oder anderen Geschäften nachgehen. Auch unsere Gespräche werden nicht unterbrochen. Nachdem Russland zuletzt auch mit der Bombardierung von Bahnhöfe und Zugtrassen im Westen des Landes begonnen hatte, werden die Warnungen allerdings ernster genommen. Normalität ist ein hohes Gut, an dem die Menschen hier gegen die Angst des Krieges trotzig festhalten.

medico unterstützt Longo Maï bei der Unterbringung und Versorgung von Binnenflüchtlingen in Transkarpatien und der humanitären Versorgung von Flüchtlingen und eingeschlossenen im umkämpften Osten der Ukraine. Größere Projekte sind in Planung.

Artikelserie zur Westukraine

Veröffentlicht am 09. Mai 2022

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist der Soziologe in der Redaktion tätig und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr


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