Libanon

Tag 33 der Proteste

Ein Kompromiss des Establishments verhöhnt die Proteste. Der Libanon steht vor dem Bankrott. Eindrücke von Till Küster

Der Kompromiss des Establishments hielt nicht mal bis zum ersten Tag. Der von den Parteien am Freitag vorgeschlagene Chef einer Übergangsregierung, Mohammad Safadi, zog seine Kandidatur am Sonntag zurück, nachdem Proteste vor seinen Villen in Beirut und Tripoli über das Wochenende nicht abebbten. Safadi, ehemaliger Finanzminister und Business-Tycoon war eine Kopie seines Vorgängers, Premierminister Hariri, der selbst am 29. Oktober sich dem Druck der Straße beugte und zurücktrat.

Safadi verkörpert genau die korrupte Elite, die das Land heruntergewirtschaftet hat, zum eigenen Vorteil selbstverständlich. Seine Nominierung war nichts anderes als eine Verhöhnung der Proteste, die am 17. Oktober begannen. Oder sie war Ausdruck der Ratlosigkeit der politischen Klasse, die nicht in der Lage ist, auf die Forderungen einzugehen, geschweige denn eine politische Lösung einzuleiten. Die Forderungen der Proteste sind eindeutig: Formierung einer technischen Übergangsregierung, Neuwahlen und Abschaffung des religiösen Proporzes, Bekämpfung der Korruption und Rückführung veruntreuter öffentlicher Gelder.

So ging heute der 33. Tag der Proteste, oder der „Revolution“ wie die Libanes*innen sagen, mit Debatten und Diskussionen in den Zelten auf dem Märtyrer-Platz in Beiruts Zentrum zu Ende. Angespannte Ruhe, bevor morgen starke Militär- und Polizeipräsenz erwartet wird, wenn die Mitglieder des Parlaments für eine Sondersitzung in der Stadt zusammenkommen.

Weiterhin sind die Banken geschlossen und Staat und Bankensektor steuern direkt in den Bankrott, das System ist für alle spürbar am Ende. Über Jahre machten vor allem libanesische Banken selbst Milliardengewinne, indem sie hochverzinste libanesische Staatsanleihen kauften. Nun ist dieses Geschäftsmodell zusammengebrochen, die seit dem Bürgerkrieg bestehende Dollarbindung des libanesischen Pfunds nicht mehr finanzierbar. Krankenhäuser streiken, weil sie keine Medikamente mehr importieren können, Benzin wird rationiert. Hinzu kommen die massive syrische Flüchtlingskrise und die weit verbreitete Armut in Land. Nach Schätzungen der UN sind 3,2 Millionen Menschen im Land auf direkte Hilfe angewiesen, bei 6 Millionen Menschen, die im Land leben.

Forderung nach einem Neustart

Der (internationale) Ruf nach Stabilität, neoliberalen Reformen und Kürzungen zur Bekämpfung der Schuldenkrise liegen schon länger auf dem Tisch, während die Menschen im Libanon einen kompletten politischen Neustart fordern. Ausgang ungewiss und alle sehen natürlich die Entwicklungen der Proteste im Irak und Iran, die immer mehr in Gewalt versinken. Bislang bleiben die Proteste im Libanon im Vergleich friedlich, auch wenn letzte Woche der erste Demonstrant bei einer Straßenblockade erschossen wurde.

Es geht also darum, welche Chance die libanesische Gesellschaft hat, sich eine politische Zukunft selbst zu suchen. Viele schrieben, dass mit den friedlichen, landesweiten Protesten der Bürgerkrieg endgültig zu Ende gegangen ist. Dieser soziale Neubeginn ist nun unmittelbar mit dem finanziellen und politischen Bankrott konfrontiert, dessen Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Die Frage sei daher nicht, „wie die Titanic um den Eisberg herum steuern könnte“, wie ein libanesischer Aktivist und Journalist heute schrieb, „der Libanon ist der Eisberg“.

Veröffentlicht am 19. November 2019

Till Küster

Till Küster ist Politikwissenschaftler und bei medico international Leiter der Abteilung für transnationale Kooperation.

Twitter: @KuesterTill


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