Jahrestag Beirut

Katastrophenkapitalismus

Ein Jahr nach der Explosion im Hafen Beiruts herrscht im Libanon die Dauerkatastrophe. Grenzüberschreitende Solidarität ist gefragt – anstelle einer Hilfe, die weiterhin der Stabilisierung und damit Europas Migrationsabwehr dient.

Von Mario Neumann

Katastrophen sind immer auch Situationen, in denen die Hoffnung stirbt. Im Libanon gab es vor nicht einmal zwei Jahren eine Hoffnung auf politischen Wandel, die von einer massiven und breiten Demokratiebewegung ausgelöst und verkörpert wurde. Die damalige Wut auf die politischen Eliten existiert weiterhin und ist vielleicht größer denn je. Aber die imaginären Bilder einer besseren Zukunft und eines anderen Libanon scheinen wie weggewischt. Aus dem Kampf für ein lebenswerteres Land ist für die meisten ein Überlebenskampf geworden. Die tiefe ökonomische Krise der letzten Jahre, die Pandemie und die ungebrochene Macht der politisch-religiösen Führer hat der Hoffnung den Boden entzogen und einen politischen Aufbruch in eine humanitäre Dauerkatastrophe verwandelt.

Sinnbild und Höhepunkt dieser permanenten Katastrophe waren die Ereignisse im Beiruter Hafen vor einem Jahr. Während die spektakulären Bilder der Explosion am 4. August 2020 um die Welt gingen und eine Welle von Spenden, Berichten und politischen Besuchen auslösten, ist es mittlerweile ruhig geworden in den internationalen Medien. Dabei hat sich die libanesische Katastrophe verschärft, das Trümmerfeld im Hafen sich mittlerweile über das ganze Land ausgedehnt. Die libanesische Währung verlor in den letzten Jahren 90% ihres Wertes, 60% der Bevölkerung lebt in Armut und Hunger. Es herrscht Mangel an allem, es fehlt sogar an Strom für Krankenhäuser und an Medikamenten, selbst für chronisch Kranke. Die Weltbank erklärte die Situation kürzlich zu einer der weltweit 10 schwersten ökonomischen Krisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, nicht ohne den Zusatz „vielleicht sogar der Top 3“. Ein Wandel sei nicht einmal am Horizont in Sicht.

Es sind Trümmer, die die Welt bedeuten. Denn die multiplen Krisen der Gegenwart verdichten sich im Libanon wie an vielleicht wenigen Orten der Welt: Von Corona über den syrischen Bürgerkrieg bis hin zum wirtschaftlichen Kollaps bietet das Land ein beispielhaftes Panorama des globalen Katastrophenkapitalismus. Hinzu kommt der politische Stillstand. Er geht zwar zunächst aufs Konto der nationalen Eliten, die sich bei all ihrer Zerstrittenheit weiterhin darin einig sind, dass die einzige relevante Frage bleibt, wie sie das kollabierende Land unter sich aufteilen können. Doch hinter diesem Stillstand, der auch eine Pattsituation ist, steht die Stärke der internationalen Akteure, die hier über ihre Verbündeten um Einfluss ringen und damit die Situation zusätzlich zementieren.

Ein Jahr danach

Ein Jahr ist seit der Explosion vergangen und bis auf einige wenige Aufräumarbeiten hat sich nichts Nennenswertes im zerstörten Hafen getan. Weder hat – bis auf Notlösungen für einen temporären Containerhafen – der Wiederaufbau begonnen, noch wurde der Bevölkerung in den angrenzenden Stadtteilen geholfen, ihre Wohnungen renoviert, ihre Verletzungen behandelt oder ihre Arztrechnungen bezahlt. Wie eine Studie von drei medico-Partnerorganisationen zeigt, die in den nächsten Tagen veröffentlicht wird, sind migrantische Arbeiter*innen ebenso ihrem Schicksal überlassen, wie die Anwohner*innen in den zerstörten Stadtteilen und die lebenslang Geschädigten. Menschen, die dauerhafte körperliche Behinderungen von der Explosion davon getragen haben und deren Anzahl die medico-Partnerorganisation The Public Source auf knapp 1000 Personen schätzt, wissen nicht, wie sie ihre Behandlungen bezahlen sollen.

Und auch die Aufklärung der Ereignisse stockt – und damit auch die Schaffung von Gerechtigkeit, die Verletzte, Geschädigte und Hinterbliebene vergeblich einfordern. Über sechs Jahre lagerte das hochexplosive Material im Beiruter Hafen, die politisch Verantwortlichen wurden mehrfach gewarnt und unternahmen nichts. Dennoch ist bislang kaum jemand zur Rechenschaft gezogen worden. Und auch weitere Fragen sind ungeklärt: Einige Berechnungen – unter anderem eine des FBI – legen nahe, dass bei der Explosion weit weniger als die offiziell gelagerten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten. Der Verdacht besteht, dass Teile des Materials bereits vor der Explosion verschwanden. Syriens Diktator Assad wurde mehrfach beschuldigt, zu jener Zeit Bomben eingesetzt zu haben, die Ammoniumnitrat enthielten.

Solidarität statt Stabilsiierung

Allein Deutschland hat seit 2012 über 1,2 Milliarden Hilfsgelder im Libanon eingesetzt, nicht unerhebliche Summen davon auch für die akute Versorgung syrischer Geflüchteter. Eine würdige Lebensperspektive oder strukturelle Verbesserungen gab es dadurch jedoch für so gut wie niemanden. Im Gegenteil: Deutschland und Europa betreiben im Libanon seit jeher eine Politik der Stabilisierung unhaltbarer Zustände. An dieser Strategie scheint sich auch durch die Krise wenig zu verändern. Stabilität wird dabei nicht gemessen an der Existenz guter Lebensbedingungen, sondern an den sicherheits- und migrationspolitischen Kriterien Europas.

Nachdem man jahrzehntelang fleißig mitgeholfen hatte, das marode politische System und seine Eliten am Leben zu halten, laufen die gegenwärtigen Anstrengungen scheinbar auf eine humanitäre Stabilisierung hinaus: einer Politik, die in erster Linie versucht, minimale Existenzbedingungen zu gewährleisten, damit es nicht zum nächsten Massenexodus nach Europa kommt. Denn der Libanon ist längst nicht mehr nur ein Land, dass 1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge beherbergt. Ein großer Teil der Bevölkerung ist selbst auf dem Sprung ins Ausland und in die Flüchtlingsboote.

Die gangbare Alternative zur Politik der passiven, humanitären Stabilisierung ist jedoch sicherlich kein imperialer Eingriff. Davon gab es genug in der Geschichte des Libanon, die Resultate sind bekannt. Es geht um etwas anderes: Um ein Ende der Stabilisierung des gescheiterten Systems und um mehr tatsächliche Solidarität mit der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft.

Für das Recht zu gehen

Es gilt also, nicht nur einer imperialen Einmischung, sondern auch dem allzu einfachen Ruf nach Intensivierung der humanitären Hilfe zu widersprechen, der die bestehende politische Verantwortung Europas auf humanitäre Gesten reduziert, die man dann nach belieben an- und ausschalten kann, wie man es jetzt auch in Afghanistan tut. Nein, es liegt nicht in Europas Zuständigkeit, mit imperialen Methoden eine neue oder andere Regierung im Libanon durchzusetzen. Aber ebenso wenig kann es darum gehen, Europa einfach nur zur Zurückhaltung  aufzufordern und maximal die Hilfsgelder zu erhöhen.

Etwas anderes ist gefragt. Europas Staaten haben seit jeher die Situation in der Region bestimmt oder mitbestimmt. Die Leidtragenden war immer die einfache und arme Bevölkerung, die seit Jahrzehnten von Bürgerkrieg, politischem Terror, Korruption und imperialem Machtgeschachere zerrieben wird. Europa schuldet ihnen etwas – im politischen Sinne, nicht bloß im moralischen. Das kann in der gegenwärtigen, komplizierten Lage nur heißen, die Politik der Stabilisierung der Eliten aufzugeben und stattdessen eine menschenrechtsbasierte Politik der Schaffung und Gewährleistung angemessener Lebensperspektiven zu betreiben. Es würde also darum gehen, im Land selbst Initiativen zu unterstützen, die aus der Zivilgesellschaft kommen und über die bloße Stabilisierung hinaus Orte einer demokratischen Gegenkultur und politischer Perspektiven sind.

Und es würde darum gehen, der eigenen Verantwortung auch damit gerecht zu werden, dass man legale Migrationswege nach Europa schafft, anstatt die syrischen und libanesischen Verdammten dieser Erde in einem landesgroßen Zelt- und Barackenlager zu kasernieren. Eine humanitäre Hilfe, die Menschen nur solange als hilfsbedürftig behandelt, wie sie sich nicht auf den Weg nach Europa machen, um sie dann zu kriminalisieren und zu bekämpfen, ist nicht humanitär. Sie ist eine Hilfe im Dienste einer postkolonialen Geopolitik, die die Verdammten dieser Erde fernzuhalten versucht von den Orten des Reichtums – mit einer Mischung aus humanitären Almosen und hochgerüsteten Grenzen. Doch die Solidarität mit der libanesischen Bevölkerung endet nicht an den europäischen Außengrenzen, sondern sie beginnt dort vielleicht mehr denn je. Solidarität mit den Menschen im Libanon kann heute nur heißen, für ihr Recht zu bleiben genauso einzustehen wie für ihr Recht zu gehen.

Solidarität in der Dauerkrise

Ein Jahr nach der Explosion Hafen Beiruts kann von Wiederaufbau keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Krise ist im Libanon zum Dauerzustand geworden. Das Land liegt in Trümmern und es fehlt überall an allem. In dieser tiefen und umfassenden Krise sind Spendengelder und Hilfsaktionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn sie nicht auch im Horizont politischer Veränderung stattfinden. Die medico-Partner vor Ort versuchen diesen Spagat. Trotz der humanitären Notlage halten sie an der Perspektive eines anderen Libanon fest.

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Veröffentlicht am 03. August 2021

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südamerika und dem Libanon. Seit seiner Jugend ist er politischer Aktivist, hat lange für das Institut Solidarische Moderne (ISM) gearbeitet.

Twitter: @neumann_aktuell


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