Libanon

Sturz ins Bodenlose

20.09.2021   Lesezeit: 8 min

Libanon: Ein Jahr nach der Explosion im Hafen Beiruts sorgt allein die Zivilgesellschaft für Aufklärung und entwickelt Ideen des Wiederaufbaus.

Von Mario Neumann

und Till Küster

Die spektakulären Bilder der Explosion im Beiruter Hafen am 4. August 2020 gingen um die Welt. Seither hat sich in dem zerstörten Areal kaum etwas getan. Weder hat der Wiederaufbau begonnen noch wurde der Bevölkerung in den angrenzenden Stadtteilen geholfen, wurden ihre Wohnungen renoviert, ihre Verletzungen behandelt oder ihre Arztrechnungen bezahlt. Nichts hat sich hier verbessert – während sich rundherum und inzwischen im ganzen Land vieles dramatisch verschlechtert hat. Binnen weniger Monate hat die libanesische Währung 90 Prozent ihres Wertes verloren, über 70 Prozent der Bevölkerung leben mittlerweile in Armut und Hunger. Es mangelt an allem, sogar an Strom für Krankenhäuser und an Medikamenten. Die Weltbank erklärte die Situation kürzlich zu einer der weltweit zehn schwersten ökonomischen Krisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, nicht ohne den Zusatz „vielleicht sogar der Top drei“.

Auf die Explosion des Hafens folgte die Implosion des Staates und seines überkommenen Systems an Proporz, Kumpanei, Vetternwirtschaft und Einflussnahme aus dem Ausland. Die politische Führung führt ein absurdes Schauspiel auf. Mittlerweile ist der dritte designierte Premier benannt, ein Kabinett zu formieren. Nach 13 Monaten ohne Regierung meldete Nadschib Mikati am 10. September Vollzug. Ein Neuanfang? Mitnichten. Unter den 24 vorgesehenen Kabinettsmitgliedern ist eine einzige Frau. Und Mikati, ein saudisch-libanesischer Milliardär und bereits zwei Mal Premier, ist in diverse Korruptionsskandale verwickelt.

Vertreibung statt Versorgung

Auch alle medico-Partner:innen im Libanon haben auf Notbetrieb umgestellt. Sie müssen tagelange Stromausfälle ertragen, können keine Medikamente nachbestellen, hantieren mit bis zu zwölf Wechselkursen gleichzeitig oder fürchten aufgrund der zunehmend ausweglosen Situation um ihre Sicherheit und Zukunft.

Zum Jahrestag der Explosion haben drei Partnerorganisationen gemeinsam eine von medico mitinitiierte und unterstützte Studie erstellt, die von der Gruppe The Public Source veröffentlicht worden ist. Sie zeigt, dass migrantische Arbeiter:innen ebenso ihrem Schicksal überlassen sind wie die Anwohner:innen in den zerstörten Stadtteilen und die lebenslang Geschädigten. Menschen, die dauerhafte körperliche Behinderungen von der Explosion davongetragen haben – vermutlich rund 1000 Personen – wissen nicht, wie sie ihre Behandlungen bezahlen sollen. Eine Umfrage, die das Recht-auf-Stadt-Kollektiv Public Works unter Bewohner:innen der betroffenen Stadtteile durchgeführt hat, ergab, dass knapp die Hälfte nicht in der Lage ist, die Reparaturen ihrer Wohnungen abzuschließen. Die Bewohner:innen sind außerdem der Gefahr dauerhafter Vertreibung ausgesetzt – angesichts einer unsicheren Wohnsituation und der Absenz des Staates sowie eines rechtlichen Rahmens, der das Recht auf Wohnen schützen würde. Zwar wurde im Oktober 2020 das Gesetz „über den Schutz der beschädigten und betroffenen Gebiete und deren Wiederaufbau“ verabschiedet, das die Verlängerung von Mietverträgen für Wohn- und Gewerberäume in den beschädigten Gebäuden und Grundstücken um ein Jahr vorsieht und damit vorübergehend vor Zwangsräumungen schützt. Doch die Zeit läuft und die Auszahlung von Entschädigungen und die Widerherstellung von Gebäuden zieht sich hin. Darüber hinaus haben die Behörden es versäumt, alternative Unterkünfte bereitzustellen, solange die Reparaturen noch nicht abgeschlossen sind. Die Folgen beschreibt die Studie so: „Der Staat hat die Bewohner, die ihre Häuser verloren haben, insbesondere die schwächsten Gruppen, wie Menschen mit geringem Einkommen, Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ältere Menschen, der Obdachlosigkeit ausgesetzt und gezwungen, die Last allein zu tragen. Infolgedessen kam es in den von der Explosion betroffenen Stadtvierteln vermehrt zu Zwangsräumungen, vor allem weil die Mieter nicht in der Lage waren, ihre Miete zu zahlen.“

Keine Aufklärung, viele Fragen

Auch die Aufklärung der Frage, wie es zu der verheerenden Explosion kommen konnte, stockt – mit ihr die Schaffung von Gerechtigkeit, wie Verletzte, Geschädigte und Hinterbliebene sie einfordern. Zuletzt veröffentlichte The Public Source eine aktualisierte Liste mit der Zahl und Namen der Opfer. Es gibt bislang nicht einmal ein staatliches Gedenken für die Opfer – geschweige denn eine Anerkennung der zentralen Verantwortung der libanesischen Elite für das Desaster.

Über sechs Jahre lagerte das hochexplosive Material im Hafen. Die politisch Verantwortlichen wurden mehrfach gewarnt und unternahmen nichts. Dennoch ist bislang kaum jemand zur Rechenschaft gezogen worden. Weitere Fragen sind ungeklärt: Einige Berechnungen legen nahe, dass bei der Explosion weit weniger als die offiziell gelagerten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft gingen. Es stellt sich die Frage, welche Mengen an Stoffen tatsächlich explodierten und wieso sie dort gelagert wurden. Ammoniumnitrat ist ein wichtiger Bestandteil syrischer Fassbomben, die im Nachbarland Syrien Diktator Assad flächendeckend zum Einsatz brachte. Wurden ihre Bestandteile im Hafen von Beirut gelagert? Eine von der Bundesregierung finanzierte Aufräumaktion nach der Explosion entdeckte über 50 weitere Container mit zum Teil hochgiftigen, lebensgefährlichen Chemikalien, darunter auch Stoffe, die als Kampfmittel eingesetzt werden können. Damit bestätigt sich der Verdacht, dass der Beiruter Hafen der syrischen Kriegswirtschaft als zentrale Nachschublinie diente. Unter anderem diese Informationen veröffentlichte der langjährige medico-Partner Lokman Slim Anfang des Jahres im libanesischen Fernsehen. Am 3. Februar wurde er mit vier Kopfschüssen im Süden des Landes ermordet aufgefunden. Eine gezielte Hinrichtung eines der lautesten Kritikers der korrupten Machtstrukturen und des Gebarens der schiitischen Hisbollah als iranisch-syrischer Arm im Libanon. Niemand ist bislang für die Tat zur Rechenschaft gezogen worden.

Trotz dieser miserablen, für kritische Stimmen brandgefährlichen Lage halten die medico-Partner:innen an ihrer anspruchsvollen Idee eines politischen Wiederaufbaus fest. „Wenn wir über den Wiederaufbau diskutieren, müssen wir dies im Rahmen einer Erzählung der Gerechtigkeit tun“, schreiben Mitglieder von Public Works. „Wir müssen die Betroffenen nicht nur als Individuen, sondern auch als eine neue Gemeinschaft unterstützen, die aus dem 4. August hervorgegangen ist.“ Mit Unterstützung von medico hat das stadtpolitische Kollektiv einen Leitfaden für die Bewohner:innen der zerstörten Viertel erstellt. Er dient dazu, Informationen zu verbreiten, Wissen aufzubauen und die Gemeinschaft anhand grundlegender Konzepte und Forderungen zu organisieren. Eine solche partizipatorische Stadtplanung soll zur sozialen und stadträumlichen Gerechtigkeit beitragen.

Zusätzlich half Public Works bei der Gründung von drei lokalen Vereinen, die als solidarische Strukturen der Interessenvertretung der Opfer dienen und ihre Forderungen organisieren, hörbar machen und bündeln sollen. Ziel ist es, in die kommunalen Entscheidungsprozesse zum Wiederaufbau eingebunden zu werden – ein fast utopisches Unterfangen angesichts der intransparenten und korrumpierten Stadtverwaltung und eines Bausektors, den sich die wirtschaftliche und politische Elite des Landes unter den Nagel gerissen hat. Unter anderem deutsche Firmen stehen bereit, um milliardenschwere Bauprojekte um den Hafen zu realisieren. Allein für eines dieser Vorhaben hat die Bundesregierung bis zu zehn Millionen Euro bereitgestellt.

Neuer Pakt? Alter Filz

Der Verfall im Libanon ist nicht nur hausgemacht. Das Land ist aufgrund seiner Lage ein zentrales Puzzlestück der regionalen Machtverteilung: im Süden die Grenze zu Israel, nach Osten und Norden die Grenze zu Syrien, nach Westen das Mittelmeer und die Außengrenze zu Zypern und damit zur EU. Der französische Präsident Macron hatte direkt nach der Explosion im Hafen in Beirut einen „neuen politischen Pakt“ für das Land versprochen. Nichts hat sich bewahrheitet. „Stabilisierung“ ist das neue und alte Zauberwort des Westens, ohne genau zu sagen, was man damit meint. Es waren die Libanes:innen selbst, die 2019 „alle“, also die gesamte politische und ökonomische Elite des Landes zum Rücktritt aufforderten. Bis heute aber sind die alten Strukturen, mögen sie auch noch so überkommen sein, an der Macht. In Luft aufgelöst hat sich nur die lokale Währung und damit die privaten Vermögen der breiten Bevölkerung.

Während westliche Staaten die humanitäre Hilfe in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht haben, blieb eine wirkliche Unterstützung der politischen Demokratiebewegung aus. Mittlerweile haben andere wieder die Initiative übernommen. Es zeichnet sich ein spektakulärer Energiedeal ab, der die Lieferung von ägyptischem Gas an jordanische Kraftwerke vorsieht, von denen Strom über Syrien in den Libanon gespeist werden soll. Die US-Botschafterin in Beirut hat bereits Zustimmung signalisiert, diese Stromlieferungen trotz des Sanktionsregimes gegen Syrien zuzulassen. Diktator Assad ist damit zurück am Verhandlungstisch. Ausgerechnet die ehemalige syrische Besatzungsmacht könnte möglicherweise bald wichtigster Stromversorger für den Libanon mit seinen 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen sein. Letzte Woche wurden sechs Syrer nahe der syrischen Botschaft in Beirut verhaftet, sie sollen an den syrischen Geheimdienst übergeben werden. Ihnen wird vorgeworfen, mit der Oppositionsbewegung im südsyrischen Daraa in Verbindung zu stehen, die nun seit über 70 Tagen von syrischen und iranischen Truppen belagert wird. „Syrien ist zurück, und damit die 1990er-Jahre“, schrieb dazu ein Beiruter Blogger und Journalist. Es ist einer der letzten Bausteine der „Restauration“ im Nahen Osten.

In der tiefen und umfassenden Krise im Libanon sind Spendengelder und Hilfsaktionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn sie nicht auch im Horizont politischer Veränderung stattfinden. Die medico-Partnerorganisationen vor Ort versuchen diesen Spagat. Trotz der humanitären Notlage halten sie an der Perspektive eines anderen Libanon fest.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Till Küster

Bislang war Till Küster Projektkoordinator für Syrien und Libanon. Ab November hat er ein neues Aufgabengebiet. Er wird Leiter der Projektabteilung.

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.

Twitter: @neumann_aktuell


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