Corona

Ringen um eine gerechte Gesundheitsarchitektur

Ein globales Pandemieabkommen soll Lehren aus der Corona-Pandemie ziehen, doch in zentralen Fragen herrscht Uneinigkeit. Von Jens Martens.

Die 194 Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben sich zum Ziel gesetzt, sich bis Mai 2024 auf ein globales Pandemieabkommen zu einigen. Das Vorhaben ist äußerst ambitioniert, denn die Positionen der Regierungen liegen in zentralen Fragen noch weit auseinander. Die Pharmalobby, bei den Verhandlungen vertreten durch die International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations (IFPMA), lehnt die Forderungen der Länder des Globalen Südens nach gerechtem Zugang und Vorteilsausgleich ab. Sie drängt vor allem auf den strikten Schutz von geistigem Eigentum und Patenten. Zu allem Überfluss schießen auch noch Impfgegner und Verschwörungsgläubige mit Falschmeldungen gegen das geplante Abkommen. In dieser Gemengelage scheint es fast unmöglich, innerhalb weniger Wochen zu einer substantiellen Einigung zu gelangen. Sie soll in einer Marathon-Verhandlungsrunde in Genf vom 18. bis 28. März 2024 erzielt werden.

Dringender Bedarf

Die Initiative für ein globales Pandemieabkommen ging von der EU aus. Im November 2020 forderte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, Lehren aus der Coronakrise zu ziehen, um auf künftige Pandemien rascher und besser koordiniert reagieren zu können. Der Vorschlag entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn es war gerade die EU, die in der Hochphase der Pandemie Impfstoffe gehortet, Preise in die Höhe getrieben und damit die Koordinationsfunktion der WHO untergraben hat. Dass die EU lange Zeit im Interesse ihrer Pharmaindustrie erbitterten Widerstand gegen den TRIPS Waiver zur vorübergehenden Aussetzung des Patentschutzes für COVID-19-relevante Impfstoffe, Medikamente und medizinische Güter geleistet hat, macht ihre Intention nicht glaubwürdiger.

Auch deswegen haben zivilgesellschaftliche Organisationen die Initiative mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Einerseits sehen viele Gruppen und Organisationen,darunter auch medico-Partnerorganisationen wie der Geneva Global Health Hub (G2H2) und das People’s Health Movement (PHM), massiven Handlungsbedarf. Die Regierungsantworten auf Corona haben einmal mehr die Governance-, Finanzierungsdefizite und strukturellen Ungerechtigkeiten in der globalen Gesundheitsarchitektur sichtbar gemacht. Andererseits sind viele Beobachter skeptisch, dass in der gegenwärtigen geopolitischen Lage damit ungerechte Strukturen und neoliberale Konzepte festgeschrieben werden könnten.

Verhandlungen in Rekordgeschwindigkeit

Der Startschuss für die Verhandlungen fiel im Dezember 2021 bei einer Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung. Dort wurde ein zwischenstaatliches Verhandlungsgremium eingesetzt, das in Rekordgeschwindigkeit von weniger als drei Jahren das Pandemieabkommen aushandeln soll. Zum Vergleich: Über einen geplanten Treaty, der die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen regeln soll, wird im UN-Menschenrechtsrat seit fast zehn Jahren verhandelt – und ein Ende ist noch nicht absehbar. Bei der Aushandlung völkerrechtlich bindender Abkommen hat die WHO bislang wenig Erfahrung. Während etwa die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) bisher fast 200 Konventionen verabschiedet hat, war es in der WHO abgesehen von den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) bisher nur das Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs. Es trat 2005 in Kraft und bildet nun den Präzedenzfall für die Verhandlungen zum Pandemieabkommen.

Grundsätzlich soll das geplante Pandemieabkommen drei Themenbereiche umfassen: Prävention, Vorsorge und Reaktion. Bei der Prävention geht es unter anderem um den Ausbau von Überwachungssystemen, um potenzielle Pandemien frühzeitig zu erkennen und rasche, koordinierte Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Die verbesserte Pandemievorsorge erfordert u.a. eine Stärkung der öffentlichen Gesundheitssysteme und die Beschäftigung von ausreichend ausgebildetem und entlohntem Gesundheits- und Pflegepersonal. Aus gesundheitspolitischer Sicht unzureichend geregelt sind bislang auch die Reaktionen auf den Ausbruch einer Pandemie. Notwendig wäre eine effektivere internationale Zusammenarbeit. Dies schließt den gerechten Zugang zu medizinischen Gütern, einschließlich Impfstoffen, ebenso ein wie die Schaffung eines globalen Lieferketten- und Logistiknetzwerks sowie nachhaltiger Finanzierungsmechanismen.

Das Leitmotiv, das sich wie ein roter Faden durch die Verhandlungen zieht, ist der Begriff der Gerechtigkeit. Die Länder des Globalen Südens verbinden damit den gerechten Vorteilsausgleich, den ungehinderten Zugang zu medizinischen Gütern, effektive Regeln für den Technologietransfer und einen verbindlichen globalen Finanzierungsmechanismus. Diese Forderungen werden besonders vehement von der Group for Equity vertreten, in der sich speziell für die Pandemieverhandlungen 29 Länder zusammengeschlossen haben, darunter Brasilien, China, Indonesien, der Iran und Südafrika.

Vorprogrammierte Konflikte

Die Länder des Globalen Südens machen sich dafür stark, dass aus der Klimapolitik bekannte Prinzip der "gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten" von 1992 zur Grundlage des Pandemieabkommens zu machen. Das betrifft zum Beispiel den Zugang zu Technologien und Know-how sowie die Verpflichtung zur ausreichenden Finanzierung der im Pandemieabkommen vereinbarten Maßnahmen. Die USA und die EU lehnen das wenig überraschend ab.

Einen weiteren Dreh- und Angelpunkt der Verhandlungen bildet der gerechte Vorteilsausgleich für das Teilen genetischer Ressourcen von Krankheitserregern. Die Länder des Globalen Nordens fordern ungehinderten Zugang zu Informationen über Erregerproben und genomische Sequenzdaten. Die Länder des Globalen Südens wollen diese Informationen jedoch nicht ohne Gegenleistung aus der Hand geben. Sie befürchten zurecht, dass sie ansonsten zwar die wissenschaftlichen Informationen zur Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten weitergeben, im Gegenzug aber keinen Zugang zu diesen lebensrettenden Ressourcen erhalten. Aus diesem Grund ist ein ausgefeiltes System des Vorteilsausgleichsvorgesehen, das einerseits den weltweiten Austausch von Proben und Daten sicherstellen und andererseits den gerechten Zugang zu pandemiebezogenen Produkten gewährleisten soll. Den Ländern des Globalen Südens gehen die Vorschläge nicht weit genug, die Pharmalobby läuft dagegen Sturm.

Für die Länder des Globalen Südens ist darüber hinaus zentral, den Patenschutz im Falle einer Pandemie für relevante Impfstoffe, Medikamente, Diagnostika und medizinische Geräte vorübergehend aufzuheben. Dies soll, wie schon bei der COVID-19-Pandemie gefordert, durch eine Ausnahmegenehmigung (Waiver) geschehen. Die entsprechenden Passagen im Abkommensentwurf wurden im Laufe der Verhandlungen aber immer weiter verwässert, sodass absehbar keine verpflichtenden Mechanismen zum Tragen kommen. Hier ist der Einfluss der Pharmalobby unübersehbar, Corona wohl schon zu lange her.

Der Entwurf des Pandemieabkommens sieht einen „koordinierenden Finanzierungsmechanismus“ vor, um die Bereitstellung von „angemessenen, zugänglichen, neuen, zusätzlichen und vorhersehbaren Finanzmitteln“ zu gewährleisten. Umstritten ist unter anderem, ob der neue Mechanismus bei der WHO oder der Weltbank eingerichtet wird. Die EU und die USA favorisieren dabei die Verknüpfung mit bestehenden Finanzinstrumenten wie dem bei der Weltbank angesiedelten Pandemiefonds. Dieser Fonds ist allerdings umstritten. So stellte der medico-Partner G2H2 in einem Report über finanzielle Gerechtigkeit für Pandemieprävention, -vorsorge und –reaktion mit Blick auf den Fonds fest, das „angesichts eines veralteten, von kolonialer Wohltätigkeit abhängigen Finanzierungsmodells, des wahrscheinlichen Wettbewerbs mit anderen globalen Gesundheitsfonds und der sehr geringen Erwartungen an die Hebelwirkung auf medizinische Innovationen dies nicht die Lösung der Welt für die Finanzierung von Pandemieprävention, -vorsorge und –reaktion sein kann.“ Problematisch ist zudem, dass der neue Finanzierungsmechanismus lediglich gespeist werden soll aus Mitteln des PABS-Systems sowie freiwilligen Beiträgen von Staaten und nichtstaatlichen Akteuren.

Heiße Verhandlungen kalter Interessen

Die Verhandlungen über das Pandemieabkommen sollen bis zur 77. Weltgesundheitsversammlung im Mai 2024 abgeschlossen sein. Erschwert werden sie durch die zugespitzte geopolitische Lage infolge des Kriegs in Gaza. Er überschattet derzeit alle Diskussionen auf UN-Ebene. Gleichzeitig mobilisieren rechtsextreme Kräfte und Verschwörungsgläubige über Kanäle wie Fox News Desinformationskampagne gegen das geplante Abkommen.

Angesichts der zahlreichen offenen Baustellen wird eine Einigung nur möglich sein, wenn alle Regierungen zu Kompromissen bereit sind. Für Deutschland und die EU gilt das insbesondere für die Bereitschaft, im Pandemiefall das Recht auf Gesundheit über geistige Eigentumsrechte zu stellen, ein System des gerechten Vorteilsausgleichs zu akzeptieren und die ausreichende und verlässliche Finanzierung von Pandemieprävention, -vorsorge und –reaktion zu gewährleisten. IFPMA-Generaldirektor Thomas Cueni unkte bereits, es wäre besser, keinen Pandemievertrag zu haben als einen schlechten Pandemievertrag. Angesichts der Gefahr neuer Krankheitserreger, des wachsenden Problems der antimikrobiellen Resistenzen und der fortbestehenden Gerechtigkeitslücke in der globalen Gesundheitsarchitektur wäre dies allerdings die schlechteste aller Optionen.
 

Bei diesem Blogbeitrag handelt es sich um die aktualisierte Kurzfassung des Briefing Papers „Länder ringen um globales Pandemieabkommen. Verhandlungen in der Weltgesundheitsorganisation in entscheidender Phase“, das von Brot für die Welt, GPF Europe und misereor im Februar 2024 veröffentlicht wurde.

 

Veröffentlicht am 20. März 2024

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