Pakistan

Rausgewachsen

15.09.2025   Lesezeit: 6 min  
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2015 half medico, ein Gewerkschaftshaus in Karatschi zu gründen. Längst ist es viel zu klein geworden.

Von Karin Zennig

Ein aktuelles Foto auf Social Media zeigt Mohammad Hanif, wie er mit einem Megafon in der Hand eine Rede hält. Aufgenommen ist es auf der 1.-Mai-Demo der Gewerkschaft National Trade Union Federation (NTUF) in Karatschi. Dass Hanif heute aktiv ist, hat eine Geschichte, in der auch medico eine Rolle spielt. Sie beginnt mit einer Katastrophe. Am 11. September 2012 arbeitet Mohammad Hanif als Näher in der Textilfabrik Ali Enterprises, als ein Feuer ausbricht. Weil Fluchtwege versperrt sind und die Betreiber meinten, dass Brandschutz verzichtbar sei, sterben 289 Menschen. Hanif selbst überlebt und wird zum Held, weil er nicht nur sich, sondern zehn weitere Menschen aus den Flammen rettet. 

Der Brand ist mehr als ein Unglück. Er ist Folge unterlassener Sorgfaltspflicht in einer auf Preisdruck und Ausbeutung basierenden globalen Lieferkette. In Deutschland löst er und der zeitnahe Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch eine Debatte darum aus, unter welchen Bedingungen hiesige Konsumgüter hergestellt werden. medico startet die Kampagne „Cool, aber tödlich“. In Karatschi setzt der Fabrikbrand ebenfalls Gegenwehr in Gang. Die von medico unterstützte NTUF kümmert sich darum, dass die Überlebenden und Angehörigen der Opfer nicht wie so häufig auf sich alleine gestellt bleiben und organisiert sie als Interessengruppe. So kommt auch Hanif in Kontakt mit den Gewerkschafter:innen. Um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und Schadensersatz zu erwirken, bereitete die NTUF in Zusammenarbeit mit medico und dem ECCHR eine Klage gegen den Auftraggeber der Produktion bei Ali Enterprises vor – das deutsche Unternehmen KiK. Hanif wird einer derjenigen, die vor dem Landgericht Dortmund Klage einreichen. Auch wenn die Klage einige Jahre später verloren werden wird, sorgt sie in Deutschland mit dafür, dass ein, wenn auch windelweiches, Lieferkettengesetz eingeführt wird. 

Kampagne mit DGB & Co. 

Die NTUF ist damals noch eine Mini-Gewerkschaft. In zwei Büroräumen im Hinterhof eines gemieteten Gebäudes am Stadtrand arbeiten wenige Aktive dennoch unaufhörlich an dem Fall, aber auch an einer Unmenge von Rechtsanfragen aus anderen Fabriken. Doch die NTUF erhält Zulauf. 2015 startet medico deshalb eine Kampagne: Unterstützt von den Vorsitzenden von DGB, ver.di und IG Metall und mit Parolen wie „Wir sind nicht nur in Gedanken bei den Opfern, sondern handeln jetzt“ werden Spenden für ein neues Gewerkschaftshaus gesammelt. Das Vorhaben gelingt. Die NTUF bezieht ein eigenes Gebäude. Es ist das erste Gewerkschaftshaus in der riesigen Metropole Karatschi, ein infrastrukturelles Rückgrat für die gewerkschaftliche Organisierung. 

In mühseliger Kleinarbeit gelingt es der NTUF, Betriebsgruppen aufzubauen: in Textilfabriken, aber auch in der Automobilmontage, der Schiffsverschrottung, dem Dienstleistungsund Energiesektor. Heute betreibt die Gewerkschaft in sieben Vierteln Karatschis stark frequentierte Stadtteilbüros, in denen Arbeiter:innen, die sich eigene Rechtsanwälte niemals leisten könnten, systematisch geschult werden, Beratung finden und sich organisieren können. Fast tausend Verfahren sind aus diesen Beratungen mittlerweile erwachsen. Seit es in Deutschland ein Lieferkettengesetz gibt, nutzt die Gewerkschaft auch die darin enthaltenen Möglichkeiten. Zahlreiche Beschwerden vor deutschen Kontrollbehörden gegen internationale Auftraggeber – von Zara bis VW – wurden seitdem eingereicht. Das Haus ist auch Domizil einer anderen Partnerorganisation von medico: Die Home Based Women Workers Federation vertritt die Interessen unzähliger entrechteter Heimarbeiterinnen, die so ungeregelt wie ungeschützt zu Hause für den Weltmarkt nähen. 

Landflucht verschärft Ausbeutung 

Die Herausforderungen werden gleichwohl immer größer. Eine gewaltige Landflucht hat die Bevölkerung Karatschis in den vergangenen Jahren auf knapp 30 Millionen Menschen anwachsen lassen. Die Ursachen sind vielfältig: Die Auswirkungen der Klimakrise, von Dürren und Extremhitze bis zur gigantischen Flutkatastrophe 2022, haben Hunderttausende ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Landflucht resultiert aber auch aus den dortigen, von Großgrundbesitz geprägten Eigentumsverhältnissen. Der Umzug in die Stadt ist für viele ein Versuch, sich aus einer Schuldenfalle zu befreien und Zwangsarbeit bei Lehnsherren zu entkommen. Wer gehen kann, geht: Frauen, weil sie in den Städten leichter arbeiten und freier leben können; Jugendliche, weil sie von einer weiterführenden Bildung und einer besseren Zukunft träumen. 

Nicht alle sind arm. An den Rändern Karatschis schießen daher auch riesige Mittelschichtsviertel aus dem Boden. Die große Mehrheit aber kommt in provisorischen Unterkünften und informellen Siedlungen unter. In der Metropole sind sie einer grenzenlosen Konkurrenz „aller gegen alle“ ausgesetzt. Das Überangebot an Arbeitskräften drückt den Preis, erschwert Organisierung und befördert Entrechtung. Eine boomende Branche ist das Sicherheitsgewerbe, wo ein Job für viele Männer vom Land oftmals bedeutet, für einen Hungerlohn den ganzen Tag lang in der glühenden Sonne zu stehen. Mehr denn je wird unter solchen Bedingungen auch für westliche Auftraggeber geschuftet. So hält eine explodierende Zahl von Callcentern diverse Service-, Bestell- und Onlinedienste von den USA bis nach Australien am Laufen. Und trotz der Katastrophe von Ali Enterprises und des Lieferkettengesetzes hat sich auch an den Bedingungen in der Textilindustrie vielerorts wenig bis gar nichts geändert. Arbeiter:innen werden weiterhin um ihren Lohn oder Sozialversicherungsbeiträge betrogen. Selbst endlose Akkordarbeit holt sie nicht aus der Armut. 

Gegen all das setzt sich die NTUF zur Wehr. Die Beharrlichkeit der Gewerkschaft macht Schule. In den vergangenen zehn Jahren haben sie umstandslos an der Seite der Überlebenden und Angehörigen von Ali Enterprises gestanden. So haben sie es geschafft, auch bei anderen Vertrauen aufzubauen und glaubwürdig die Interessen der Ausgebeuteten und Entrechteten zu vertreten. Das Spektrum ist breit und reicht weit über das hinaus, wessen sich Gewerkschaften hierzulande annahmen: Neben Arbeitskämpfen kümmert sich die NTUF um die Organisierung von Klimaprotesten und Widerstand gegen Vertreibungen. Sie leistet Hilfe, wenn Sturzfluten Wohnviertel verwüstet haben, wendet sich gegen den wachsenden Autoritarismus im Land und setzt sich für die Rechte von Frauen, sexueller oder geschlechtlicher Minderheiten ein. Das vor zehn Jahren geschaffene Gewerkschaftshaus hat sich zu einem Zentrum der politischen Organisierung von unten entwickelt – und ist darin längst zu klein geworden. 

Fünf Mal so groß 

Deswegen hat die NTUF den nächsten Schritt gemacht: Die Gewerkschaft ist jetzt erneut in ein neues, mehr als fünf Mal so großes Gebäude umgezogen. Hier soll das Schulungsprogramm für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ausgeweitet werden. Um mehr Menschen über ihre Rechte aufklären zu können, ist außerdem ein eigener Radiokanal geplant. Zentral im neuen Domizil ist ein großer Versammlungsraum, der der Vernetzung dient und auch anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren zur Verfügung gestellt wird. In Karatschi sind solche Räume jenseits kostspieliger Konferenzsäle in Hotels rar. Während hierzulande das mühsam errungene Lieferkettengesetz womöglich wieder abgeschafft werden soll, bleibt den Menschen in Pakistan nur die Selbstorganisierung zur Verteidigung des Mindesten: ihrer Rechte und ihrer Würde. So wichtig der Umzug in das neue Gewerkschaftshaus ist, so sehr war und ist er für die NTUF auch ein finanzielles Wagnis. 

Auch Hanif geht in dem neuen Haus ein und aus. Wie viele andere ist er nicht zuletzt dank der NTUF von einem Überlebenden zu einem Aktivisten geworden. Als engagierter Gewerkschafter unterstützt er Kolleg:innen in anderen Fabriken dabei, sich gegen die widrigen Zustände, ausbleibenden Lohn oder missachtete Unfall- und Arbeitsschutzvorschriften zur Wehr zu setzen. Und er bringt, das Foto belegt es, diesen Protest auch auf die Straße. 

medico unterstützt den Umzug in das neue Gewerkschaftshaus und ist auch dieses Mal hierfür auf Spenden angewiesen. 

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 03/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Karin Zennig

Karin Zennig ist bei medico in der Öffentlichkeitsabteilung für die Region Südasien und das Thema Klimagerechtigkeit zuständig. 

Twitter: @KarinZennig


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