Deutscher Kolonialismus

Keine Versöhnung

Fast 120 Jahre nach dem Genozid an den Ovaherero und Nama brüskiert Deutschland die Nachfahren der Überlebenden.

Von Julia Manek

Einen wunderschönen Blick auf den Atlantik und eine reiche Vergangenheit. Das verspricht eine deutschsprachige Onlineplattform für Tourismus in Namibia. In der Realität flimmert die Luft vor Hitze, die Wege sind staubig. Ein Schild weist den Weg zum Campingplatz. Hier parken Geländewagen, bepackt mit Wasserkanistern und Zeltkonstruktionen, dazu Menschen im Safari-Outfit. Nebenan plätschern die Wellen gegen die felsigen Ufer von Shark Island.

Wo heute der Campingplatz mehrheitlich weiße Tourist:innen auf ihrer Reise durch den Südwesten Afrikas beherbergt, befand sich von 1904 bis 1907 ein Konzentrationslager. Nach den brutalen genozidalen Tötungen, die auf den Vernichtungsbefehl von General von Trotha folgten, standen den deutschen Siedler:innen im damaligen "Deutsch-Südwestafrika" kaum mehr Arbeitskräfte zur Verfügung. Die Überlebenden der Massaker wurden deshalb interniert und als Zwangsarbeiter:innen für deutsche Unternehmen und den Ausbau der kolonialen Infrastruktur missbraucht.

Im Lager fehlte es an dem Nötigsten, von Nahrung bis Kleidung. Was es gab, war exzessive Gewalt der deutschen Soldaten, auch sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder. Selbst offiziellen Angaben der deutschen Kolonialarmee zufolge starben auf Shark Island etwa neun von zehn der 3.500 Häftlinge. Nicht selten wurden die Schädel von Verstorbenen in deutsche Forschungseinrichtungen verschickt, in deren Archiven viele von ihnen bis heute liegen. Offiziell datiert das Ende des Genozids auf 1908. Doch überlebende Ovaherero und Nama, die aus den Konzentrationslagern freigelassen wurden, erlebten weiterhin systematische Überwachung und Diskriminierung; Eigentum war ihnen entschädigungslos genommen worden, Vieh- und Landbesitz war verboten. Der Völkermord war vorbei, die Vernichtung ihrer sozialen Reproduktion und kulturellen Identität hielt an.

Gedenken auf Shark Island

Nach Veranstaltungen, die medico in Deutschland mit Vertreter:innen der Ovaherero und Nama mit organisiert hat, möchte ich mich vor Ort mit den Nachfahren der Überlebenden austauschen. Am 22. April bin ich in Namibia, um dem Gedenktag an den Genozid und der Enthüllung eines Denkmals beizuwohnen. 1985 wurde der Völkermord an den Ovaherero und Nama durch die Vereinten Nationen als erster Genozid des 20. Jahrhunderts anerkannt. Doch bis heute haben die Opfer keine Gerechtigkeit aus dem Land der Nachfahren der Täter:innen erfahren. Vor Ort wird Geschichte fortgeschrieben: In Lüderitz, der Kleinstadt auf der anderen Seite der Bucht von Shark Island, werden vor allem Relikte kolonialer Lebensart konserviert. Deutschsprachige Aufschriften stehen auf Häusern und Straßenschildern. Selbst der Name der Kleinstadt würdigt einen deutschen Unternehmer, der zunächst den Nama per Vertragsschwindel große Ländereien abnahm, dann Schutz für seine Unternehmungen anforderte und somit die kaiserlichen Truppen in das Nama-Territorium holte.

Am Morgen dieses 22. April treffen die ersten Sonnenstrahlen auf den ruhig daliegenden Atlantik. Der am Ufer liegende Versammlungsort, anderthalb Kilometer vom ehemaligen Konzentrationslager entfernt, füllt sich nach und nach. Einige der eintreffenden Gruppen bezeichnen sich als Kommandos; die Männer tragen Uniformen, die in ihren verschiedenen Farben und Schnitten dennoch wenig uniform wirken – eine Anspielung auf jene Monturen, die die Verbände der Nama und Ovaherero den deutschen Soldaten im Kampf abnahmen. Die festlichen Kleider der Ovaherero-Frauen schmückt eine Kopfbedeckung aus Stoff, deren lange Enden Rinderhörnern nachempfunden sind. Die traditionelle Kleidung der Nama besteht aus zusammengeflickten bunten Stofffetzen und erinnert an die Zeit nach der Freilassung aus den Konzentrationslagern, in der sie Fetzen anstelle von Kleidern trugen.

Als der Gedenkmarsch zum ehemaligen Konzentrationslager beginnt, sind einige Hundert Menschen gekommen. Vertreter:innen der namibischen oder der deutschen Regierung sind nicht dabei. Der Marsch führt vorbei an der "Reichsapotheke", der "Turnhalle" und weiter am Industriehafen entlang, wo Container der kürzlich aufgekauften Reederei Hamburg Süd liegen. Wir erreichen den Standort des neuen Denkmals, erhöht in der Mitte von Shark Island, mit Blick auf den Atlantik . Die Stimmung ist feierlich. Es ist das erste Denkmal zur Erinnerung an den Genozid in Lüderitz, erkämpft von den Betroffenen.

Sima Luipert steht im Nama-Kleid vor dem Denkmal. Sie ist eine kleine, wortgewaltige Frau und spricht für die Nama Traditional Leaders Association (NTLA). Sie sagt: "Völkermord ist für diejenigen, die seine Auswirkungen bis in die Gegenwart spüren, eine persönliche Erfahrung. Ich bin die Urenkelin einer Überlebenden von Shark Island. Meine Urgroßmutter musste mit Scherben die Haut von den Schädeln ihrer verstorbenen Verwandten ziehen." Das Leiden beredt zu machen und immer wieder von den Gräueltaten zu erzählen, sieht sie als Teil des Kampfes um Anerkennung der kolonialen Verbrechen und Form der psychischen Heilung an. Im Schatten des Denkmals steht Professor Mutjinde Katjiua, als Paramount Chief der wichtigste Entscheidungsträger der Ovaherero. "Heute ist ein historischer Tag, ein Tag der kollektiven Erinnerung und der Trauer. Hier an diesem Ort, der sämtliches Erinnern zu verunmöglichen sucht, errichten wir ein unübersehbares Monument des antikolonialen Widerstands."

Eine gemeinsame Erklärung, die keine ist

Am Rande der Veranstaltung spreche ich mit Jocelyn Ortmann, der Nachfahrin eines wichtigen Nama-Chiefs, und frage sie nach der Bedeutung des Denkmals für sie als junge Frau. "Gerechtigkeit", sagt sie und fügt hinzu: "Wir stehen hier gemeinsam, auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit. Die deutsche Regierung sollte sich ebenfalls fragen‚ was sie aus der Vergangenheit lernen und jetzt anders machen kann."

Danach sieht es derzeit nicht aus. Nach Jahren der Missachtung hatten Nama- und Ovaherero-Vertreter:innen die Bundesregierung 2017 vor einem New Yorker Gericht verklagt. Anstatt in Kontakt mit den Kläger:innen zu treten, führte die Bundesregierung lediglich Verhandlungen mit der namibischen Regierung, aus denen im Mai 2021 eine "Joint Declaration", eine gemeinsame Erklärung, hervorging. Die deutsche Seite nennt diese Erklärung "Versöhnungsabkommen", und so wird es auch in den deutschen Medien rezipiert.

Sima Luipert sagt über die gemeinsame Erklärung: "Weder ist sie rechtsverbindlich noch in unserem Sinne. Die Erklärung besagt, dass der Genozid nur ‚aus heutiger Sicht‘ als Völkermord betrachtet werden könne." Damit bezieht sich die deutsche Bundesregierung auf das Prinzip der Intertemporalität als den Grundsatz, dass ein rechtlicher Sachverhalt auf Grundlage der zu der jeweiligen Zeit gültigen Gesetze zu beurteilen sei. Luipert: "Der Joint Declaration zufolge hatten die deutschen Soldaten damals also das Recht, ‚die Wilden‘ zu töten. Das Abkommen entschuldigt den Massenmord, erneuert den kolonialen Rassismus und schmückt sich mit Entwicklungshilfe als wohltätiger Geste der Wiedergutmachung. Von Versöhnung keine Spur."

Wenige Tage nach der Rückkehr aus Lüderitz veranstalten die Organisator:innen der Gedenkveranstaltung eine Pressekonferenz in Windhuk . Ihr Widerstand hat wichtige Unterstützung erfahren: Sieben UN-Sonderberichterstatter:innen haben die Joint Declaration in einer Stellungnahme als unrechtmäßig bezeichnet. Paramount Chief Katjiua erklärt: "Die Sonderberichterstatter:innen beanstanden die fehlende Beteiligung der Communities an der Ausarbeitung der Erklärung und fordern die bedingungslose Anerkennung des Genozids, verbunden mit dem Anspruch auf Reparationen, Restitution und Rehabilitation."

Ein alter Mann im Publikum ergreift das Wort, mit zitternder Stimme fordert er die Schließung des Campingplatzes auf Shark Island. Dieser entwürdige das Land der Ahnen. "Ich hoffe, dass ich es noch erleben werde, dass uns Gerechtigkeit widerfährt", schließt er. 50 Jahre habe es gedauert, so Katjiua, bis die Unabhängigkeit Namibias von Südafrika Realität wurde. "Der Genozid ist noch länger her. Aber Gerechtigkeit wird kommen."

Zurück in Deutschland liegt im Juni die Erwiderung zur Stellungnahme der UN-Sonderberichterstatter:innen vor. Es ist wenig überraschend: In gewohnter Manier verteidigt die deutsche Bundesregierung sämtliche Punkte der Joint Declaration und weigert sich weiterhin, in Verhandlungen mit den Communities einzutreten. Ich denke an den Gedenkmarsch und die Pressekonferenz in Namibia. In dem Land mit 2,5 Millionen Einwohner:innen schaffen die Ovaherero- und Nama-Organisationen es immer wieder, gewichtiges politisches Hebelmoment zu erzeugen. In Deutschland mit seinen über 80 Millionen Einwohner:innen, dem Weltmeister des "Versöhnungstheaters", wie es der Publizist Max Czollek nennt, braucht es noch mehr Durchschlagkraft und Solidarität, um ihre Stimmen zu verstärken. Deshalb ist es erfreulich zu erleben, wie Initiativen, die schon seit Jahren den Kampf um Gerechtigkeit für die Nachfahren der Genozid-Überlebenden unterstützen, derzeit Unterstützung durch neue Aktivist:innen und Organisationen erfahren.

Wir werden von ihnen hören.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 03. Juli 2023

Julia Manek

Julia Manek ist Psychologin und Humangeographin. In der Öffentlichkeitsarbeit von medico international ist sie als Referentin für psychosoziale Arbeit tätig.


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