Erdbeben in Haiti

Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden

Vor zehn Jahren fand in Haiti der größte humanitäre Hilfseinsatz der Geschichte statt. Er hat das Land weiter ruiniert. Von Katja Maurer

Seit zehn Jahren beschäftige ich mich mit Haiti. Zum ersten Mal war ich drei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben vor Ort, bei dem schätzungsweise 300.000 Menschen gestorben sind. Ich habe unzählige Vorträge über Haiti gehalten, Texte geschrieben, einen Film gedreht. Immer wieder war dabei Thema, warum die Hilfe als System so versagt hat.

Begann nicht alles mit einem weltumspannenden Gefühl der Solidarität mit Haiti, das sich vor allen Dingen darin begründete, dass wir alle derselben „conditio humana“ angehören? Warum haben ca. 15 Milliarden Dollar Spenden und öffentliche Gelder nicht dazu geführt, dass Menschen in Haiti heute einen besseren Zugang zu Bildung, zu Nahrung und Wohnraum, also zu einem Leben in Würde haben? Warum haben hunderttausende – allein offiziell 200.000 nach Chile und 70.000 in die USA – das Land verlassen, um wenigstens für ihre Kinder ein besseres Leben anderswo zu erreichen? Warum muss niemand dafür Verantwortung übernehmen, dass es nicht gelungen ist, wie versprochen „Haiti besser wieder aufzubauen“? Warum gab es nicht einmal für die 10.000 Cholera-Toten, die starben, weil UN-Soldaten die Krankheit nach dem Erdbeben nach Haiti brachten, irgendeine Form des juristischen Nachspiels oder wenigstens eine Anerkennung durch Entschädigung für die Angehörigen?

Ansturm eines selbstherrlichen Neoliberalismus

Ich könnte die Fragenliste endlos verlängern. Ich kann keine der Fragen beantworten. Denn wir leben in einer Zeit der „organisierten Unverantwortlichkeit“ (Ulrick Beck), die System hat. Sie wütete in Haiti besonders stark, weil das Land aufgrund seiner komplexen Geschichte, in der Auslandsschulden gleich nach der Unabhängigkeit und langjährige US-Interventionen eine zentrale Rolle spielen, schon vorher kaum über Institutionen verfügte, die sich gegen den Ansturm eines selbstherrlichen Neoliberalismus hätten zur Wehr setzen können.

Die Erdbebenhilfe folgte einem Masterplan des neoliberalen Ökonomen Paul Collier, den er 2009 im Rahmen der UNO für Haiti entwickelt hatte. In aller Kürze zusammengefasst sah er vor, dass Haiti durch Sicherheitstruppen befriedet werden müsse, was die Minustah unter brasilianischer Führung – wie Collier meinte – prima mache. (Die Brasilianer kennen das Problem der eigenen Favelas und finden Haiti dagegen harmlos, schrieb er in einem Guardian-Artikel) Dann gehe es um Aufbau einer Infrastruktur, u.a. einen Hafen im Norden, der das einzige, was Haiti zu bieten habe, nämlich billige Arbeitskräfte für die Textilproduktion, dann auch attraktiv für ausländische Investoren mache.

Genau dieser Plan wurde nach dem Erdbeben mit dem vielen Geld auch umgesetzt. Vier Milliarden Dollar flossen in den Freihafen von Caracol im Nordosten des Landes – der aber nie fertiggestellt wurde. Zur Ansiedlung von Textilfabriken kam es auch nicht, mehrere hundert Bauern wurden aber enteignet. Gelder, die in der Folge des Erdbebens locker saßen, wanderten in die Taschen von Bauunternehmern aus der Dominikanischen Republik oder den USA. Der medico-Partner in Haiti, das Menschenrechtsnetzwerk RNDDH, das über viele Jahre die Erdbebenhilfe in eigenen Untersuchungen nachverfolgte, kam zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der Mittel über Gewinne und Gehälter in die beteiligten Institutionen, Organisationen und Unternehmen zurückflossen. Allein der UNO-Militäreinsatz, der längste in der Geschichte der Organisation, kostete täglich eine Million Dollar.

Was hat die Hilfe gebracht?

Auch die Bilanz der Hilfsorganisationen ist im Ganzen nicht viel besser. Ihr großes Projekt bestand in  der Auflösung der Lager, in denen zeitweise bis zu 1,5 Millionen Menschen lebten. Das hat dafür gesorgt, dass das Problem unsichtbar wurde. Bessere Wohnverhältnisse sind nicht entstanden. Nördlich von Port-au-Prince liegt die drittgrößte Stadt des Landes, Canaan. Sie ist nach dem Erdbeben entstanden und verfügt über keine städtische Infrastruktur. Für 300.000 Einwohner gibt es eine einzige öffentliche Schule. Die anderen Überlebenden haben sich in den Elendsvierteln der Hauptstadt wieder notdürftige Behausungen selbst errichtet. Bei einem nächsten Erdbeben werden sie wieder einstürzen.

Ich schreibe das alles auf und höre die naheliegende Frage, die sich den Leser*innen notgedrungen stellt. Was ist mit der medico-Hilfe?

Bevor ich Ihnen jetzt erkläre, dass sich ja unsere Hilfe grundlegend von dem Ansatz der großen internationalen Hilfsorganisationen unterschied und dass Sie deshalb bitte weiter spenden sollen, lege ich Ihnen eine solche Bilanz lieber nicht vor. Ich kann Ihnen anbieten, sich den Film „Haitianische Erschütterung“ anzusehen. Dort werden Sie die medico-Partnerinnen und Partner kennenlernen. Dabei ist nicht die Rede von den Projekten, ihren Erfolgen und Misserfolgen, sondern unsere Partnerinnen und Partner kommen zu Wort mit ihrer Sicht auf die Probleme Haitis.

Hilfe kann im Einzelfall Menschen in Not helfen. Sie kann aber nur dann über das Konkrete hinaus weisen, wenn sie ein Verständnis des Kontextes hat, die eigene Rolle kritisch reflektiert, und an der eigenen Überwindung arbeitet. Die Idee der kritischen Sozialarbeit von „Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden“ war immer ein Leitmotiv des medico-Handelns. Auch in Haiti. Aber gerade dort war es besonders ambivalent, denn das Hilfssystem insgesamt war am Ende angetreten, den eigentlich schon unhaltbaren Status Quo vor dem Erdbeben wieder herzustellen. Im besten Fall hat die Hilfe der NGOs keinen Schaden angerichtet, also den sogenannten Do-No-Harm-Ansatz erfüllt.

Wie aus Hilfsempfänger*innen Objekte der Hilfe werden

Jede Hilfsorganisation ist Teil dieses Systems, das sich in den letzten zwanzig Jahren extrem professionalisiert hat und sich dabei zunehmend einer kritischen politischen Haltung entledigte. Dass medico immer wieder den Versuch unternimmt, sich der Verbetriebswirtschaftlichung von Hilfe entgegenzustellen und stattdessen ein politisches Verständnis von Hilfe weiterentwickelt, macht uns nicht frei von den Zwängen des Systems, dem wir eben – wenn auch kritisch – angehören. Die Zwänge haben uns in der Haiti-Erfahrung manchmal geradezu überwältigt.

Ein Zwang war der sogenannte „Mittelabflussdruck“. Das hätte 2010 durchaus zum Unwort des Jahres getaugt. Er bedeutet unter anderem, dass Hilfsorganisationen im Wettbewerb um die Gunst der Spender*innen und der Medien schnell Projekte vorlegen wollten, die glaubhaft die eigene Wirksamkeit belegen. Sogenannte „Fotoprojekte“. Da schon ereignet sich der Schritt, in dem Betroffene einer Katastrophe zu Hilfsempfänger*innen, also zu Objekten der Hilfe werden.

Im Haiti-Kontext hat sich das immer wieder ereignet, weil die gesamte Aktion der globalen Governance-Struktur, zu der auch die Helfenden gehörten, das Land behandelt hat, als habe zuvor nichts vorgelegen. Der US-amerikanische Anthropologe Mark Schuller, der Haiti viele Jahre beforscht hat, bezeichnet das als „Tabula Rasa Mentalität“. Diese Mentalität ist bekannt. Sie ist die Grundlage jeder kolonialen Siedlerideologie. Und entsprechend haben sich die Helferinnen und Helfer verhalten, die zu tausenden mit guten Absichten in Haiti waren. Unter dem Druck, abrechenbare und sichtbare Projekte abzuliefern, projizierten viele ihre Probleme auf die Haitianer*innen und deren „Kultur“. Das langsame „Ende der weißen Dominanz“, von dem die Journalistin Charlotte Wiedemann in ihrem jüngsten Buch spricht, hat in Haiti einen erheblichen Rückschlag erlitten. Die Rede, dass die Haitianer*innen die Verantwortung für das Scheitern der Hilfe trugen, hat sich durchgesetzt. Und das, obwohl sie fast keine Maßnahme verantworteten.

Es bleibt der Aufstand

Diese ambivalente und erschütternde Erfahrung über die Ohnmacht von Hilfe führte unter anderem dazu, dass medico international gemeinsam mit der Heinrich-Böll- und der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2014 die Konferenz „Beyond Aid“ durchführte. Dort hielt der haitianische Filmemacher Raoul Peck eine Rede, die in ihrer Anklage des Hilfssystems alle Konferenzteilnehmer*innen zutiefst erschütterte, sogar ihn selbst. Auch diesen Ausschnitt der Konferenzdokumentation lege ich ans Herz.

Was bleibt? In Haiti gibt es einen politischen Aufstand, der nicht enden wird. Haiti hat sogar den Anfang der aktuellen weltweiten Revolten gesetzt, die alle etwas radikal Anderes fordern und sich gegen die jeweiligen politischen Klassen ihrer Länder wenden, die nichts anderes im Sinn haben als das Unhaltbare weiter zu erhalten. Dieses Unhaltbare drückt sich auch in dem weltweiten Governance-System aus, zu dessen Bestandteil die Hilfe dort geworden ist, wo sie ihren politischen und kritischen Anspruch aufgegeben hat.

Was bleibt, sind auch die politischen und persönlichen Beziehungen, die meine Kollegin Anne Hamdorf als Projektkoordinatorin und ich mit unseren Partnerinnen und Partnern vor Ort pflegen, genauso wie sie mit uns. Diese Beziehungen, die mehr sind als ein Netzwerk, weil auch ein politisches Einvernehmen darin liegt und nicht Nützlichkeitserwägungen, können manchmal unerwartete Dinge bewirken. So hat beispielsweise das Europaparlament auf Vorschlag der Grünen einen klugen Beschluss zur aktuellen Situation in Haiti gefasst, in dem vor allen Dingen die Menschenrechtsverletzungen und die Straflosigkeit harsch kritisiert werden. Der Beschluss geht insbesondere auf Informationen zurück, die wir von unserer letzten Reise mitgebracht und veröffentlicht haben.

Auch die langjährige EU-Außenkommissarin Frederica Mogherini nahm den Faden des Parlaments in ihrer Abschiedsrede im November dieses Jahres auf. Mit demselben Tenor: Haiti erleide nicht nur eine humanitäre, sondern auch institutionelle Krise, die wesentlich darauf gründe, dass Verbrechen nicht verfolgt würden. Das ist eine offene Kritik am jetzigen Präsidenten, dem massive Korruptionsvorwürfe sowie die indirekte Beteiligung an schweren Verbrechen zur Last gelegt werden – eine Kritik aber auch an allen, die Haiti wie einen Selbstbedienungsladen betrachten.

Das ist hoffentlich mehr als Symbolik, denn die EU und einzelne EU-Staaten wie Frankreich und Deutschland sind Mitglieder der Core-Group, einer Gruppe internationaler Geber in Haiti, die sich bislang mit politischen Äußerungen zur aktuellen Krise zurückgehalten hat und damit auf den Status Quo setzte. Hoffen wir, dass unter der neuen deutschen Kommissionspräsidentin daraus tatsächlich Handlungen erfolgen. Zehn Jahre nach der gescheiterten Hilfe für Haiti ist das das Mindeste was die  sogenannte Internationale Gemeinschaft den betrogenen Haitianer*innen schuldig ist.

Veröffentlicht am 19. Dezember 2019
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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