Revolution der Menschenrechte

Freiheit, Gleichheit, Corona

Warum der aktuelle Streit zwischen Grund- und Freiheitsrechten so wichtig in der fortlaufenden Menschenrechtsdebatte ist.

Von Thomas Rudhof-Seibert

Noch immer ist nicht wirklich klar, wie ernst die mit der Corona-Pandemie aufgebrochene globale Krise werden wird. Deutlich ist nur, dass die Welt nach Corona nicht mehr dieselbe sein wird, im Guten oder im Schlechten. Umso wichtiger sind die Debatten, die darum geführt werden. Umso schlimmer aber, dass sich viele Beiträge im Für und Wider einzelner Corona-Maßnahmen erschöpfen und verkennen, dass wir uns in Wahrheit in einem Streit um unsere Grund- und Menschenrechte und einem Streit zwischen diesen Rechten befinden.

Tatsächlich wurde der zuvor für unmöglich gehaltene Shutdown der Weltwirtschaft durch einen Shutdown eigentlich unaufhebbarer Grundrechte verstärkt: die Aufhebung der Rechte auf freie Bewegung, Begegnung und Versammlung. Während sich eine Mehrheit „vernünftig“ fügt, kämpft eine Minderheit um ihre bedrohte Freiheit, versteht unter Freiheit aber oft eine bloß private Willkürfreiheit: „Freie Fahrt für freie Bürger!“ Dem setzen die Befürworter*innen der Rechtseinschränkungen die Verpflichtung aufs Gemeinwohl und die Solidarität mit den besonders Gefährdeten entgegen. Auch sie aber tun so, als verstehe sich ihre Wahl wie von selbst: als gäbe es im Vorrang des Gemeinwohls vor der Einzelwillkür kein Freiheitsproblem.

Zunächst aber muss der politische Irrtum der „Corona-Rebell*innen“ auf den Prüfstand: Sie unterstellen, der Einschränkung der Grundrechte lägen finstere Absichten der Regierenden zugrunde. Tatsächlich ist es problematischer: Vieles spricht dafür, dass die Regierenden gar keine besondere Absicht verfolgt, sondern schlicht „biopolitisch“ gehandelt haben. Biopolitiken lenken moderne Gesellschaften nicht nach willkürlichen oder gar finsteren Absichten, sondern legen sich uns eher nach der Art einer scheinbar ganz selbstverständlichen Logik auf: im Glauben, schlicht vernunftgemäß zu handeln. Der Begriff der Biopolitik stammt von dem Philosophen Michel Foucault und hebt zunächst einmal hervor, dass sich die scheinbar selbstverständliche politische Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung im Allgemeinen wie der Individuen im Besonderen eben nicht von selbst versteht. Denn tatsächlich waren und sind biopolitische Regierungstechniken nicht nur für unser Wohl, sondern vor allem für das Kapital unerlässlich. Ihm sind die möglichst produktive Einordnung menschlichen Lebens in die Produktion und die Koordination von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum unerlässliche Funktionsbedingungen, ihm geht es darum, unsere körperlichen und geistigen Kräfte optimal zu nutzen und trotzdem gefügig zu halten: „Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits (…) war nichts geringeres als der Eintritt des Lebens in die Geschichte – der Eintritt der Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken.“ Und weiter: „Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.“ Ein Foucault verbundener Philosoph, Giorgio Agamben, sieht in der biopolitischen Logik sogar eine Reduktion des menschlichen auf ein „bloßes“, nur noch biologisches Leben. In der Akzeptanz des Verbots freier Bewegung, Begegnung und Versammlung sieht Agamben die Wendung dieser Reduktion in eine Selbst-Reduktion: Wer sie hinnimmt, mache sich freiwillig zu bloßem Leben.

An dieser Stelle hängt alles daran, dass hier nicht unmittelbar zwischen Freiheit auf der einen und Gesundheit oder Gemeinwohl auf der anderen Seite zu entscheiden ist, sondern zwischen unserem Recht auf Freiheit und unserem Recht auf Gesundheits- bzw. Gemeinwohlsorge. Schließlich geschah die Aufhebung der Grundrechte auf freie Bewegung, Begegnung und Versammlung im Namen eines anderen Grundrechts, des Rechts auf freien und gleichen Zugang aller zu Gesundheit. Wäre das deutlicher geworden, wäre der Streit zwar nicht gelöst, könnte aber auf besserer Grundlage fortgesetzt werden. Er wäre dann nämlich kein Streit um einzelne Regierungsmaßnahmen, sondern ein Streit um deren politischen, moralischen und ethischen Sinn. Denn auch wenn unsere Rechte nicht unabhängig von kapitalistischer Biopolitik sind, gehen sie darin nicht auf. Sie setzen Freiheit und Gemeinwohl gleich, schreiben dem gelingenden Verhältnis von Freiheit und Gleichheit aber den Vorrang einer Freiheit ein, die mehr als Willkür ist. Sehen wir uns das näher an.

Der strittige Charakter unserer Grund- und Menschenrechte hängt am prekären Verhältnis ihrer Ein- und ihrer Vielzahl. Die zu Beginn der Französischen Revolution verkündete erste Menschenrechtserklärung (1789) hat die Vielzahl der Rechte deshalb dem Vorrang der Rechte auf Freiheit, Eigentum und Sicherheit unterstellt und allen Rechten das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung hinzugefügt. Sie hat alle unsere Rechte an den Kampf um diese Rechte, damit aber an unsere Freiheit und Würde gebunden. Dem Begriff der Menschenwürde wurde so seine spezifisch moderne Prägung gegeben, nach der sie an nichts als an unserer Fähigkeit zur Selbstbestimmung aus Freiheit hängt. Das Menschenrecht in seiner Einzahl ist deshalb das Recht auf Rechte als das Recht, die eigene Existenz im Mitsein mit Anderen frei zu bestimmen. Die Vielzahl der Menschen-, Grund- und sonstigen Rechte soll dann die politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen garantieren, um Menschenrecht und Menschenwürde allen gleich zugänglich zu machen. Das gilt auch für das Recht auf Zugang zu Gesundheit und das Recht auf freie Bewegung, Begegnung und Versammlung. Der aktuelle Streit zwischen diesen Rechten hat sich deshalb am Recht auf freie Selbstbestimmung zu messen – und an dem, was wir darunter verstehen.

Soll dieser Streit ein gutes Ende finden, ist es hilfreich, sich seiner über zweihundertjährigen Geschichte zu erinnern. Tatsächlich hat es nicht lange gedauert, bis die Menschenrechte nicht nur gegen ihre erklärten Verächter, sondern auch gegen Mächte verteidigt werden mussten, die sich selbst aufs Menschenrecht beriefen. Noch in der Französischen Revolution haben dies die Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation und die ersten Arbeiter*innenclubs tun müssen. In der Haitianischen Revolution (1791) griffen aus Afrika verschleppte Sklav*innen zu den Waffen, um ihr Menschenrecht gegen Soldaten der französischen Revolutionsarmee zu verteidigen, denen dieses Recht nur für Menschen weißer Hautfarbe galt.

In dieser Geschichte hat sich die permanente „Revolution der Menschenrechte“ fortlaufend näher bestimmt. So folgten auf die politischen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte: Ihre Erklärung wäre ohne die Oktoberrevolution kaum möglich gewesen. Im Gefolge der antikolonialen Revolutionen und der heute erst beginnenden sozialökologischen Revolution kommt es seit einigen Jahren zu ersten Erklärungen kollektiver Menschenrechte wie dem Selbstbestimmungsrecht der Völker einschließlich des Rechts auf eigene Entwicklung, dem Recht auf Frieden, auf eine saubere Umwelt, auf einen gerechten Anteil an den Schätzen der Natur, auf die eigene Kultur und auf Kommunikation.

Von besonderer Bedeutung in der Corona-Pandemie ist eine weitere menschenrechtsrevolutionäre Auseinandersetzung. Seit einiger Zeit wird ein eigener Kampf geführt, in dem es zwar nicht um eine vierte Generation von Menschenrechten geht, aber darum, den Menschenrechten auch in dem bisher menschenrechtsfreien Raum der Herstellungs- und Lieferketten des globalen Kapitalismus Geltung zu verschaffen. Wie entscheidend das zugleich für das Leben wie die Würde von Menschen ist, zeigte der Shutdown der globalen Herstellungs- und Lieferketten. Er hat binnen weniger Tage Millionen von Menschen in Pakistan, Bangladesch und anderen Ländern des globalen Südens in die völlige Einkommenslosigkeit, in Hunger und Obdachlosigkeit gestürzt, und das mitsamt ihren Familien, also jeweils mit fünf, sechs, acht oder neun anderen pro entlassener Arbeiterin. Im selben Zug wurden diese Menschen ein weiteres Mal der Erfahrung grenzenloser Verachtung ihrer Würde ausgesetzt: von einem Tag auf den anderen zu den Weggeworfenen dieser Welt zu gehören, mit einem Schnippen des Fingers derer, die zu solcher Verachtung die Macht – und auch das Recht haben. Das Recht auf Handelsfreiheit aber widerspricht nicht nur einer Vielzahl anderer Rechte: Es widerspricht allem voran der Unteilbarkeit der Ein- wie der Vielzahl des Menschenrechts.

Dabei hat die Unteilbarkeit aller Menschenrechte in ihrer 1948 verkündeten und verbindlich beschlossenen Allgemeinen Erklärung einen eigenen Ort gefunden. Er findet sich in ihrem §28 und lautet: „Jede hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“ Die von allen Mitgliedsstaaten der UN und so auch von der Bundesrepublik unterzeichnete und damit als verbindlich anerkannte Erklärung spricht an dieser Stelle bewusst von der „vollen Verwirklichung“ der Menschenrechte, nicht von einer bloß teilweisen. Sie ist auch keine bloße Absichtserklärung, sondern eine alle Politik bindende Verpflichtung. Sie umschließt ausnahmslos alle anderen Menschenrechte, die bereits erklärten wie die, um deren Erklärung heute, morgen und übermorgen noch gerungen wird. Ihr Maß findet sie einzig und allein an dem Menschenrecht, die eigene Existenz im Mitsein mit anderen frei bestimmen zu können und darin der eigenen wie der Menschenwürde aller teilhaftig zu sein. Die materiellen und die politischen Mittel zu einer solchen globalen politischen Lösung, das belegt die Corona-Krise, sind längst gegeben: Wenn es möglich ist, den Hochgeschwindigkeitssturmlauf des globalen Kapitals in Wochenfrist zu stoppen, dann ist noch viel mehr möglich.

Was dazu allerdings fehlt, sind der politische Wille und die politischen Kräfte. Deshalb ist der Streit zwischen dem Recht auf Zugang zu Gesundheit und dem Recht auf freie Bewegung, Begegnung und Versammlung so wichtig. Beide Positionen dieses Rechtsstreits müssen sich zugleich vor dem Menschenrecht auf freie Selbstbestimmung und vor dem §28 rechtfertigen. Nur dann fällt die Berufung auf das Menschenrecht auf Zugang zur Gesundheit nicht mit der biopolitischen Reduktion des menschlichen Lebens zusammen. Nur dann fällt die Berufung auf das Recht zu freier Bewegung, Begegnung und Versammlung nicht mit der bloßen Willkür derer zusammen, die zufälligerweise den globalen Norden bewohnen. Beide Positionen müssen ihre Rechtsforderung für ausnahmslos alle und jede Einzelne geltend machen.

Kommt aktuell dem Recht auf freien und gleichen Zugang zu Gesundheit ein nicht abzuweisender Vorrang zu, fordert der Streit ums Menschenrecht dessen Ausbalancierung durch die Rechte auf freie Bewegung, Begegnung und Versammlung. Dieses Ausbalancieren muss dann aber alle anderen Menschenrechte zu einer globalen sozialen Infrastruktur freien und gleichen Existierens zusammenschließen. Den Ernstfall bezeichnen dann die Migrant*innen und Vertriebenen aller Länder, auf die überall auf der Welt Jagd gemacht wird, denen deshalb vor allem anderen das Recht auf Rechte zugesprochen werden muss. Die nächste Probe dazu markiert heute der Streit für den freien und gleichen Zugang ausnahmslos aller zu einem Impfstoff gegen den Virus. Um ihn führen zu können, brauchen wir das Recht auf Zugang zu Gesundheit wie das Recht auf freie Bewegung, Begegnung und Versammlung.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 16. September 2020
Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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