CaravanaMigrante

Exodus

Die Karawane der Migrant_innen lässt sich auf ihrem Marsch durch Mexiko trotz Krankheiten, leere Versprechen und die Bedrohungslage durch die Drogenkartelle nicht beirren. Von Moritz Krawinkel, Veracruz

  • Ein weiterer Blog mit mehr Hintergrundinformationen zu den Gründen des Exodus findet sich hier.

In der Dunkelheit des frühen Morgens drängen sich Tausende auf dem Platz vor der Markthalle in Sayula de Alemán im mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Nach 130 Kilometern Strecke am gestrigen Tag haben die meisten von ihnen die Nacht in der Halle verbracht. Dem heftigen Regen der Nacht waren sie diesmal nicht ganz schutzlos ausgeliefert. Dennoch: Viele husten, es ist deutlich kühler geworden als es in den letzten Tagen war. Aus den die Karawane begleitenden Gesundheitsdiensten heißt es, jedes der mindestens 1000 mitreisenden Kinder sei krank. Jedes Kind. Sie leiden besonders unter den Strapazen der Reise, dem Regen, der Hitze und dem Stress. Die Versorgung, die die Menschen nach stundenlangen Tagesmärschen in den improvisierten Camps erwartet, ist minimal: Essen, das von Menschen aus den Orten gebracht wird, Wassertanks der Stadtverwaltung, oft nur ein paar Planen als Schutz wahlweise vor dem tropischen Regen oder der glühenden Sonne.

Die Menschenmenge auf dem Platz in Sayula wartet auf Busse, die ihnen der Gouverneur von Veracruz, Miguel Ángel Yunes, gestern abend zu schicken versprochen hatte. In einer Video-Botschaft sagte er, die Migrant_innen würden nach "Mexiko-Stadt oder an einen anderen Ort ihrer Wahl" gebracht. Padre José Luís, Menschenrechtsverteiger in Veracruz, zeigt mir auf seinem Smartphone einen Chat mit einem Vertreter des Gouverneurs, in dem dieser ihm die Bereitstellung von 150 Bussen bestätigt. "Cuenten con ellos", schreibt er. "Sie können darauf zählen."

Was die tausenden Migrant_innen zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Es gibt eine zweite Ansprache des Gouverneurs, in der er zurückrudert. Der Druck der mexikanischen Zentralregierung scheint so groß gewesen zu sein, dass das Angebot zurück genommen und stattdessen angeboten wird, die Karawane zunächst in einer größeren Stadt im Süden von Veracruz unterzubringen. Süden! Undenkbar für die, die nur nach Norden wollen. Grund für den Sinneswandel, so begründet es der Gouverneur, sei die Tatsache, dass in Mexiko-Stadt für mehrere Tage das Wasser abgestellt würde und die Behörden mit der Versorgung der 7 Millionen Menschen in der Hauptstadt ausgelastet seien.

Jedes Kinder in der Karawane ist krank

Die Menge vor der Markthalle wird unruhig, die Menschen verlieren die Geduld. Immer wieder rufen vor allem junge Männer "¡Vámonos!", "Gehen wir!". Auf der Landstraße, die an der Halle vorbeiführt und auf der sie gestern hierhergekommen sind, wird es hektisch. Kleinere Gruppen rennen zu Trailern, die nur langsam auf der vollen Straße vorankommen, hängen sich an LKW, klettern auf Pick-Ups. Ein Mann mit Warnweste und Megaphon will sie davon abhalten, lügt: "Habt Geduld, die Busse werden kommen!" Gruppen junger Männer gehen trotzdem los, rufen, wollen andere animieren. Schließlich steigen die Meisten wieder herunter von den LKW, nur eine kleine Anzahl ignoriert die wiederholten Warnungen vor den Gefahren des vereinzelt Reisens.

Jeder durchfahrende Linienbus wird als vermeintliche Vorhut der versprochenen Busse begrüßt. Lange wird die Menge nicht mehr zurückzuhalten sein, zu stark ist das Bedürfnis in Bewegung zu bleiben. Eine Aufspaltung der Karawane, insbesondere in Veracruz, würde die Gefahr für die Menschen erheblich erhöhen. Edgar, Vertreter einer Menschenrechtsorganisation aus Veracruz hatte mir bereits gestern, wenige Kilometer vor der Landesgrenze, gesagt, er halte es für gar keine gute Idee, dass die Karawane diesen Weg eingeschlagen habe. Die Migrant_innen seien leichte Beute für die Kartelle. Selbst Gruppen würden entführt, von Verwandten Lösegeld erpresst, Raubüberfälle auf die durchreisenden Menschen seien an der Tagesordnung. Erst Anfang September wurde ein Massengrab mit über 170 Toten entdeckt, die dem Krieg der Kartelle zum Opfer gefallen sind. In ganz Mexiko wurden zwischen 2007 und Sommer 2018 insgesamt 1307 solcher Gräber gefunden.

Zu Fuß durch eine der gefährlichsten Regionen Mexikos

Dann, gegen 6 Uhr, kommt Bewegung in die Menge auf der Straße. Alle drängen zurück auf den Platz vor der Markthalle. Eine Versammlung würde stattfinden, heißt es. Und tatsächlich, nachdem vorher kaum eine Koordination wahrnehmbar war, stehen nun Vertreter_innen der Gruppe Pueblos sin Fronteras, die eine führende Rolle bei der Organisation der Karawane übernommen hat, auf einem Tankwagen und richten sich an die kaum überschaubare Menge auf dem Platz. Eine Entscheidung müsse getroffen werden, sagen sie und spielen den Menschen, verstärkt über ein Megaphon, die beiden Ansprachen des Gouverneurs vor. Tausende Menschen hören mit offenem Mund, wie das Versprechen, das sie gestern abend noch ausgelassen gefeiert haben, sich in Luft auflöst. Der Sprecher der Menschenrechtskommission aus Mexiko-Stadt ergreift das Wort und widerspricht dem Gouverneur: Es gebe bereits Absprachen mit dem Bürgermeister der Hauptstadt, der Ort, an dem die Migrant_innen unterkommen können, stehe bereits fest. "Die Stadt ist ab heute bereit, Sie aufzunehmen", endet er. "¡Vámonos!" antwortet es tausendfach.
 

"Wir müssen jetzt entscheiden, was wir tun", sagt die Vertreterin von Pueblos sin Fronteras, aber zuvor müssten die Menschen noch etwas wissen. Sie übergibt an den Repräsentanten der Menschenrechtskommission von Oaxaca, die die Karawane auf dem ganzen Weg durch den Bundesstaat begleitet hat. "Wir sind hier in einer der gefährlichsten Regionen des Landes", sagt er. Die Präsenz des Staates bei der Karawane habe bereits jetzt abgenommen, wie alle sehen könnten: "Weniger Polizei, weniger Gesundheitsdienste." Eindringlich spricht er zu den Menschen, erklärt die Gefahren. "Wir müssen uns selber schützen, wir müssen, so gut es geht, zusammen bleiben." Das ist das Signal zum Aufbruch. Als Ziel rufen die Organisator_innen die Kleinstadt Isla aus: 60 Kilometer von Sayula. 60 Kilometer nach Norden.
 

Viele bezeichnen die Karawane als Exodus aus Mittelamerika. Heute morgen stimmt das Bild. Nach Juchitán war die Masse zersplittert, schien es als würde sie sich verlaufen. Heute nicht. Heute sind es mindestens 10.000 Menschen, die sich aufmachen. Die Schätzungen von nur 4000 oder auch 7000 Menschen sind nach dem was ich heute gesehen habe viel zu niedrig. Sie schultern Rucksäcke, klemmen Kleiderbündel unter die Achseln, nehmen Kleinkinder auf den Arm oder an die Hand und laufen los. Ein Exodus.

Veröffentlicht am 03. November 2018

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist der Soziologe in der Redaktion tätig und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr


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