2 Jahre Pandemie

Die Welt war und ist nicht solidarisch

Inmitten der Omikron-Welle: Ein Interview mit Mark Heywood aus Südafrika über die Ignoranz des globalen Nordens und welche Lehren man aus der HIV-/AIDS-Krise hätte ziehen können.

medico: In deutschen Medien wird gerade viel über Südafrika berichtet. Dabei geht es vor allem um die neue Corona-Variante Omikron. Wie ist die aktuelle epidemische Lage in Südafrika?

Mark Heywood: Die Lage ist sehr ernst. Südafrika ist schon vor Omikron von Covid-19 schwer getroffen worden. Die offiziellen Zahlen sprechen von 92.000 Toten. Die Übersterblichkeit liegt aber weit höher, so dass wir von rund 270.000 direkten oder indirekten Pandemieopfern ausgehen müssen. Ich würde sogar sagen, dass Südafrika eines der am schwersten betroffenen Länder überhaupt ist. Aktuell stehen wir am Beginn einer vierten Welle und diese wird von Omikron angetrieben. Die Neuinfektionen steigen dramatisch. Momentan ist fast jeder dritte Test positiv. Es sind also abermals schwierige Zeiten. Es ist sehr schwierig, gefährlich und folgenreich für das Leben der Menschen – vor allem für das Leben der armen Bevölkerung. Sie leiden in jeder Hinsicht am meisten unter Corona.

Südafrika hat sehr schnell über die Entdeckung der neuen Variante berichtet. Schnell waren auch die Reaktionen aus Europa und anderen Ländern: Sie verhängten Reisebeschränkungen über das gesamte südliche Afrika. Was bedeutet das für das Leben der Menschen vor Ort und wie wird diese Reaktion wahrgenommen?

Südafrika hat getan, was jedes Land der Welt tun sollte: Wir haben Transparenz geschaffen. Sobald die neue Variante entdeckt war, haben wir die Welt darüber informiert. Bedauerlicherweise haben wohlhabende und mächtige Länder genau so reagiert, wie sie es in der gesamten Pandemie tun: Sie handeln unvernünftig, willkürlich und unwissenschaftlich. Sie orientieren sich ausschließlich an dem, was sie für ihr Eigeninteresse halten. In all dem liegen sie jedoch vollkommen falsch. Die Folgen der Reiseverbote für Südafrika sind massiv. Für das gesamte südliche Afrika ist der Tourismus wirtschaftlich sehr wichtig. Die Reiseverbote sind genau mit dem Beginn der Hochsaison in Kraft getreten. Das trifft unzählige Menschen ganz unmittelbar, es kostet Jobs und erzeugt neue Nöte.

Die Maßnahmen haben also verheerende Folgen – nur eines haben sie ganz bestimmt nicht bewirkt: die Ausbreitung von Omikron zu verhindern. Als die Mutation in Südafrika entdeckt wurde, war sie in Europa und anderswo längst virulent. Das zeigt sich jetzt zum Beispiel in Großbritannien. Trotz der dummen Maßnahmen, die die Regierung in London ergriffen hat, breitet sich Omikron dort in Rekordtempo aus.

Du hast es schon erwähnt: Schon vor Omikron hat die Pandemie Südafrika mit voller Wucht getroffen. Kannst du skizzieren, was sie in der südafrikanischen Gesellschaft angerichtet hat?

Die Corona-Krise hat Südafrika um mindestens zehn Jahre zurückgeworfen. Über zwei Millionen Arbeitsplätze sind verloren gegangen, viele Menschen sind von Hunger betroffen. Auch Ängste, psychische Probleme und die Zahl von Suiziden haben massiv zugenommen. Die verheerenden Auswirkungen haben vor allem drei Gründe: Da ist erstens das Virus und was es im menschlichen Körper anzurichten vermag. Da ist zweitens das Verhalten unserer Regierung, das in vielerlei Hinsicht schlecht war. Und da ist drittens das Verhalten der Welt, vor allem der wohlhabenden Länder des Nordens. Sie waren nicht solidarisch und haben keine Unterstützung geleistet. Sie haben nicht anerkannt oder anerkennen wollen, dass ärmere Länder dem Virus weit schutzloser ausgeliefert sind als sie selbst.

Lass uns kurz in der Zeit zurückspringen, zum Ende des 20. Jahrhunderts. Südafrika litt damals extrem stark unter der HIV/AIDS-Krise. Damals entstand aber auch eine Bewegung, die sich für das Recht auf Zugang zu Medikamenten und gesundheitlicher Versorgung einsetzte – mit beachtlichen Erfolgen. Du selbst warst damals einer der treibenden Akteure. Kannst du davon erzählen?

In der Tat ist Südafrika von der HIV/AIDS-Pandemie sehr, sehr hart getroffen worden. Schätzungen gehen davon aus, dass in Südafrika drei Millionen Menschen an AIDS gestorben sind. Das hat – genau wie bei Covid – sehr viel mit Ungleichheit und Armut zu tun. Die Krise begann Mitte der 1980er Jahre und erreichte um die Jahrtausendwende herum ihren Höhepunkt. Ende der 1990er Jahre waren endlich wirksame antiretrovirale Medikamente auf dem Markt. Doch sie waren durch Patente geschützt, dadurch extrem teuer und somit für die Menschen in Südafrika unerschwinglich. Wir kamen damals zu dem Schluss, dass es eine soziale Bewegung und eine breite Mobilisierung braucht. Nur wenn die arme Bevölkerung eine Art Gegenmacht bildet, kann sie das Recht auf Gesundheitsversorgung einfordern und Gesundheit als Menschenrecht geltend machen.

So entstand die Treatment Action Campaign. Getragen von einer breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung konnten wir einige der mächtigen Pharmakonzerne wegen ihrer Preispolitik von HIV-Medikamente verklagen. Wir erzeugten Druck – sowohl auf der Straße als auch vor Gericht – und bildeten Allianzen mit Initiativen überall auf der Welt, auch in Deutschland. All das hatte Erfolg. Die Preise sind massiv gesunken. Heute nehmen rund fünf Millionen Menschen in Südafrika die nötigen Medikamente ein, jeden Tag, ohne Zutun des Staates.

Ich will es so sagen: AIDS war und ist eine absolute Tragödie. Es gibt darin aber auch die Erfahrung, dass die Zivilgesellschaft den Verlauf einer Pandemie verändern kann – wenn sie sich organisiert. Selbst arme Menschen sind dann in der Lage, die mächtigsten Firmen der Welt zu besiegen. Es geht also um Solidarität und es braucht kluge Organisierung und Strategien. Die damalige Bewegung in Südafrika hat nicht nur unzählige Leben in Südafrika gerettet. Sie hatte auch weltweite Auswirkungen, weil sie ein Beispiel gegeben und Wege aufgezeigt hat.

Heute fegt das Corona-Virus über den ganzen Globus. Und Impfstoffe sind bis heute fast nur in reichen Ländern verfügbar. Fühlt sich das wie ein Déjà-vu an?

Auf jeden Fall. Die AIDS-Krise war geprägt von einer globalen Spaltung: In reichen Ländern konnten Infizierte Medikamente nehmen, in armen Ländern starben sie. Genau das wiederholt sich. Schnell wie nie sind Impfstoffe entwickelt worden. Für mich sind es Gemeingüter, die der ganzen Welt gehören. Auch wenn sie in bestimmten Ländern entwickelt wurden, basieren sie auf einem universellen Wissen, zu dem Wissenschaften überall auf dem Globus beigetragen haben. Dieses allgemeine Wissen ist von Pharmafirmen praktisch „entführt“ worden: Sie haben es sich privat angeeignet und machen damit unverschämt hohe Profite.

Die Folgen sind bekannt: In Deutschland liegt die Impfrate bei 70 Prozent. In Südafrika liegt sie bei 15 Prozent, in Afrika insgesamt bei gerade einmal 6 Prozent. Menschen sterben, weil sie keinen Zugang zu Impfstoffen haben. Und das liegt eindeutig daran, dass die Pharma-Unternehmen ihre Patente schützen und nicht bereit sind, ihr Wissen zu teilen. Südafrika ist sehr wohl in der Lage, Impfstoffe herzustellen. Auch Brasilien und viele andere Länder sind das. Wir dürfen das aber nicht tun, weil die Konzerne ihre Monopole verteidigen. Das ist grundfalsch und muss überwunden werden.

Während der Corona-Pandemie wurde in Südafrika die C19 People's Coalition gegründet. Es ist eine breite gesellschaftliche Basis-Bewegung. Du bist dort selbst aktiv. Was ist die Idee dahinter und ist das auch ein Nachhall der Erfahrungen aus der HIV/AIDS-Krise?

Wir haben diesen Zusammenschuss zahlreicher Organisationen und Initiativen sehr früh gegründet, im April 2020 – da war Corona noch sehr neu in Südafrika. Die Idee ist einfach: Wir kämpfen gemeinsam für Gerechtigkeit und einen guten Umgang mit der Corona-Krise. Dabei geht es natürlich auch um den Zugang zu Impfstoffen. Welchen Einfluss das hat, lässt sich noch nicht abschließend sagen. Was ich aber unbedingt sagen würde, ist das: In globaler Dimension hat es eine kritische Zivilgesellschaft nicht verstanden, eine starke Stimme in der Pandemiebekämpfung zu werden. Sie hat es nie an den Tisch geschafft, an dem über den Umgang mit Covid-19 verhandelt und entschieden wird.

Das ist der große Unterschied zu damals: Es ist uns bis heute nicht gelungen, die eklatanten Ungleichheiten auf die Agenda zu setzen und es zum politischen Anliegen von Millionen zu machen. In der AIDS-Krise hat das geklappt: Die Gesellschaft hat die Situation armer Schichten wahrgenommen. Und wir haben die Unterstützung der Mittelschichten, auch in den sogenannten entwickelten Ländern gewonnen. Genau das ist in der Covid-Krise nicht der Fall. Daraus lässt sich etwas lernen: Man kann protestieren, auf das Offensichtliche verweisen und die Pharmafirmen mit scharfen Worten anprangern. Wenn man aber nicht die Basis der Gesellschaft in Bewegung bringt und dadurch Macht aufbaut, wird man nichts verändern.

Nicht zuletzt wegen Omikron hat Deutschland die Gabe von Impfstoffen an die COVAX-Initiative reduziert. Bevor eine Krankenschwester im globalen Süden eine erste Impfung bekommt, erhält in Deutschland jede:r erst einmal eine dritte. Und dann gibt es einen nicht unerheblichen Anteil, der gar keine Impfung will, zudem gibt es massive Proteste von rechts gegen die Corona-Politik. Wie kommen solche Nachrichten aus Deutschland bei dir an?

Es ist erschütternd und ärgerlich. Und obwohl ich nie ein Freund der COVAX-Initiative war, ist es kaum zu glauben, dass die reichen Länder ihre Lieferungen von Impfstoffen an diese Initiative jetzt noch einmal reduziert haben. Für mich bestätigt das einmal mehr: Wir wollen keine Spenden, keine milden Gaben und keine Wohltätigkeit. Es geht – ähnlich wie damals bei HIV – um bezahlbare Preise, um einen Technologietransfer und die Möglichkeit, so viel Impfstoff zu produzieren, wie möglich. Und das heißt auch, an allen Orten, wo es möglich ist. Wir sind Aktivist:innen. Und ganz gleich, wo wir leben: Wir sollten aufhören, den ganzen Tag in Zoom-Konferenzen und in unseren Büros zu sitzen. Wir sollten rausgehen und uns an die Arbeit machen. Das ist die Voraussetzung für jede Bewegung in der Geschichte gewesen.

Interview: Steen Thorsson
Übersetzung: Christian Sälzer 

Zu hören sind dieses Interview und weitere Stimmen zum systemischen Pandemieversagen in der neuen Folge des medico-Podcasts GLOBAL TROUBLE: „Boosterkapitalismus“

Mark Heywood ist Menschenrechtsaktivist in Südafrika mit dem Schwerpunkt Recht auf Gesundheit und seit vielen Jahren ein medico-Partner. Er war 1998 einer der Mitgründer der Treatment Action Campaign, die mit ihrem Einsatz für den Zugang zu HIV-Medikamenten weit über Südafrika hinaus bekannt geworden ist. Aktuell ist er Mitherausgeber der zivilgesellschaftlichen Rubrik, Maverick Citizen, in der meistgelesenen Online-Zeitung Südafrikas, dem Daily Maverick.

Veröffentlicht am 22. Dezember 2021

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