Frauenrechte im Irak

Die nächste Generation

Vielerorts haben feministische Bewegungen Straßen und Diskurse besetzt. Ein Interview mit der Aktivistin Nadia Mahmood über die Herausforderungen im Kampf um die Rechte von Frauen im Irak.

medico: Du hast einmal gesagt, in den Massenaufständen im Irak im Oktober 2019 habe sich eine neue feministische Bewegung konstituiert. Wie meinst du das?

Nadia Mahmood: Schon im sogenannten Arabischen Frühling spielten in vielen Ländern Frauen eine bedeutsame Rolle. Das hat sich 2019 wiederholt, zuerst im Libanon und davon inspiriert im Herbst im Irak. Frauen haben die Proteste mitorganisiert und zentrale Plätze besetzt. Besonders junge Frauen standen in den vordersten Reihen der Bereitschaftspolizei gegenüber und schützten die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz. Studentinnen widersetzten sich den Anordnungen ihrer Universitätsverwaltungen, Ärztinnen und Krankenschwestern pflegten die Verletz ten. Frauen sprayten Graffitis, organisierten Lesungen und informierten die Welt mittels der (sozialen) Medien. Und sie verteidigten ihr Recht, gleichberechtigt mit den Männern zu kämpfen. All das war ein Bruch mit sozialen und politischen Tabus und hat dazu beigetragen, dass viele eine Vision für sich selbst und für eine Gesellschaft, in der sie leben wollen, entwickelt haben.

Im September 2021 habt ihr die „Aman Organization for Women“ in die „Aman Women Alliance“ umbenannt. Warum?

Viele Nichtregierungsorganisationen im Irak versuchen, Frauen zu unterstützen, indem sie über „die Stärkung durch Ausbildung“ oder ihre Beteiligung an der Friedensbildung sprechen. All das geschieht in Form von Projekten und ist oft stark neoliberal gefärbt. Wir haben den Namen geändert, um deutlich zu machen, dass wir einen ganz anderen Ansatz verfolgen. Wir leisten keine humanitäre Hilfe und organisieren auch keine Wohltätigkeit. Wir verstehen uns als Bewegung und wir arbeiten unabhängig von der Regierung und internationalen Akteuren. Wir wollen zur Bewusstseinsbildung beitragen und über die Ursachen der Unterdrückung von Frauen aufklären. Und wir wollen den Widerstand der Frauen stärken, sei es zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Schule, an der Universität und anderen öffentlichen oder privaten Räumen.

All das ist nötig, denn trotz manch positiver Entwicklungen leiden Irakerinnen weiterhin unter Gewaltverhältnissen. Viele können nicht einmal allein entscheiden, ob sie einkaufen gehen, einen Arzt aufsuchen oder mit wem sie sich treffen. Nur 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung sind Frauen. Und das liegt nicht an mangelnder Bildung oder fehlenden akademischen Abschlüssen, es gibt unzählige arbeitslose Irakerinnen mit Doktor- oder Mastertiteln. Irakerinnen haben also ein Problem mit klassen- und männerdominierten Strukturen. Aman bedeutet „Sicherheit“ und damit meinen wir soziale, wirtschaftliche und politische Sicherheit. Das schließt die physische Sicherheit ein. Tatsächlich werden viele Aktivistinnen massiv bedroht, einige wurden umgebracht. Bei Aman gibt es Juristinnen, die reaktionäre Gesetze anfechten und sich an der Strafverfolgung von Gewalt an Frauen beteiligen.

Eine zentrale Idee von Aman ist, Erfahrungen an jüngere und neu politisierte Frauen im Irak weiterzugeben. Sind die mehrmonatigen „Feminist Schools“, die Aman 2021 organisiert hat, ein Weg dazu?

Ja, allerdings funktionieren sie generations- und länderübergreifend. In den Kursen kommen Frauen verschiedener Generationen zusammen und es waren Teilnehmende aus dem Libanon, Ägypten, Syrien und Nordafrika dabei. Frauen wollen mehr über Gendergerechtigkeit, Kämpfe der Frauenrechtsbewegung und feministischen Aktivismus in aller Welt erfahren. Die Resonanz ist so groß, dass wir weitere Feminist Schools organisieren. Das Ganze wirkt auch nach. Zum Beispiel haben Frauen danach Film- oder Leseclubs gegründet, viele Gruppen sind weiterhin gemeinsam aktiv. Bei all dem erleben wir junge Männer als Mitstreiter. Sie haben gesehen, was Frauen während des Aufstands geleistet hatten, und sich von ihrem Mut anstecken lassen. Schon 2021 gab es eine Feminist School nur für Männer. Seit diesem Jahr finden die Kurse gemischtgeschlechtlich statt.

Wie gut gelingt der Austausch zwischen den Generationen?

Wir lernen voneinander. Ich finde es zum Beispiel sehr interessant, dass die jüngeren Frauen einen anderen Diskurs führen: Sie sprechen nicht mehr allgemein über „die Rolle der Frau in der Gesellschaft“. Sie sprechen von diskriminierten Frauen, von verletzten Frauen, von Frauen mit Interessen, Rechten und Forderungen und meinen damit auch immer sich selbst. Sie verstehen sich als Subjekte – von Unterdrückung und des Widerstandes. Das soll nicht heißen, dass sich die neue Generation nicht in die gesellschaftlichen Belange einmischt, im Gegenteil. viele sind politisch sehr aktiv. Es mag sein, dass es manchmal an Organisierung und klaren Forderungen mangelt. Aber es ist ein Prozess, in dem wir Erfahrungen machen. Revolutionen brauchen Zeit. Und der Oktober- oder Tashrin-Aufstand von 2019 hat diese Generation geprägt: Sie möchte am liebsten das ganze Regime stürzen.

Wie wichtig ist die Vernetzung mit Frauen und feministischen Bewegungen in anderen Ländern?

Sehr wichtig. Es gibt Leute, die unsere Forderungen als „westlich“ zurückweisen. Wir würden für Rechte eintreten, die für Frauen im Irak nicht gelten. Das ist absolut falsch. Wir sitzen mit den Frauen in anderen Teilen der Welt im selben Boot. Es mag Unterschiede geben, aber zum Beispiel zeigt der weltweite Anstieg von Gewalt gegen Frauen während der Corona-Pandemie, dass wir Frauen in der gleichen Realität leben. Kämpfe für das Recht auf Abtreibung der Frauen in Lateinamerika finden hier im Irak Widerhall. Es geht darum, Erfahrungen auszutauschen und sich zu inspirieren, weltweit und regional. Bei den Aufständen 2019 waren wir eng vernetzt mit Frauen im Libanon und Sudan, in Tunesien und Marokko. Bei den Feminist Schools kommen die Teilnehmenden aus der gesamten Region. Wie gut wir vernetzt sind, hat sich auch im August 2021 gezeigt: Als die Taliban in Kabul wieder an die Macht kamen, haben sich sofort Aktivistinnen aus der ganzen Region zusammengeschlossen und gemeinsam Kampagnen für die Frauen in Afghanistan organisiert.

Interview: Anita Starosta und Christian Sälzer

Dieser Beitrag ist Teil des medico-Jahresberichts 2021, den Sie hier online lesen und kostenlos bestellen können.

Veröffentlicht am 30. Mai 2022

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