Haiti

Das wahre Erdbeben kommt erst noch

Nur wenn sich hier etwas grundlegend ändert lässt sich auch der Unbill der Natur bewältigen. Katja Maurer aus Port au Prince.

Haiti ist selten eine Nachricht wert. Das Erdbeben am Samstag-Abend Ortszeit war mit 5,9 auf der Richterskala  und 10 Sekunden Dauer vergleichsweise harmlos, wenn auch das stärkste Beben seit 2010. In Port au Prince wackelten die Stühle wenige Sekunden. In der Nähe des Epizentrums gab es einige Schäden an Häusern. Es starben soweit bekannt 11 Menschen. Aber Haiti hat es mit diesem Beben in die Nachrichten geschafft. In Deutschland sprachen seriöse Blätter sogar von einem schweren Erdbeben. Das kostete mich die Nachtruhe, weil meine Familie und Freunde beunruhigt waren. Für viele Haitianer weckte das Beben von Samstag-Nacht schlimme Erinnerungen und extreme Gefühle. Das  schwarze Loch, das sich für viele gestern öffnete, möchte man lieber nicht kennenlernen. Jetzt werden noch mehr Menschen weggehen, sagt der stellvertretende Chef des Hotels, in dem ich mich derzeit in Port au Prince aufhalte.

Das Beben ist der beredte Ausdruck für die extreme Fragilität, in der sich Haiti und die Haitianerinnen und Haitianer befinden.  Es kann jederzeit zu einem politischen Erdbeben mit unbekanntem Ausgang kommen. Das wird es allerdings nur in die internationalen Nachrichten schaffen, wenn es mit Gewalt einhergeht. Denn die Berichterstattung über Haiti lässt selten eine Gelegenheit aus, um vorurteilsgeladene Klischee von Haiti zu wiederholen.  Auch wenn zum Beispiel der Abzug der UN-Truppen MINUSTAH nach 18 Jahren zu keinerlei Verschärfung der Sicherheitssituation im Land führte. Der Leiter der Menschenrechtsorganisation RNDDH Pierre Esperance hat für die Truppe nur eine wegwerfende Handbewegung übrig. Das sei von vorneherein eine Form von Tourismus für UN-Soldaten gewesen.

Abschiedsstimmung in einem aufgegebenen Land

Manchmal beschleicht einen hier das Gefühl, dass Haiti ist nicht nur vergessen, sondern auch aufgegeben worden ist.  Das Land erlebt seit einigen Jahren eine Auswanderungswelle ohne gleichen. Denn seit die Erdbebengelder versiegt sind, kommt hier nur noch wenig an. Ob in der Provinz von Aquin, wo die medico-Partnerorganisation Cresfed einen kommunalen Entwicklungsplan gemeinsam mit den lokalen Gruppen organisierte und mit Mitteln der EU versuchte diesen exemplarisch zu realisieren, oder ob beim Bauernverband Tet Kole, dessen Schule wir besuchten  - überall herrscht Abschiedsstimmung. Der Buchhalter des Bauernverbandes Jean Robert geht nach zehn Jahren Mitarbeit nach Boston. Die Abschiedsrede vom Koordinator des Verbandes Rosnel löst eine schwere Traurigkeit aus. Alle blicken ins Leere und hängen ihren Gedanken nach. Jean Robert stehen die Tränen in den Augen. Das ist kein Jobwechsel, sondern ein Abschied für immer. Auch die Bürgermeisterin von Aquin berichtet, dass die Jugendlichen einfach ihre sieben Sachen packen und gehen. Haiti erinnert an die Bremer Stadtmusikanten. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“  200.000 Haitianerinnen und Haitianer zog es die letzten Jahre nach Chile, zuvor gingen Hunderttausende nach Brasilien. Mittlerweile sind die legalen Wege in die lateinamerikanischen Schwellenländer weitestgehend verschlossen.  Das wird an den Auswanderungsbemühungen vieler Menschen nichts ändern. Nur werden sie jetzt in die Illegalität getrieben.

Der Grund für die Auswanderungswelle liegt auf der Hand. Haitis ökonomische Situation verschlechtert sich fortlaufen. Es ist ein Land mit einem dysfunktionalen Staat. Die Politik ist seit der gleich nach dem Erdbeben durch die USA und die westlichen Geberländer initiierten Wahl von Kompa-Sänger Martelly zu einer Großsprechveranstaltung verkommen. Nicht besser als die internationalen Geber, die nach dem Erdbeben versprochen hatten, Haiti besser wieder aufzubauen.  Das Gegenteil ist eingetroffen, auch deshalb, weil man alles getan hat, um die öffentliche Infrastruktur und die Regierung weiter zu entmächtigen. Das Geld floss über NGOs und Gehälter zum großen Teil in die Geberländer zurück. Wenn es überhaupt je ausbezahlt wurde. Der US-amerikanische Anthropologe Mark Schuller, einer der besten Kenner Haitis, geht sogar davon aus, dass allerhöchstens 50 Prozent, wenn nicht vielleicht nur 25 Prozent der versprochenen Summen nach dem Erdbeben bezahlt wurden.  Wenn also die sogenannte internationale Gemeinschaft viel verspricht und wenig hält, warum soll das dann nicht auch die haitianische Regierung machen. Martelly kündigte zum Beispiel an, dass Haiti im Jahr 2030 zum Schwellenland aufsteigen werde. Seine Losung war zudem „Haiti is open for business“. Doch all die geplanten  großen Tourismusprojekte, die Freihandelszonen und Sonderhäfen, die Arbeitsplätze schaffen sollten, haben nichts weiter vermocht als Menschen von ihrem Land zu vertreiben. Allmachtsphantasien sind die Kehrseite der Depression hat mir mal eine Psychoanalytikerin gesagt. In der haitianischen Politik kann man dieses Phänomen ausgiebig studieren.

Proteste gegen das Weiter so

Das eigentliche politische Erdbeben könnte am 17. Oktober diesen Jahres bevorstehen. Und das wäre eine gute Nachricht. Denn es gibt eine Bewegung junger Leute in der haitianischen Diaspora wie hier in Haiti selbst, die sich für die Aufklärung des Milliardenskandals um die venezolanischen Kredite aus dem Petro-Karibe-Abkommen bemüht. In den sozialen Netzwerken machen all die Bauruinen, die aus den Petro-Karibe-Krediten bezahlt und zum größten Teil nicht fertig gestellt wurden, die Runde. Die Gelder wanderten in Privattaschen von Politikern und Baufirmen. Ein dicker zweibändiger Bericht einer Senatskommission enthält alle Tabellen und Detaillinformationen. Über die sozialen Netzwerke machen sich Leute vor Ort auf die Suche nach den angeblichen Bauprojekten und veröffentlichen die Fotos von der traurigen Wirklichkeit. Das Geld, das zum größten Teil unter Präsident Martelly ausgegeben wurde und auch verschwand, ist zum Symbol geworden. Martelly der Sänger und sein Nachfolger und Gefolgsmann Jovenel Moïse, ein Geschäftsmann,  stehen für das Ende einer lauthalsen und populistischen Politik, die sich nur selbst bedient. Martelly, der kürzlich in Brooklyn bei einem Festival der karibischen Musik auftreten wollte, wurde von der haitianischen Diaspora in New York daran gehindert. Suzy Castor, Grand Dame der haitianischen Soziologie und Geschichte und medico-Partnerin,  sagt: Allen ist klar, dass es so nicht weiter gehen kann. Und diese Ansicht haben offensichtlich Haitianer_innen weltweit.

Sie alle setzen auf die Bewegung um die Aufklärung über den Verbleib der Petro-Karibe-Gelder. Am 17. Oktober, dem Todestag von Staatsgründer Dessaline, hat die Bewegung in den sozialen Medien zum großen Protest aufgerufen. In der Hauptstadt hängen überall schwarz-weiße Transparente, die auf den Petro-Karibe-Skandal hinweisen. Es geht ihnen nicht nur um Aufklärung, die Bewegung verlangt auch die Verurteilung derer, die Geld beiseite geschafft haben. Die Aufregung um die verschwundenen Milliarden aus Venezuela, die ja nun als Schulden zu Buche schlagen, ist vielleicht auch deshalb so groß, weil ja schon die Erdbeben-Hilfen für die Leute hier im Nichts verschwunden sind. Es gab eine weltweite Solidarität, aber die Millionen Obdachlosen leben zum allergrößten Teil bis heute unter unsäglichen Bedingungen in keinesfalls erdbebensicheren Elendsvierteln am Rande der Stadt. Die Internationalen Akteure kann man für ihr Versagen und ihre Einmischung, die die Lage verschlimmert hat, nicht belangen. Aber die haitianische Regierung.

Deshalb könnte diese Bewegung für die Politik durchaus eine Gefahr darstellen.  Letztere ist schwächer als vermutet. Zum Beispiel verlangte der IWF in diesem Jahr die Aufhebung der Erdöl-Subventionen. Das hätte einen Preisanstieg von 50 Prozent und wahrscheinlich das Ende einer privaten Stromversorgung bedeutet, die ohne eigene Ersatz-Stromquellen nicht funktioniert. Die Regierung hatte die bauernschlaue Idee, das Ende der Subventionen während des letzten Brasilienspiels bei der Fußballweltmeisterschaft zu verkünden, in der Hoffnung auf einen Sieg der in Haiti vergötterten Brasilianer. Sie verloren. Zwei Tage massiver Proteste brachten so nicht nur die Subventionsstreichung und sondern auch den Ministerpräsident Jack Guy Lafontant zu Fall. Es kann also schnell gehen in Haiti.

Diesen innenpolitischen Auseinandersetzungen ist eine ebenso große internationale Aufmerksamkeit zu wünschen wie den Naturkatastrophen. Denn nur wenn sich hier etwas ganz Grundlegend ändert und wieder eine öffentliche Infrastruktur entsteht, die diesen Namen verdient, lässt sich auch der Unbill der Natur halbwegs bewältigen.

Veröffentlicht am 08. Oktober 2018
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


Jetzt spenden!