Jugend im Nordirak

Das Leben feiern

In einer vom IS bedrohten, verarmten Kleinstadt erobern sich Jugendliche neue Freiheiten. Von Usche Merk.

Wie kann man dem Einfluss des sogenannten Islamischen Staates entgegentreten, außer militärisch? „Diskutieren kann man mit denen nicht, das macht keinen Sinn“, sagen mir die jungen Leute aus dem Jugendkulturzentrum in Kifri, 200 Kilometer nördlich von Bagdad. Wir sitzen im schönen Innenhof des Zentrums, eine traurige Schwere legt sich über das Gespräch. Vor gut zwei Jahren standen die IS-Truppen bis 20 km vor der Kleinstadt, zahlreiche Menschen suchten daraufhin Zuflucht in Kifri. Einige sind geblieben, darunter auch Sympathisanten des IS.

„Wir spüren den Einfluss dieser Ideologie, sie versuchen die jungen Leute, die nichts zu tun haben und am Leben verzweifeln, zu rekrutieren. Sie stärken die konservativen Männer und beeinflussen ihr Verhalten gegenüber Frauen. Sie zwingen die Frauen zurück in die Häuser, selbst wenn ihre Ehemänner sie verprügeln.“ Und damit untergraben sie die säkulare, moderne Gesellschaft, die die kurdische Autonomieprovinz im Irak in den letzten Jahrzehnten auf den Ruinen des Baath-Regimes mühsam aufgebaut hat.

Das Jugendkulturzentrum in Kifri

„Unsere Strategie ist: Einfach zu zeigen, dass das Leben anders sein kann.“ Zwei der jungen Leute haben Fotoalben herbeigeholt. „Schau, das ist das, was wir hier machen: Malkurse, Ausstellungen, Konzerte; hier haben wir die lange Nacht der Poesie organisiert und haben uns die ganze Nacht Geschichten erzählt.“ Sie zeigen Fotos, auf denen der ganze Raum voll ist mit jungen Leuten. „Wir haben Nähkurse organisiert, für Frauen und Männer, und die Kleider ausgestellt, die dabei entstanden sind.“ Im Eingang des Zentrums stehen Schaufensterpuppen mit leuchtend bunten, glitzernden Gewändern. „Im Sommer haben wir jede Woche Filme im Hof gezeigt, die nicht im Fernsehen zu sehen sind, und anschließend darüber gesprochen.“

Zuerst aber haben sie das ganze Zentrum renoviert, gestrichen und schön dekoriert, es war vorher ein verfallenes Gebäude, das von Flüchtlingen und Peschmerga vorübergehend genutzt wurde. „Wir haben auch ein kleines Museum der Alltagskultur eingerichtet, dafür sind wir von Haus zu Haus gegangen und haben die Leute nach alten Gegenständen gefragt, von traditionellen Webstühlen zu Fernsehern und Telefonen aus den 1960er Jahren oder Münzen aus der Saddam-Zeit.“ Eine andere ergänzt: „Dabei haben wir die Geschichte Kifris erkundet, das ist eine Jahrtausende alte Stadt mit multireligiöser und multiethnischer Geschichte. Einige der alten Leute haben uns den alten jüdischen Friedhof gezeigt und von den christlichen Bewohnern erzählt, die die Stadt inzwischen alle verlassen haben.“

Eine Geschichte von Gewalt und Vertreibung

Die Geschichte von Gewalt und Vertreibung im Irak ist vielschichtig und eng miteinander verflochten. Die jungen Leute erzählen: „Wir haben uns auch mit der jüngsten Geschichte beschäftigt, den Anfal-Massakern des Baath-Regimes, unter denen alle unsere Eltern gelitten haben. Sie wissen, wer von den alten Schergen Saddams jetzt beim IS mitmacht, der IS kam nicht aus dem Nichts. Aber sie erzählen auch vom kurdischen Widerstand gegen das Baath-Regime und dem Wiederaufbau nach der Rückkehr in die zerstörte Region.“

Das Jugendzentrum ist inzwischen weit über Kifri hinaus bekannt, laufend kommen Schulklassen und Besuchergruppen aus der Region, um sich das anzuschauen.
 

Ich bin unterwegs mit Karin und MamPolla, die seit vielen Jahren beim medico Projektpartner Haukari arbeiten. Jetzt werden wir von den jungen Leuten aufgefordert, mitzukommen, wir müssen unbedingt noch etwas anderes sehen. Wir fahren ins Zentrum von Kifri und halten vor einem alten, kaputten Gebäude, das ganz leer aussieht. Als wir über einen Seiteneingang hineingehen sind wir völlig verblüfft: 20 jungen Frauen begrüßen uns ganz aufgeregt und ziehen uns in einen weiteren Nebenraum, der frisch gestrichen und renoviert aussieht. Darin lauter Staffeleien und zahlreiche Bilder. „Die Stadt hat uns das Haus zur Verfügung gestellt“, erzählen die Frauen mit leuchtenden Augen, „wir wollen hier eine Kunstausstellung aufbauen. Wir haben alle im Jugendkulturzentrum Malkurse gemacht und einige der Bilder sind dort entstanden. Andere sind von Künstlerinnen aus Sulaymaniyah und Bagdad.“

Raus von Zuhause

Staunend betrachte ich die Bilder, eine wilde Mischung aus allen möglichen Stilen und Motiven, die die Lebendigkeit aber auch den Schmerz dieser Frauen zeigen. Eine Frau zieht mich zu ihrem Bild, auf der eine Allee mit zwei Menschen zu sehen ist, ein Mann im Hintergrund und eine Frau im Vordergrund, Blut vor sich auf dem Boden. „Das ist die Beziehung zwischen Mann und Frau, am Ende verliert immer die Frau ihr Herz.“ Ein anderes Bild zeigt ein Frauenportrait – mit zugenähtem Mund. Wieder andere zeigen Träume, Sehnsüchte, schöne freie Frauen, Landschaften und Farben.

Die jungen Frauen hören nicht auf zu erzählen, sie sind jetzt eine feste Malgruppe, wollen sich in diesem Gebäude regelmäßig treffen, die Ausstellung einrichten, Malkurse anbieten, sie müssen einfach raus von Zuhause, sie wollen etwas Neues machen. Und haben mit den Jungs aus dem Kulturzentrum verabredet, dass sie ihnen helfen, den Rest des Gebäudes zu renovieren, für eine Teestube, Werkstätten, Gruppenräume. „Wir brauchen viele Orte für junge Leute in Kifri, wir brauchen etwas zu tun, wir brauchen Hoffnung“.

Die Energie dieser Frauen lässt mich sprachlos, überwältigt. Karin sagt, sie kommt seit über 20 Jahren nach Kifri aber sie hat noch nie eine solche Gruppe junger Frauen gesehen, Kifri ist sehr konservativ und die Frauen sind fast nie außerhalb des Hauses zu sehen. Es ist eine ganz neue Aufbruchsstimmung.

Kann es sein, dass ich inmitten einer abgeschiedenen, vom IS bedrohten verarmten Kleinstadt im Nordirak lerne, wie es geht, das Leben zu feiern?

Veröffentlicht am 21. Februar 2017

Usche Merk

Usche Merk ist in der Abteilung für transnationale Kooperation seit 1995 zuständig für das Thema Psychosoziale Arbeit, außerdem ist sie verantwortlich für Projekte in Südafrika und Sierra Leone. Die Pädagogin und systemische Beraterin hat drei Jahre lang beim medico-Partner Sinani in Südafrika in der Friedensarbeit mit gewaltgeprägten Gemeinden gearbeitet. Daneben unterstützt sie als Supervisorin und Trainerin Menschen, die in Krisenregionen oder mit Flüchtlingen arbeiten.


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