Der Kinsa-Fall

Eine mutige Frau aus dem Kongo schützt ihre Kinder und wird in Europa bestraft

Im August 2019 kam O.B., eine Frau kongolesischer Herkunft, am Flughafen in Bologna an. An ihrer Seite ihre achtjährige Tochter sowie ihre 13-jährige Nichte, für die sie nach dem Tod ihrer Schwester die Fürsorge übernommen hatte. Die dreiköpfige Familie floh aus der Demokratischen Republik Kongo vor den Morddrohungen von O.B.s Ex-Partner. Ihr Weg führte sie mit gefälschten Pässen über Casablanca nach Bologna, um in Italien Schutz zu suchen. Bei der Ankunft wurde O.B. deswegen als „Schleuserin“ verhaftet.

O.B., die sich lediglich ein Leben in Sicherheit für ihre Tochter und ihre Nichte wünschte, wird in einem ihr fremden Land als Kriminelle behandelt. Ursprünglich drohten ihr sogar 15 Jahre Gefängnis. Zusätzlich war sie wegen Dokumentenfälschung und Nutzung internationaler Verkehrsdienste angeklagt, aber diese Anklagen wurden 2022 mit Hilfe ihrer Anwältin, Francesca Cancellaro, vom italienischen Verfassungsgericht aufgehoben. Der Vorwurf der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ bleibt jedoch bestehen, wofür O.B. weiterhin bis zu fünf Jahre Haft drohen.

O.B.s Mut und Entschlossenheit, ihre Familie in Sicherheit zu bringen, stehen im krassen Gegensatz zu den Vorwürfen, die gegen sie erhoben werden. Der Fall von O.B. verdeutlicht die tiefgreifenden persönlichen Konsequenzen für Menschen und ihre Familien, die mit der systematischen Kriminalisierung von Grenzübertritten nach Europa verbunden sind. Akteur:innen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft kritisieren seit langem die europäischen „Schleusergesetze“, die den Grenzschutz über alles andere stellen, ohne dabei die Interessen von betroffenen Schutzsuchenden und  Migrant:innen angemessen zu berücksichtigen.

Für den Fall von O.B. beantragte ihre Anwältin im Mai 2023 eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über den Straftatbestand der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“. Der EuGH soll die Vereinbarkeit des sogenannten „Schleuser-Pakets“ und der entsprechenden italienischen Umsetzung mit der EU-Grundrechtecharta prüfen. Der Antrag kritisierte, dass diese Gesetze kein Gewinnmotiv als Tatbestandsmerkmal erfordern und nicht vorsehen, Handlungen aus altruistischen oder humanitären Gründen von der Strafbarkeit auszunehmen. Zudem beanstandete die Anwältin die Unverhältnismäßigkeit der Strafhöhe in Bezug auf die Verletzung fundamentaler Rechte, wie das Recht auf Leben, Achtung des Familienlebens und das Recht auf Asyl. Das Gericht von Bologna akzeptierte den Antrag und verwies die Angelegenheit an den EuGH. Die erste Anhörung fand dort am 18. Juni 2024 statt.

In einem wegweisenden Urteil vom 3. Juni 2025 stellte das höchste Gericht der Europäischen Union klar, dass es keine Straftat ist, wenn eine Person Minderjährigen, die unter ihrer Obhut stehen, dabei hilft, in die EU einzureisen und einen Asylantrag zu stellen. Ein solches Verhalten stelle keine „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ im Sinne des EU-Rechts dar, da es Minderjährige und die Einheit der Familie schützt. Das sind zwei Rechte, die in der EU-Grundrechtecharta verankert sind.  Das Urteil kommt zu einem wichtigen Zeitpunkt, da in der EU derzeit das sogenannte EU-Schleuser-Paket („Facilitators Package“) neu verhandelt wird, eine Sammlung von Gesetzen, die bereits seit langem die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht sowie von denjenigen, die ihnen helfen, ermöglicht. Das EuGH-Urteil unterstreicht nun mit Nachdruck, dass im EU-Recht humanitäre Ausnahmen verankert werden müssen, um den Missbrauch der Anti-Schleuser-Gesetze gegen Menschen auf der Flucht und solidarische Unterstützer:innen zu verhindern.

O.B.s Geschichte steht exemplarisch für viele, die für sich oder andere ein besseres Leben suchen und dafür in der EU wie Schwerverbrecher:innen kriminalisiert werden. Die Ausdauer von O.B. und ihr juristischer Widerstand hat sich am Ende gelohnt und macht deutlich, wie wichtig anwaltliche Unterstützung ist im Einsatz gegen Kriminalisierung.