Portrait

Auf gepackten Koffern

Der kurdischen HDP-Abgeordneten Leyla Birlik droht erneut Gefängnis. Solange kümmert sie sich um die Vetriebenen aus Sirnak.

Was es für die HDP-Abgeordnete Leyla Birlik bedeutet, „auf gepackten Koffern“ zu sitzen, hat sich letzte Woche gezeigt. Wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“ wurde sie kurzfristig in Polizeigewahrsam genommen, die Polizei holte sie zu Hause ab. Birlik wurde zwar recht schnell wieder freigelassen, die Bedrohung durch die türkischen Behörden ist jedoch allgegenwärtig.
 

Wir treffen uns in Diyarbakir. Das sei sicherer als sich direkt in Sirnak aufzuhalten, sagt Leyla Birlik. „Ich werde dort immer noch verfolgt und vom türkischen Geheimdienst beobachtet.“ Seit knapp zwei Jahren ist die 41-Jährige, die nicht weit entfernt von Sirnak geboren wurde, Abgeordnete der HDP im türkischen Parlament. Bei beiden Wahlen 2015 hatte die prokurdische Partei es geschafft, die Zehnprozenthürde zu überspringen. In Sirnak, dem Wahlkreis von Birlik, erzielte sie eines der besten Wahlergebnisse landesweit. Erstmals überhaupt war eine mehrheitlich kurdische Partei ins Parlament eingezogen. Damals war die Hoffnung groß. Die Zeichen standen auf Veränderung, vielleicht sogar auf Frieden und Aussöhnung. Doch seitdem hat sich vieles verändert.

Wenn in den hiesigen Medien über den vom AKP-Regime entfesselten Ausnahmezustand in der Türkei berichtet wird, stehen die Massenverhaftungen, die Gleichschaltung der Presse und die Verfolgung von Oppositionellen im Fokus. Nur selten wird jedoch darüber berichtet, wie die Welle der Repression die hauptsächlich kurdische Bevölkerung in der Südosttürkei erfasst hat. Die Selbstverwaltung wurde und wird mit allen – auch militärischen – Mitteln bekämpft. Bombardements von Städten und die gezielte Zerstörung ganzer Viertel haben 500.000 Menschen obdachlos gemacht und viele vertrieben. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind verboten, demokratischer Protest wird unterdrückt. Leyla Birlik hat all das miterlebt. Viele ihrer Wähler, Nachbarn und Freunde haben die Stadt verlassen müssen. Etwa 7.000 Familien, das sind fast dreiviertel der Einwohner, sind gegangen.

Während der militärischen Auseinandersetzungen war Birlik in Sirnak permanent im Einsatz. Im Krankenhaus hat sie sich darum gekümmert, dass Verletzte behandelt und die Toten dokumentiert wurden. „Es waren die schwersten Tage meines Lebens“, erzählt sie. „Noch heute habe ich die Bilder im Kopf.“ Es sind Bilder wie das ihres ermordeten Schwagers, dessen Leichnam an einer Kette am Polizeiwagen befestigt durch die Straßen geschleift wurde. Birlik spricht mit fester Stimme, doch fällt es ihr merklich schwer, die Erinnerungen aufzurufen. Das gilt auch für die Nacht vom 5. November 2016. Unter dem Vorwand, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, wurde sie festgenommen. Und nicht nur sie. Prominente HDP-Politiker, darunter die Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sitzen seither im Gefängnis. Birlik kam zwar nach zwei Monaten wieder frei, die Anklage läuft jedoch weiter. Ihre Tasche für das Gefängnis sei immer gepackt, sagt sie.

Eine andere Stadt

Dessen ungeachtet engagiert sich Birlik weiter. So setzt sie sich für die Vertriebenen ein, aber auch für jene, die in Sirnak geblieben sind. Besonders aktiv ist sie in der Gemeinschaft der Frauen. Viele müssen mit dem Erlebten alleine zurechtkommen und gleichzeitig ihre Familie versorgen. Wann immer möglich, organisiert Birlik daher Treffen, auf denen sich die Frauen austauschen und gemeinsam versuchen, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Nicht einmal dabei bleiben sie unbehelligt, immer wieder werden Teilnehmerinnen von der Geheimpolizei aufgesucht. Trotzdem machen sie weiter – so lange es noch geht.

Mit einer Stimme, in der sich Traurigkeit und bitterer Zorn mischen, erzählt Birlik von den Veränderungen in Sirnak. „Es wird bald eine andere Stadt sei.“ Früher hätte es in den vorwiegend kurdischen Vierteln einen starken nachbarschaftlichen Zusammenhalt und eine von allen getragene soziale Infrastruktur gegeben. Gezielt habe der türkische Staat diese Gegenden verwüstet und entvölkert – zunächst durch Bomben, danach durch Abrissbirnen, Bagger und Planierraupen, die ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht haben. Inzwischen hat der Wiederaufbau begonnen – der jedoch ein Aufbau eines neuen, anderen Sirnaks ist. Die Hauptstraße ist gesäumt von Werbetafeln, auf denen die staatliche Wohnungsbaubehörde Toplu Konut İdaresi Başkanlığı (TOKI) verkündet: „Sirnak verändert sich: im Zentrum 6.000 Wohnungen und 1.000 Geschäftsräume.“ In Hochglanz sind mehrstöckige Wohntürme in sterilen Neubauvierteln abgebildet. Gebaut wird von AKP-nahen Baufirmen. Birlik sagt deutlich, dass hier ein Bevölkerungsaustausch vorangetrieben wird. „Die neuen Wohnhäuser sind für die bisherige Bewohnerschaft unerschwinglich. Und niemand wurde für die Zerstörung seines Eigentums entschädigt.“ Das künftige Sirnak soll und wird keine kurdisch geprägte Stadt mehr sein.

Auch wenn die Spielräume enger werden: Leyla Birlik setzt sich weiter für die Rechte der Kurdinnen und Kurden ein, für verfolgte Aktivistinnen, Parteigenossen und Journalistinnen – im Parlament und in den geschundenen Gemeinden. Im Mittelpunkt steht der Kampf, solidarisch Perspektiven zu schaffen. So haben ehemalige Bewohner Sirnaks lokale Komitees gegründet, um sich besser zu koordinieren. Für etwa tausend der vertriebenen Familien sollen Häuser errichtet werden. Da die Rückkehr in die Stadt verbaut ist, geht es oft um Grundstücke in den Dörfern im Umland – jene Dörfer, aus denen sie der türkische Staat Anfang der 1990er Jahre vertrieben hatte. Fast niemand möchte die Region ganz verlassen. Kurdische Realität in diesem Ausnahmezustand kann eben auch bedeuten, dazubleiben und nicht aufzugeben.

Anita Starosta
 

 medico-Partner vor Ort unterstützen den Aufbau der Häuser für die Vertriebenen. Fast hundert Häuser sind bereits in Eigenleistung gebaut worden und Baumaterialien für 20 weitere Häuser konnten durch Mittel von medico finanziert werden. Es fehlt jedoch Geld, um für alle Bedürftigen neue Perspektiven zu schaffen. Daher bittet medico weiterhin um solidarische Unterstützung.

Spendenstichwort: Türkei/Kurdistan


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2017. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 02. Oktober 2017

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