„Zivile Optionen sind in Mali in den Hintergrund gedrängt“

Interview mit der medico-Projektkoordinatorin Sabine Eckart

{sabine-14jpg class="links"} In Mali ist ein Ausweg aus dem Konflikt nicht in Sicht. Welche Folgen hat die Eskalationen der Gewalt für die zivilgesellschaftlichen Demokratiebestrebungen und für die Arbeit der medico-Partner AME und ARACEM? Ein Interview mit der Projektkoordinatorin Sabine Eckart.

Seit Anfang 2012 haben sich die Ereignisse in Mali überschlagen. Das Land wurde von einem Aufstand der Tuareg erschüttert, im März folgte ein Militärputsch in der Hauptstadt Bamako, im Norden des Landes eskalierte der Terror radikalreligiöser Milizen, was zur Flucht von Hunderttausenden führte, schließlich intervenierte Frankreich mit einem Militäreinsatz. Wie hat sich die Situation der medico-Partner hierdurch verändert?

Die Entwicklungen haben sie noch einmal neu bzw. anders politisiert. Bisher haben sich beide Partner vor allem um das Thema Migration gekümmert. Die AME konzentrierte sich auf die Unterstützung von aus Europa und dem Maghreb abgeschobenen und abgewiesenen Migrantinnen und Migranten in Bamako, die ARACEM auf Nicht-Malier, die auf dem erhofften Weg nach Europa im Land festsaßen. Der Putsch und die Entwicklung seitdem haben den Fokus stärker auf zivilgesellschaftliche Themen gelenkt, die die Gesamtsituation in Mali betreffen. Es gibt also ein breiteres politisches Engagement innerhalb zivilgesellschaftlicher Gruppen.

Welche Folgen haben der Putsch, aber auch die Militärintervention für ihre konkrete Arbeit?

Nicht nur die Bedingungen, auch die Schwerpunkte der Arbeit haben sich geändert. Beide Partner haben in den vergangenen Monaten ihre Mandate dahingehend konkretisiert, dass sie sich fortan für alle gegen ihren Willen Vertriebene einsetzen. Nachdem radikalreligiöse Gruppen im Norden des Landes die Kontrolle übernommen hatten, stecken hier zum Beispiel viele Auswanderungswillige fest, die sich auf dem Weg in den Maghreb befanden – Menschen, die besonders verwundbar sind, weil sie in der Region über kein soziales Netz verfügen. Die AME hat schon sehr früh, im März 2012, Erkundungsreisen dorthin unternommen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Über ihre Kontakte haben sie dann vor allem in den Grenzgebieten zu Algerien und Mauretanien Migrantinnen und Migranten unterstützen können. Ein anderer Aspekt ist, dass wegen der militärischen Eskalation Abschiebungen aus dem Maghreb und Europa nach Mali ausgesetzt wurden. Bislang war die Hilfe für abgeschobene Migranten die tägliche Arbeit unserer Partner AME und ARACEM. Nunmehr klopfen jedoch immer mehr intern vertriebene Malier aus dem Norden an ihre Türen. Das Engagement unserer Partner reicht von humanitärer Hilfe über politische Aktivitäten zum Schutz ihrer Rechte bis zur Unterstützung von Basisorganisationen intern Vertriebener.

Wie lässt sich denn die Lage der intern Vertriebenen beschreiben?

Etwa die Hälfte der durch die Konflikte Vertriebenen, rund 250.000 Menschen, ist über die Grenzen ins benachbarte Ausland geflohen, wo sie vor allem in Mauretanien und Burkina Faso in Lagern untergebracht sind und zentral „verwaltet“ werden. Das Besondere an der Situation in Mali selbst ist, dass es hier nur sehr wenige Flüchtlingslager gibt. Diejenigen Vertriebenen, die im Land geblieben sind, sind zum ganz überwiegenden Teil in Gastfamilien untergekommen, also bei Verwandten oder Freunden, die oft selbst in Armut leben. Zum Glück funktionieren die alten sozialen Netzwerke und Familienbande in Mali noch sehr gut. Andererseits lassen diese „privaten Lösungen“ das Elend der Flüchtlinge oft nicht sichtbar werden.

Wie gehen die medico-Partner mit diesen schwierigen Bedingungen um?

Tendenziell überlastet die gesamte Situation ihre Kapazitäten und Ressourcen, weil sie mit Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert werden, die ihre Möglichkeiten übersteigen. Sie sind tagtäglich mit dem Leid konfrontiert, können aber nur in begrenztem Umfang helfen. Das tun sie aber, so gut sie es können. Für die Unterstützung der intern Vertriebenen hat medico auch zusätzliche Mittel bereitgestellt. Ein Weg, mit der Überforderung umzugehen, besteht sicherlich darin, Schwerpunkte zu setzen.

Schon vor dem Putsch gab es in Mali eine wachsende zivilgesellschaftliche Kritik an der herrschenden Politik und der politischen Klasse, die sich an dem ungleichen Verhältnis von Zentrum und Peripherie und an der Korruption festmachte. Siehst du die Gefahr, dass diese demokratische Bewegung durch den Militäreinsatz geschwächt wird?

Es ist mit Sicherheit so, dass die Demokratisierungsbestrebungen durch die Intervention beeinträchtigt werden. Momentan ist zum Beispiel ein dreimonatiger Ausnahmezustand in Kraft, der auch die Versammlungsfreiheit einschränkt. Das hat zur Folge, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen nicht mehr öffentlich artikulieren können. So musste der geplante, von unseren Partnern mitgetragene „weiße Marsch“ bzw. „Marsch für den Frieden“ abgesagt werden. Auch die Pressefreiheit ist beschnitten. Im Norden Malis sind bereits einige Radiostationen geschlossen, die für die Meinungsbildung im ländlichen Raum von zentraler Bedeutung sind. Und für Journalistinnen und Journalisten ist der Zugang in die umkämpften Gebiete stark eingeschränkt, Informationen dringen nur selektiv nach Außen. Grundsätzlich kann man sagen, dass sich die zivilgesellschaftlichen Debatten durch die Intervention polarisiert haben. Interne Themen sind gegenüber dem einen großen Thema – den militärischen Optionen – in den Hintergrund gerückt. Das ist in Mali nicht anders als hierzulande. Über zivile Optionen wird momentan kaum verhandelt, weil die Rahmenbedingungen nicht gegeben zu sein scheinen.

Lässt sich also sagen, dass der Militäreinsatz die bestehenden politischen Verhältnisse zu zementieren oder zu legitimieren droht

Das sehe ich so, ja. Das internationale politische System funktioniert nun einmal sehr stark über Repräsentation. Mali wird international momentan aber nur durch eine demokratisch nicht legitimierte Übergangsregierung vertreten. Das ist sehr unbefriedigend. Und man kann auch sagen, dass sämtliche Reformbestrebungen zurzeit in den Hintergrund gedrängt sind, weil es nur darum geht, den Status quo nach einem Abzug der französischen Truppen abzusichern. Und niemand bezweifelt, dass der Status quo schlechter ist als die Situation vor dem Putsch.

Auch wenn Prognosen momentan schwierig erscheinen: Was werden die nächsten Schritte der medico-Partner sein

Zunächst geht es darum, ihre Arbeit und das Fortbestehen ihrer Strukturen unter den neuen Bedingungen sicherzustellen. Bei unserem letzten Treffen in Mali im Dezember 2012 war klar, dass sich die Situation jeden Tag ändern kann und unserer Partner ihre Arbeit flexibel anpassen müssen. Aktuell bereitet sich die AME darauf vor, die Maßnahmen zur Unterstützung der intern Vertriebenen und ihrer Gastfamilien auszuweiten. Dabei geht es in erster Linie um materielle Hilfen wie Nahrungsmittel oder Matratzen. Das zentrale Element ist allerdings, dass sie ihre Empathie, die sie durch ihre eigene Betroffenheit und Erfahrung haben, in einen Ansatz von psychosozialer Arbeit überführt haben. Die eigene Betroffenheit und der enge Kontakt sind etwas, das Selbsthilfeorganisationen auszeichnet und von professionellen NGOs unterscheidet. AME und ARACEM haben Räume eröffnet – für Begegnungen, für gezielte Unterstützung, aber eben auch für politisches Engagement.

Wie sieht das konkret aus?

Die AME hat schon sehr früh realisiert, dass es nicht nur darum gehen kann, den intern Vertriebenen humanitäre Hilfe zukommen zu lassen, sondern dass man ihre Selbsthilfestrukturen stärken muss. Tatsächlich haben sie sich in Bamako in Selbsthilfe- und Basisgruppen organisiert. Die AME versucht sie genau darin zu unterstützen und sie gleichzeitig mit der lokalen Bevölkerung in Bamako ins Gespräch zu bringen, um bei diesen Aufmerksamkeit und Verständnis für die Situation der Vertriebenen zu wecken. Es geht also darum, die Selbsthilfegruppenarbeit mittels öffentlicher Veranstaltungen, Pressearbeit, aber auch durch persönliche Begegnungen in einen Dialog zu überführen.

Wie agiert die ARACEM als Initiative nicht-malischer Migrantinnen und Migranten in dieser Situation

Interessanterweise erinnert die Arbeit, die die AME heute mit den intern Vertriebenen leistet, stark an das, was sie vor Jahren im Hinblick auf die ARACEM getan hat. Die ARACEM war seinerzeit eine sehr prekäre Selbsthilfeorganisation, die versuchte, ihre Interessen zu artikulieren und ein Solidaritätsnetz zu knüpfen. Die AME hat ihr dabei geholfen. Der Erfolg zeigt sich jetzt: Bereits 2012 leistete die ARACEM ihrerseits mit Unterstützung von medico Soforthilfe für intern vertriebene Malier. So hat die Gruppe in Bamako Nothilfegüter verteilt, was ihr vor Ort sehr viel Anerkennung gebracht hat – und das vor dem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren eine zunehmende Xenophobie zu verzeichnen war, wie sie es bis dato in Mali nicht gegeben hatte. In einer solchen Situation hat die ARACEM Solidarität mit vertriebenen Maliern geübt und sich dadurch selbst stärker in die malische Gesellschaft integriert. Das ist immerhin ein Beispiel für eine positive Entwicklung inmitten der großen Krise.

Veröffentlicht am 20. Februar 2013

Jetzt spenden!