Fährt man unweit Bethlehems über die große Kreuzung im Gush-Etzion-Siedlungsblock, weist eine Gedenktafel den Weg zu einem nahegelegenen Wald, der im Andenken an Naftali Fraenkel, Eyal Yifrah und Gilad Shaar gepflanzt wurde. Israel gedenkt seiner Toten.
Die drei jungen Yeshiva-Studenten wurden am 12. Juni 2014 entführt und ermordet. Die darauf folgende Militäroperation „Brother’s Keeper“ wurde zu Beginn in erster Linie damit begründet, die Jungen retten zu wollen. Dabei konnte kaum davon ausgegangen werden, dass sie noch am Leben waren. Auf einem mitgeschnittenen Notruf von einem Jungen waren mehrere Schüsse und schmerzvolles Stöhnen zu hören.
Schon bald sagte die israelische Regierung dann auch offen, dass es um nichts weniger als um die Zerschlagung der Hamas im Westjordanland gehe. Hunderte Palästinenser wurden verhaftet, alleine während der Razzien und Festnahmen im Juni und den Protesten gegen dieses Vorgehen erschoss die israelische Armee auf der Westbank fünf Menschen.
Der vollständige Notruf blieb so lange unter Verschluss, bis die Leichen aufgefunden waren. Die bis dahin auch von Premierminister Netanjahu wider besseres Wissen geschürte Hoffnung war längst in Hass und Rachedurst umgeschlagen.
Namenlose Tote
Der Sommer 2014 wird vielen Menschen in Palästina und Israel schmerzhaft in Erinnerung bleiben. Nicht nur den Angehörigen der drei Teenager, sondern auch der Familie des sechzehnjährigen Mohammed Abu Khdeir, der zwei Tage nach dem Leichenfund entführt und in einem Waldstück nahe Jerusalem bei lebendigem Leib verbrannt wurde.
In Ost-Jerusalem herrschte tagelang Ausnahmezustand. Ein von Anwohnern des Stadtwalds errichtetes Denkmal für Abu Khdeir wurde noch im Juli 2014, die Angriffe auf Gaza hatten gerade erst begonnen und der Mord war keine zwei Wochen her, binnen weniger Tage zweimal verwüstet.
Gänzlich namenlos blieb die Mehrheit der bei der Operation „Protective Edge“ getöteten Palästinenserinnen und Palästinenser. Am Abend des 7. Juli begann der Angriff auf Gaza mit aller militärischen Macht und dauerte über sieben Wochen an. Mit wenigen Ausnahmen war es trotz der Präsenz internationaler Medien ein anonymes Sterben, dem im abgeriegelten Gazastreifen über 2.200 Personen zum Opfer fielen, die Mehrheit von ihnen Zivilisten, darunter Hunderte Kinder.
Im Krieg stirbt man namenlos – aber so tötet man auch im Krieg: namenlos. Selbst für dieses Töten gibt es Regeln, ebenso wie für die Zerstörung nicht-militärischer Gebäude und Infrastruktur: Internationales Humanitäres Völkerrecht. Die Namenlosigkeit erscheint dabei genauso als Ursache wie als Wirkung eines Systems, das Straflosigkeit hervorbringt und fortschreibt.
Schadenersatzklagen sind schwierig bis unmöglich
Bereits während der Militäroperation wurde der Verdacht geäußert, die israelische Armee hätte grundlegende Regeln des Kriegsrechts verletzt. Doch die Einwohnerschaft Gazas ist beim Zugang zu israelischen Gerichten wegen der Abriegelung mit fast unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert. Schadenersatzklagen gegen israelische Sicherheitskräfte macht das schwierig bis unmöglich. So haben die medico-Partner Adalah und Al Mezan seit dem Sommer 15 Klagen und Forderungen nach Untersuchungen beim Militärischen Generalanwalt der israelischen Armee eingereicht.
Der Kommission der Vereinten Nationen, die der Menschenrechtsrat eingerichtet hatte, um den Vorwurf von Kriegsverbrechen untersuchen zu lassen, stellten sie Informationen zur Verfügung. Die Petition aber, in der Adalah und Al Mezan zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen für die Ein- wohnerschaft Gazas Zugang zu israelischen Gerichten fordern, wurde im Dezember 2014 vom Obersten Gerichtshof in Jerusalem abgelehnt.
An die Öffentlichkeit kommt das Unrecht gleichwohl doch. So hat der langjährige medico-Partner Ärzte für Menschenrechte – Israel noch während der Angriffe die erste von drei Delegationen medizinischer und forensischer Experten in den Gazastreifen geschickt, um Fakten zu sammeln. Der Bericht „No Safe Place“ wurde im Januar 2015 veröffentlicht.
Warten auf den Wiederaufbau
Unterdessen warten die Menschen in Gaza auch 2015 weiter auf den Wiederaufbau. Ein Wiederaufbau, der nicht beginnen will. Noch immer sind über 100.000 Personen obdachlos. Laut dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) wurden während des Konflikts rund 96.000 Behausungen von Flüchtlingsfamilien durch israelischen Beschuss beschädigt oder zerstört, davon 18.000 so stark , dass sie völlig unbewohnbar geworden sind. Die auf der Kairoer Konferenz im Oktober 2014 versprochene Hilfe lässt auf sich warten.
Robert Turner, Direktor der UNRWA in Gaza, sagte jüngst: „Kein einziges Haus, das im Sommer 2014 zerstört wurde, ist wieder aufgebaut worden.“ Dabei gibt er sich hinsichtlich der Ursachen für die Probleme des Gazastreifens keinen Illusionen hin: „Die Blockade hat fast den gesamten privatwirtschaftlichen Sektor zerstört und Armut und Arbeitslosigkeit erzeugt. Bevor die Abriegelung begonnen hatte, gab es in Gaza eine Ökonomie mit mittleren Einkommen.
Seitdem aber läuft ein Prozess der Rückentwicklung.“ Der Terror der Bomben ist nur ein Element in einer Strategie, die darauf zielt, jegliche Hoffnung der Menschen in Gaza konsequent zu zermürben und das Leben in einen ohnmächtigen Kampf ums Überleben in einer immer düstereren Wirklichkeit zu verwandeln.
Solidarität unter Beschuss: Hilfe von medico-Partnern während des Gaza-Krieges
Die Palestinian Medical Relief Society (PMRS) versorgte Binnenvertriebene in mobilen Kliniken. Der medico-Partner konnte Medikamente und Hilfsmittel beschaffen sowie notfallmedizinische Nachbetreuung leisten. Physiotherapeutische Behandlungen nach traumatischen Verwundungen gehen auch Monate nach Kriegsende weiter.
Angesichts der beispiellosen Zerstörung ziviler Infrastruktur und Wohngebäude hat die gemeindeorientierte Frauen- und Jugendorganisation Culture and Free Thought Association Kleidung, Hygienepakete, Matratzen, Wasser und Nahrungsmittel an intern vertriebene Menschen in Khan Younis im Süden des Gazastreifens verteilt. Zahlreiche obdachlose Familien erhielten während der Wintermonate weitere Unterstützung.
Die Ärzte für Menschenrechte – Israel haben während des Krieges mehrfach Lastwagen mit Medikamenten in den Gazastreifen geschickt. Mediziner des medico-Partners haben in Gaza operiert und geholfen, Ausreisegenehmigungen für besonders dringende Fälle zu erwirken. Sie haben damit gezeigt, dass weiterhin Teile der israelischen Gesellschaft für einen gerechten Frieden einstehen.
Das Menschenrechtszentrum Al Mezan hat im gesamten Gaza-Streifen die Umstände des Todes von Hunderten Menschen und die Zerstörung ziviler Infrastruktur dokumentiert – mit dem Ziel, dass Zivilisten Schadenersatz einklagen können. Zudem soll die Dokumentation als Grundlage für die internationale Untersuchungskommission dienen.