„Wir werden Zeugen eines paranoiden Staates“

Eine historische Zäsur: Während der Afrikanische Nationalkongress (ANC) sein 100jähriges Jubiläum feiert, tötet die Polizei 34 schwarze Bergarbeiter.

Zu Gast bei medico: Zwei Aktivisten aus Südafrika, die eine weiß und bereits im Befreiungskampf aktiv, der andere schwarz und am Ende der Apartheid politisiert, sprechen über das Massaker von Marikana, ihr schwieriges Verhältnis zum ANC, über die Abhängigkeiten der Zivilgesellschaft und ihre Vision von Basisdemokratie. Adèle Kirsten ist Sozialwissenschaftlerin, in den 1970er Jahren schloss sie sich dem Kampf gegen die Apartheid an. Seither setzt sie sich für soziale Gerechtigkeit und gegen Militarisierung ein. Zuletzt gab sie ein Aktionshandbuch über demokratische Rechte und Mitbestimmung heraus. Tshepo Madlingozi ist Jurist und beim medico-Partner Khulumani aktiv, der mit über 60.000 Mitgliedern größten Selbsthilfeorganisation von Überlebenden der Apartheid. Derzeit arbeitet er in London an seiner Doktorarbeit.

medico: Im Zuge des Bergarbeiterstreiks in einer Platinmine im südafrikanischen Marikana wurden im August 2012 34 Menschen von der Polizei getötet. Was hat dieses Ereignis ausgelöst?

Tshepo Madlingozi: Das Ausmaß ist schockierend und historisch. Seit dem offiziellen Ende des Apartheidregimes im Jahr 1994 sind nie mehr so viele Menschen von der Polizei getötet worden. Auf lokaler Ebene wurden die Proteste zuletzt immer dann aggressiv und repressiv, wenn die Polizei sich einmischte. Das reicht vom Verbot von Protestmärschen über das Verhängen drakonischer Strafen und harte Haftbedingungen bis hin zur Tötung von Menschen. In Marikana sehen wir einen Kulminationspunkt repressiver Amtsführung, die auch nach der Apartheid nie verschwunden ist.

Adèle Kirsten: Entweder war die Polizei bei politischen Mobilisierungsaktionen auf kommunaler Ebene vollkommen abwesend oder aber die Polizei hat mit ihrer aggressiven Präsenz die Gewalt erst entfacht. Das war Ergebnis eines Forschungsprojektes, an dem ich beteiligt war. Damit versagt auch das demokratische Transformationsprojekt, für das der Polizeiapparat als Schlüsselinstitution angesehen wurde. Die Polizei sollte von einer repressiven Kraft in einen Garanten der Menschenrechte verwandelt werden. Das ist nun passé. Schon im Zeitraum zwischen Mitte der 1990er und Mitte der 2000er Jahre hatte der heutige Präsident Zuma die Remilitarisierung der Polizei vorangetrieben und zuletzt auch umgesetzt. Dieses Klima begünstigt den maximalen Mitteleinsatz durch die Polizei und selbst die parlamentarischen Untersuchungen bleiben vage und mehrdeutig hinsichtlich der Frage, in welchen Fällen die Polizei schießen darf. 2008 hat etwa die damalige stellvertretende Sicherheitsministerin und heutige Ministerin für Bergbau Susan Shabangu zur Behandlung von Kriminellen die Devise „Tötet die Dreckskerle!“ ausgegeben. Das hat sich ins Gedächtnis vieler Leute eingegraben. Es herrscht der Eindruck, dass die Bergarbeiter deshalb getötet wurden, weil sie Schwarze waren; der Staat tötet schwarze Arbeiter. Der Rassismus-Frage kommt also eine herausgehobene Bedeutung zu. Die Gefolgsleute des ANC bezeichnen die Ereignisse von Marikana als eine „Tragödie“. Nur die Medien und die Zivilgesellschaft nennen sie ein „Massaker“. Journalisten haben herausgefunden, dass die Mehrheit der Opfer erst gejagt, verfolgt und dann zwischen den Felsen des Steinbruchs gezielt hingerichtet wurde.

Foto: Reuters Fotos: med co

Ist denn schon erkennbar, ob und wie das Massaker aufgearbeitet wird?

Tshepo Madlingozi: Betrachtet man die Untersuchungskommission oder die Kommentare des Präsidenten und aus dem Sicherheitsapparat, dann sieht es nicht so aus, als würde sich irgendetwas ändern. Die schrecklichen Lebensbedingungen der Bergarbeiter sind unverändert und eine neue soziale Bewegung als Alternative zum regierenden ANC ist nicht in Sicht. Innerhalb der Zivilgesellschaft bestimmen allenfalls wohlbekannte Stimmen den Diskurs zu Marikana – Akademiker, Rechtsanwälte und Wissenschaftler, wie wir. Das gilt auch für die Untersuchungskommission, die fünf bis sieben Millionen Euro kosten wird – Geld, das für die Vergütung eben jener Experten verschwendet werden wird. Die sozialen Bewegungen bleiben außen vor. Es wird also keine grundlegende Veränderung des polizeilichen Umgangs mit Protesten geben. In Südafrika ist das Leben eines schwarzen Menschen noch immer wertlos und billig zu haben.

Adèle Kirsten: Es gab Unmengen an Protestverboten. Das kennen wir eigentlich nur aus den Zeiten der Apartheid. Das geltende Versammlungsrecht sieht eigentlich keinerlei Einschränkungen vor. Wir werden also gerade Zeugen eines verstärkt paranoiden, sich in seiner Haltung verhärtenden Staates. Doch ich glaube, dass innerhalb des ANC vereinzelt sehr wohl wahrgenommen wird, in welche Schwierigkeiten sich die Partei bringt, wenn sie das Thema der materiellen Lebensumstände und des informellen Sektors nicht anspricht.

Tshepo Madlingozi: Kein anderes Land ist von so vielen Verwerfungen entlang von ethnischen, Schicht-und Geschlechterzugehörigkeiten bestimmt. Wir sprechen hier über etwa zehn- bis zwölftausend Demonstrationen und Protestaktionen pro Jahr. Noch immer ist die Mehrheit der Südafrikaner von der ungelösten Landfrage und der generationsübergreifenden ländlichen Armut betroffen. Auch das ist eine Zeitbombe. Die Weißen müssen endlich anerkennen, dass sie extrem privilegiert worden sind, dass die Armut der Schwarzen das direkte Ergebnis der Privilegien der Weißen ist. Die Klassenapartheid ist verschränkt mit rassistischer Ungleichheit, die weiterhin besteht. Die Zivilgesellschaft geht vor Gericht, um ein paar Fälle zu klären, aber sie kann dieses Problem nicht allein im Gerichtssaal verhandeln. Die Verfassung schließt bislang eine Landreform aus, und wir haben ein enormes Korruptionsproblem. Die Leute reden sehr offen darüber, wieviel Geld sie welchen Staatsvertretern geben. Das ist weithin akzeptiert.

In Südafrika wurde eine Befreiungsbewegung zur allmächtigen Regierungspartei. Was bedeutet das heute für soziale Bewegungen?

Adèle Kirsten: Trotz des scheinbar spontanen Charakters einiger Proteste dreht sich noch immer alles um den ANC. Altgediente Leute, die in lokalen Parteiverbänden arbeiten, verlassen diese nicht, sondern helfen dabei, Bürgerversammlungen aufzubauen, die sich um die Dienstleistungen in ihrer Kommune sorgen. Sie organisieren die Kundgebung und die jungen Männer, die schließlich die Straßenkämpfe ausfechten. Wenn dann das Ziel, den ungeliebten Gemeinderat loszuwerden, erreicht ist, wird an seiner Stelle ein anderer ANC-Vertreter installiert. Auf diese Art werden soziale Bewegungen immer wieder vom ANC aufgesogen. Aufgrund einer historisch vom weißen Kapital dominierten Industriekultur, ist es für viele schwarze Südafrikaner noch immer schwierig wirtschaftlich Fuß zu fassen. Der Staat ist ihre naheliegende und so gut wie einzige Akkumulations-und Aufstiegsressource. Entsprechend hart umkämpft sind die Parteiposten, für die manchmal sogar gemordet wurde. Wirtschaftsvertreter haben lange vor dem Ende der Apartheid einen Pakt mit dem ANC geschlossen, um ihre Vormachtstellung für die Zeit nach dem Wandel zu sichern. Das ist eines der Vermächtnisse aus Mandelas Amtszeit, über das niemand sprechen möchte. Dennoch ist die emotionale Bindung an den ANC immens. Auch für meine Biographie in der Antiapartheidsbewegung hat er ein großes Gewicht. Ich habe die „Regenbogennation“ als eine Art glückliche Schonfrist vor dem Eintreten der jetzigen Wirklichkeit erlebt. Das war unglaublich aufregend, geradezu elektrisierend. Heute fühle ich mich in die Ära der Apartheid zurückversetzt. Als Weiße, die quasi das Lager gewechselt hat, nehme ich die Unbefangenheit, mit der weiße Leute eindeutig rassistische Meinungen äußern, verschärft wahr. Es ist ihnen nicht mehr peinlich, sie halten sich nicht mehr zurück. Die Alltäglichkeit der Apartheid ist von ihnen nie zugegeben oder anerkannt worden.

Tshepo Madlingozi: Natürlich haben wir Schwarze über alle Lager hinweg im ANC mit Mandela einen Messias gesehen. Ich wuchs in den 1980ern auf und erlangte politisches Bewusstsein durch meine unmittelbare Community. Die 1980er waren die Blütezeit der Macht der einfachen Leute. Es gab Straßenversammlungen, Selbstverteidigungskomitees, alternative Regierungsmodelle. Mein erstes englisches Wort war „Macht“. Die Leute sagten: „We are making power.” Als Jugendlicher beteiligte ich mich an Straßenschlachten. Das Leben meines Vaters hat mich schon früh politisiert. Er war Bergarbeiter. Monatelang bekam ich ihn aufgrund des Homeland-Systems nicht zu sehen. Dieses System zerstörte unsere Communities und hat geradezu eine toxische Männlichkeit geschaffen. Wenn die Männer nach Monaten aus den Bergwerken zurückkamen, hatten sie oft die Bindung zu ihrer Familie verloren. Das ist heute immer noch so. Als Kind dachte ich, dass das Böse in den Bergwerken und in den Menschen stecken muss, für die mein Vater schuften und sterben musste. Ich bin mit der Überzeugung sozialisiert worden, dass Menschen auch ohne von zentralen Parteiorganen gefällte Entscheidungen handeln können. Als die Exilanten in den 1990er Jahren zurückkehrten, waren sie für mich eine Quelle der Inspiration. Sie erzählten Geschichten von Fidel Castro, aus Russland und China, vom unabhängigen Afrika. Und doch erschienen sie gleichzeitig armselig; kehrten sie doch mit einer politischen Kultur zurück, die auf einer zentralistischen Entscheidungsfindung im Sinne des Marxismus-Leninismus beruhte. Die Leute, die im Land selbst ihren Beitrag zum Aufbau des Widerstands hier geleistet hatten, wurden marginalisiert. Die ANC-Exilanten bildeten eine sehr verschlossene Bewegung. Der ANC zwang die sozialen Bewegungen zur Integration in den ANC und sagte ihnen: „Eure Arbeit ist getan.” 1992 schloss die COSATU (Congress of South African Trade Unions) ein formelles Bündnis mit dem ANC. Unter der Regierung Mandelas wurde die wirtschaftsliberale Linie gebilligt. Mandelas faule Kompromisse in der Land- und Eigentumsfrage konnten nicht in Frage gestellt werden – weil der unantastbare Mandela es war, der diese Kompromisse gestaltet hatte. Manchmal frage ich mich, was wohl geschehen wäre, wenn jemand anderes der erste Präsident des neuen Südafrikas geworden wäre, was für soziale Bewegungen hätten entstehen können? Es muss innerhalb des ANC einen radikalen Wandel geben. Wir brauchen wieder so etwas wie eine fassbare Kultur der politischen Ungewissheit. In anderen Ländern wissen Politiker nicht, ob sie wiedergewählt werden. In Südafrika hingegen weiß der ANC ganz genau, dass er noch mindestens ein Jahrzehnt an der Macht sein wird. Und das ist Teil des Problems.

Interview: Anne Jung und Usche Merk

Projektstichwort

Keine Zukunft ohne Vergangenheit: Ohne die Aufdeckung der Wahrheit über das Apartheidregime und ohne die Entschädigung der Opfer kann es keine tragfähige Versöhnung am Kap der guten Hoffnung geben. Dafür streitet der langjährige medico-Partner Khulumani Support Group. Aber auch die gewalttätige südafrikanische Gegenwart verlangt bewusstes Handeln. Der neue medico-Partner Local Goverment Action, ein Zusammenschluss kritischer Gruppen der Zivilgesellschaft, hat jüngst ein Aktionshandbuch veröffentlicht, damit Basisinitiativen in ihren sozialen Kämpfen besser um ihre juristischen Rechte und politischen Möglichkeiten wissen. Spendenstichwort: Südafrika.

Veröffentlicht am 21. November 2012

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