Von der Unabhängigkeit zur UN-Abhängigkeit

Beispiel Haiti

„Boukman's Experience“ heißt eine der populärsten Bands Haitis, die mit ihrem originellen Sound auf keinem Musikfestival der Insel fehlen darf. Benannt hat sich die Gruppe nach jenem legendären aus Jamaika geflohenen Sklaven und späteren Voudou-Priester Boukman, der in der Nacht des 22. August 1791 in Bois Caiman im Norden der Insel zu einer Zeremonie geladen hatte, die allgemeinhin als der Beginn des haitianischen Unabhängigkeitskampfes gilt. Während der Zeremonie soll er folgendes Gebet gesprochen haben:

Gott, der die Erde geschaffen hat, Gott, der die Sonne schuf, um uns Licht zu geben, Gott, der den Ozean zurückhält, der den Donner grollen läßt. Du siehst alles, was die Weißen uns an Leid zugefügt haben. Der Gott des weißen Mannes veranlaßt ihn, Verbrechen zu begehen. Aber der Gott in uns will, dass wir Gutes tun. Unser Gott, der so gut ist, so gerecht, er befiehlt uns, unsere ungerechte Behandlung zu rächen. Er ist es, der unsere Waffen führen wird und uns den Sieg bringen wird. Wir alle sollten es wegwerfen, das Bild des weißen Mannes Gottes, der so gnadenlos ist. Lauscht der Stimme der Freiheit, die in all unseren Herzen singt.

Nach dem kollektiven Genuß des Bluts eines geopferten schwarzen Schweins schwören die versammelten Sklaven dem Priester unbedingten Gehorsam und machen sich auf den Weg, um ihre weißen Peiniger aufzusuchen und sich für erlittenes Unrecht an ihnen zu rächen. Anders als 40 Jahre zuvor, als der Sklavenführer Mackandal bereits einmal den Aufstand geprobt hatte und dafür öffentlich hingerichtet worden war, läßt sich die verschworene Gemeinschaft unter Boukmans Befehl diesmal nicht aufhalten. Er selbst wird zwar schon wenige Wochen nach Beginn der Revolte getötet, die Aufständischen finden jedoch im ganzen Land schnell massiven Zulauf.

Der Befreiungskampf erhält wenige Jahre später eine neue Qualität, als der vom französischen Direktorium zum obersten General ernannte ehemalige Sklave Toussaint Louverture sich von Frankreich lossagt und seine Truppen gemeinsam mit den Maroons (den in den Bergen versteckten entlaufenen Sklaven) gegen die Kolonialherren führt. Im Februar 1801 nimmt er auch von dem früher von Spanien verwalteten Ostteil der Insel Besitz und marschiert mit seinen Truppen in Santo Domingo ein. Die von ihm für die gesamte Insel erlassene Verfassung dekretiert zwar die endgültige Abschaffung der Sklaverei, ist aber noch nicht gleichzusetzen mit der Proklamation der Unabhängigkeit. Toussaint selbst gesteht sich das Recht zu, als Gouverneur die Insel bis zu seinem Tod zu regieren und nach den Kriegswirren der vergangenen Jahre wieder zu wirtschaftlicher Blüte zu führen. Immerhin war das damals noch so genannte Saint Domingue die reichste Kolonie Frankreichs gewesen, produzierte es doch zum Ende des 18. Jahrhunderts die Hälfte des weltweit verbrauchten Kaffees und mehr Zucker als alle anderen Inseln der Kleinen und Großen Antillen zusammen.

Der inzwischen in Frankreich an die Macht gekommene Napoleon hatte also ein vitales Interesse daran, die Kontrolle über diese Quelle großen Reichtums nicht zu verlieren. Ein allzu selbständig auftretender Toussaint, der von Zeitgenossen bereits als „schwarzer Napoleon“ (Chateaubriand) tituliert wurde, konnte dabei nur stören. Daher entsandte er nach vollzogenem Friedensschluß mit Spanien eine über 20.000 Mann starke Invasionsarmee auf die Insel, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgen und die Interessen des Mutterlandes gewährleisten sollte. Toussaint reagierte auf diese Kampfansage mit dem Befehl an seine Offiziere, alle Städte, die nicht zu halten seien, in Asche zu legen und zu zerstören. Nach drei Monaten heftigster Kämpfe mit hohen Verlusten sah Toussaint keine Möglichkeit mehr und kapitulierte. Er selbst wurde kurz darauf in eine Falle gelockt und nach Frankreich deportiert, wo er im April 1803 im Verlies der Festung Fort Joux, nahe der Schweizer Grenze, jämmerlich verreckte.

Nachdem jedoch bekannt geworden war, daß die Invasoren die Sklaverei wieder einführen wollten, gewann der Widerstand unter dem Nachfolger Toussaints, Jean Jaques Dessalines, erneut an Stärke.

Die Aufständischen sammelten sich und fügten den Söldnertruppen Napoleons eine empfindliche Niederlage nach der anderen zu. Begünstigt wurden sie dabei vom Ausbruch einer Gelbfieber-Epidemie, die große Teile der Eindringlinge dahinraffte. Der kommandierende General Leclerc berichtete darüber seinem Schwager Napoleon wie folgt: „Dreihundertsechzig Mann wälzten sich in Krämpfen und verwundeten sich z.T. mit ihren eigenen Waffen. Ich habe keine Soldaten, um die Toten bestatten zu lassen... Es regnet unablässig. Die Neger vermehren sich wie das Ungeziefer, obwohl ich jeden Tag genügend erschießen lasse. Ich selbst bin krank...“ Er starb am 2. Nov. 1802. Nach der vernichtenden Niederlage kehrten gerade einmal 2.000 Soldaten nach Frankreich zurück.

Ungleich größer waren freilich die Verluste auf der siegreichen Seite. 13 Jahre kriegerischer Auseinandersetzungen hatten eine halbe Million Tote gefordert, das Land lag am Boden, die früher ertragreichen Plantagen waren zerstört, die Städte zu Geisterstädten geworden.

In einer solchen Lage schließlich rief Dessalines am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit Haitis aus. Das weiße Europa traute seinen Augen nicht: Die dunkelhäutigen Wesen, die man aus dem afrikanischen Busch in die strahlenden Höhen einer ordentlich verwalteten Kaffeeplantage herausgeführt hatte, waren so undankbar, sich gegen ihre Herren aufzulehnen und einen eigenen unabhängigen Staat zu gründen. Solche Verwegenheit mußte bestraft werden. Die Insel wurde mit einem 21 Jahre dauernden eisernen Boykott belegt, bevor Frankreich 1825 unter Karl X. gegen das Zahlungsversprechen einer astronomischen Entschädigungssumme die unabhängige Republik anerkannte. Mit diesen Entschädigungsleistungen waren die Wurzeln einer bis heute andauernden Verschuldungskrise gelegt.

Die USA ließen sich noch wesentlich länger Zeit mit der Anerkennung, da vor allem die Südstaaten fürchteten, der rebellische Funke aus der Karibik könne auch auf die ausgedehnten Baumwoll- und Tabakplantagen überspringen, wo 100.000e Schwarzer unter sklavenähnlichen Bedingungen schufteten. Erst 1862, während des Sezessionskrieges, erkannten sie die Unabhängigkeit der ersten schwarzen Republik an.

Kurz vor dem Eintritt in den ersten Weltkrieg besetzten die USA 1915 unter Woodrow Wilson die Hauptstadt Port-au-Prince, um „für Recht und Ordnung zu sorgen und die Interessen der amerikanischen Staatsbürger zu verteidigen“. Die Okkupation dauerte 19 lange Jahre, bis 1934 – genügend Zeit, um eine schlagkräftige Gendarmerie aufzubauen, den gesamten Staatsapparat und die Finanzverwaltung nach eigenem Gusto umzukrempeln und den sporadisch aufflackernden Widerstandswillen der Haitianer zu brechen.

29 Jahre dauerte schließlich die Duvalier-Ära (1957 – 1986) eingeleitet von Francois Duvalier (Papa Doc), der seine politischen Lorbeeren als medizinischer Berater der amerikanischen Besatzer verdient hatte und später Gesundheitsminister wurde, bevor er sich an die Spitze einer schwarzen „Erneuerungsbewegung“ stellte und mit Hilfe der Militärs zum Präsidenten wählen ließ. In seine Amtszeit fällt eine weitgehende Entmachtung der kreolischen Oberschicht, die Schaffung einer extrem brutalen paramilitärischen Polizeitruppe, besser bekannt unter dem Namen „Tontons Macoutes“, und die gnadenlose Verfolgung und Repression gegenüber politischen Gegnern. Vor seinem Tod 1971 übergab er die Staatsmacht an seinen 19jährigen Sohn Jean Claude, der nach anfänglichen Liberalisierungsschritten das Land in den 80er Jahren endgültig in den Ruin trieb. Mißwirtschaft und Korruption waren in einem Maße angewachsen, dass selbst der Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch 1983 deutliche Worte fand: „Fok sa change“ - „Das muß sich ändern“ lautete fortan die Parole, hinter der sich weite Teile nicht nur des haitianischen Kirchenvolks versammelten und mit zunehmender Militanz den Rücktritt des Baby Doc forderten.

Die Proteste und Unruhen nahmen ein solches Ausmaß an, dass auch die USA ihre bis dahin schützenden Hände zurückzogen und den völlig überforderten Duvalier wie eine überreife Pflaume fallen ließen. Er floh im Februar 1986 Hals über Kopf mitsamt Familen- und Hausstand und fristet seitdem ein nicht gerade von Not geprägtes Dasein im französischen Exil.

Dem haitianischen Volk blieb jedoch nach seinem Sieg über die verhasste Diktatur wenig Zeit zum Feiern. Ein Nationaler Regierungsrat (CNG), bestehend aus Militärs und Angehörigen der politischen Klasse, übernahm die Regierungsgeschäfte und ließ eine neue Verfassung ausarbeiten, die im März 1987 per Referendum mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde.

Diese im 184. Jahr der Unabhängigkeit verabschiedete und noch heute gültige Verfassung regelte erstmals in aller Ausführlichkeit die Kompetenzen der verschiedenen Staatsorgane bis hinunter in die Bezirksverwaltungen, legte die Wahlverfahren für die Präsidentschafts-, Abgeordneten- und Senatswahlen fest und bestimmte einen Provisorischen Wahlrat, der die ersten freien Wahlen für den 29. Nov. 1987 vorbereiten sollte. Am Wahltag richteten die im ganzen Land marodierenden verbliebenen Tontons Macoutes unter friedlichen Wählern ein Blutbad an, so dass die Wahlen abgebrochen werden mussten. Ein zweiter Versuch im Januar 1988 geriet zur Farce, da nach einem Boykottaufruf der Kirche und wichtiger politischer Strömungen nur weniger als 10% der Bevölkerung an der Stimmabgabe teilnahmen. Dennoch wurde der umtriebige Politik-Professor Leslie Manigat als Wahlsieger proklamiert und offiziell zum Präsidenten ernannt. Bereits 4 Monate später wurde er vom Armeechef Henri Namphy weggeputscht.

Die turbulenten Ereignisse in Haiti seit der Vertreibung Duvaliers erregten zunehmend die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft. Im Zusammenhang mit dem Sturz der Diktatur waren im gesamten Land eine Vielzahl von Basisorganisationen aus dem kirchlichen Spektrum, auf dem Land, in den Städten, an Hochschulen und Schulen entstanden, die allesamt Mitsprache bei der Ausgestaltung zukünftiger Politik reklamierten. Eine solchermaßen politisierte Volksbewegung musste auf irgendeine Weise gebändigt werden.

Insbesondere die USA, Frankreich und Canada brachten auf internationalen Foren ihre Besorgnis zum Ausdruck, dass dem Treiben einer führungslosen, unter sich zerstrittenen Soldateska auf der einen, und dem Radikalisierungsprozeß einer erwartungsvollen Zivilgesellschaft auf der anderen Seite Grenzen gesetzt werden müßten. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß Haiti im Chaos versinke und auch noch die benachbarte Dom.Rep in dieses mit hineinziehe.

Der für die UNDP in Haiti arbeitende Deutsche Reinhard Helmke erhielt im Herbst 1990 den Auftrag, als UN- Koordinator für die Durchführung sauberer Wahlen Sorge zu tragen. Nach übereinstimmendem Urteil vieler Zeitzeugen erfüllte er diese Aufgabe in vorbildlicher Weise. Es sollten in der Tat die ersten (und bisher einzigen) wirklich sauberen Wahlen in der Geschichte der „Schwarzen Republik“ sein. Die UNO schickte ein Heer von über 300 Mitarbeitern, Wahlbeobachtern und Sicherheitsexperten, die OAS versprach 400 Wahlberater und -beobachter, die US-Regierung stellte insgesamt über 6 Mio. Dollar für die Wahlen zur Verfügung, Canada lieferte Papier für den Druck der Wahlzettel sowie Urnen und Stempel, Frankreich zahlte 2 Mio., und die BRD schenkte 100 Motorräder für die Wahlbüros der ländlichen Gemeinden im Wert von mehreren hunderttausend Dollar.

Der hohe internationale Einsatz hing damit zusammen, dass alle internationalen Beobachter davon ausgingen, dass „ihr“ Kandidat, der ehemalige Weltbankmitarbeiter Marc Bazin, selbstverständlich den Sieg davontragen würde.

Es kam jedoch anders. Am letzten Tag vor dem Ablauf der Einschreibungsfrist, am 18. Oktober 1990, meldete der bis dahin nicht auf der Rechnung stehende Priester Jean Bertrand Aristide seine Kandidatur für die Sammlungsbewegung FNCD an. Nachdem das bekannt wurde, stieg die Zahl der eingetragenen Wähler sprunghaft von 50 auf gut 90% aller Wahlberechtigten. Die hochpolitisierte Bevölkerung erkannte sofort die einmalige Chance, sich mit dem populären Befreiungstheologen selbst an die Macht zu wählen, und ergriff sie. Das Ergebnis der Wahlen vom 16. Dez. 1990 sprach denn auch für sich: 67,5 % für Aristide, 14,2 % für Bazin, die übrigen 9 Kandidaten teilten die verbliebenen 18,3 % unter sich auf. Ein Zauberwort machte daraufhin die Runde: Lavalas – die kreolische Wendung für l'avalanche, die Lawine. Aristide hatte sein politisches Projekt unter diese Losung gestellt. Dabei handelte es sich um ein breites Bündnis sozialer Bewegungen, bestehend aus Bauernorganisationen, Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees, Studenten- und Schülervereinigungen, kirchlichen Basisgruppen, Frauenorganisationen, Künstlern und Intellektuellen. Die Lawine sollte die überkommenen undemokratischen Strukturen, die stets nur einer kleinen Elite zugute gekommen waren, wegspülen und für einen grundlegenden Neuanfang sorgen. Das Regierungsprogramm beruhte auf den drei Grundpfeilern „Gerechtigkeit, Partizipation und Transparenz“. An der Ausformulierung der Programmteile hatte noch einer seiner schärfsten späteren Widersacher, der Soziologe Gerard Pierre-Charles, entscheidenden Anteil.

Ein Jahr nach dem Fall der Mauer wurde die internationale Staatengemeinschaft also durch das Ergebnis eines von ihr selbst sorgfältig vorbereiteten und begleiteten Wahlgangs überrascht, das alles andere als das „Ende der Geschichte“ signalisierte. Ein UN-Fall war geschehen. Der Kandidat der westlichen „Verwertungsgemeinschaft“ war durchgefallen, stattdessen musste ein glasklarer Antiimperialist zu seinem deutlichen Sieg beglückwünscht werden. (Vergleichbar in Bedeutung und Ausmaß war dieser Vorgang allenfalls mit dem haushohen Sieg des bolivianischen Präsidenten Evo Morales.) Haiti stand vor seiner „zweiten Befreiung“, oder, wie andere es nannten, vor der „zweiten Unabhängigkeit“. Durch das Land ging eine unglaubliche Stimmung des Aufbruchs, der Hoffnung und Zuversicht.

Und dennoch, ich erinnere mich an eine Szene im Flughafen von Santo Domingo, wo ich im Januar 91 auf dem Flug nach Port-au-Prince einen kurzen Aufenthalt hatte. Es war spät abends, und ich sah in einem der Gänge einen Putzmann aufmerksam eine Zeitung lesen, in der über die Vorgänge im Nachbarland berichtet wurde. Ich näherte mich ihm und fragte ihn, wie er denn das Wahlergebnis sehe. Er schaute mich eine Weile wortlos an und schüttelte dann den Kopf: „Haiti ist noch nicht so weit.“ Dann verschwand er eilig.

Leider sollte er Recht behalten. Duvalier war zwar vertrieben worden, der Duvalierismus in Gestalt eines Großteils der Militärs und einer macht- und privilegiengewohnten kleinen Oberschicht war keineswegs verschwunden, sondern suchte nach Möglichkeiten sich zu reorganisieren. Noch vor der Amtseinführung des neuen Präsidenten fand ein Putschversuch des früheren Innenministers Lafontant statt, der allerdings durch sofortige massenhafte Mobilisierung und Besetzung der Straßen der Hauptstadt im Keim erstickt werden konnte. Aristide sollte dennoch nur 7 Monate Zeit haben, mit seiner Regierungsmannschaft (darunter René Preval als Premier- und Innenminister) die Weichen für die zweite Unabhängigkeit zu stellen.

Weder die haitianische Oligarchie und ihr bewaffneter Arm, das Militär, noch ihre säkularen und sakralen Hohen Priester, die professionellen Politiker und die katholische Amtskirche, konnten mit diesem Wahlergebnis einfach zur Tagesordnung übergehen. Ebenso wenig natürlich die am Billigstlohnland Haiti interessierten nordamerikanischen Wirtschaftskreise, die benachbarten Zuckerbarone der Dominikanischen Republik, ganz zu schweigen von der Kurie in Rom, die einen Befreiungstheologen an der Macht auf gar keinen Fall ertragen konnte.

Was bahnte sich da an? Würde die haitianische Lawine nicht auch bald die dominikanische Hälfte der Insel mitreißen? Entstand da nicht eine weitere, dem logischen Lauf der Geschichte trotzende Herausforderung neben der hartnäckigen kubanischen? Und wie würde sich das Experiment auf die letzten verbliebenen europäischen Kolonien in der Karibik auswirken? Es musste gehandelt werden, im höheren Interesse und im Interesse der Höheren.

In der Nacht vom 29. auf den 30. September, 4 Tage nach seiner historischen Rede vor der UN-Vollversammlung, richten Panzer und schwer bewaffnete Soldaten in den Elendsvierteln von Port-au-Prince, den Hochburgen seiner Anhängerschaft, ein Blutbad an, während Aristide selbst gezwungen wird das Land an Bord der Maschine des venezolanischen Präsidenten Carlos Andres Perez in Richtung Caracas zu verlassen. Dem schnell organisierten Widerstand begegnen die Putschisten mit äußerster Härte, ganze Stadtteile werden diesmal hermetisch abgeriegelt, die Führer der Basisorganisationen werden festgenommen, grausam gefoltert oder sofort erschossen. Mit Unterstützung der nur vorübergehend abgetauchten „Chefs de section“, der ländlichen „Lumpenpolizei“ wird im ganzen Land Jagd auf echte oder vermeintliche Kader der Volksorganisationen gemacht. Bilanz des Putsches: Mehr als 3.000 Tote und hunderte von Verletzten, eine halbe Million Binnenflüchtlinge und ca. 40.000 Bootsflüchtlinge, die auf Cuba, in Miami oder auf benachbarten Inseln vorläufiges Asyl suchen. Der Sinn des Putsches war klar. Das Volk sollte eine Lektion erteilt bekommen, seiner Kader beraubt werden und so eingeschüchtert werden, dass es nie wieder Ansprüche auf Machtbeteiligung stellen würde.

Bezeichnend ist, wer die einzigen Staaten waren, die das von den Putschisten alsbald eingesetzte Marionettenregime mit dem vorher gescheiterten Marc Bazin als Premierminister anerkannte: Die Dominikanische Republik und der Vatikan, dessen oberster Hirte noch 8 Jahre zuvor einen wichtigen Impuls für die Stärkung der Basiskirche und damit auch der prominenten Rolle von Aristide gegeben hatte. Wenn bisher auch die Rolle der US-Regierung von George Bush und ihres Botschafters Alvin Adams bei der Vorbereitung und Umsetzung des Putsches nicht restlos geklärt wurde, so lässt sich eines mit Sicherheit sagen: Die Ausschaltung des mit Brandreden in ganz Lateinamerika bekannt gewordenen Priester-Präsidenten kam der US-Administration durchaus gelegen, war sie doch noch viel zu sehr damit beschäftigt, sich den aus dem „Wüstensturm“ am Golf aufgewirbelten Sand aus den Augen zu reiben und sich mit klarem Blick auf die verkündete „Neue Weltordnung“ zu konzentrieren.

Die Putschisten hielten das Volk über drei Jahre lang in Schach, während der inzwischen ins amerikanische Exil verlegte Aristide alles daran setzte, eine Widerstandsfront aus dem Ausland zu organisieren. Mit dem Machtwechsel in Washington fand er in dem Demokraten Clinton einen Fürsprecher für seine Rückkehr, hatte dieser doch seinen Erfolg nicht zuletzt einem starken Stimmenanteil der schwarzen WählerInnen zu verdanken. Außerdem wurden die Verhältnisse in Haiti auf Grund eines von der UNO verhängten Handelsembargos gegenüber dem Putschistenregime für die einfache Bevölkerung immer unerträglicher, so dass die Zahl der Menschen, die sich auf seeuntauglichen Booten auf den gefährlichen Weg nach Miami machten, ständig zunahm, und auf diese Weise der moralische Handlungsdruck stieg. Nach zähen Verhandlungen unter Leitung des Ex- Präsidenten Jimy Carter gelang es schließlich, die Putschisten zum Einlenken zu bewegen und die Bedingungen für Aristides Rückkehr in den Präsidentenpalast von PAP auszuhandeln. Viele schwer verdauliche Kröten waren darunter, so u.a. eine weitgehende Amnestie gegenüber den Putschisten, Strukturanpassungen im Sinne der damals verbreiteten IWF-Auflagen, die Privatisierung wichtiger Staatsunternehmen und die Einwilligung, dass seine Amtszeit trotz der zwangsweisen Unterbrechung am 6. Februar 1996 ende. Mit 20.000 US-Soldaten kehrte der geschasste Präsident also im Oktober 1994, begleitet vom frenetischen Jubel der Massen, in sein früheres Domizil zurück. Das Land war jedoch inzwischen ein anderes geworden. Viele Weggenossen aus der Vergangenheit waren entweder überhaupt nicht mehr da oder untergetaucht oder durch Folterungen traumatisiert, die Wirtschaft lag am Boden bzw. hatte sich eine neue Händlerklasse etabliert, die durch Schmuggel während des Embargos reich geworden war oder lukrative Kontakte mit dem internationalen Drogenkapital aufgenommen hatte. Hunderttausende Flüchtlinge, die entweder auf abenteuerlichen Wegen ins Ausland geflüchtet waren oder sich irgendwo im Landesinnern versteckt hatte, tauchten hungrig und verstört wieder auf.

Die eindrucksvolle Streitmacht der USA machte klar, wer die eigentlichen Herren auf der Insel waren. In der Zahl vergleichbar mit der vor 200 Jahren jämmerlich gescheiterten Invasionstruppe Napoleons trat hier eine hochgerüstete Armee auf den Plan, die noch heiß war von ihren vorangegangenen Einsätzen in Panama (1989) und im Irak (1991), deren Image allerdings schweren Schaden genommen hatte beim Versuch, den Bürgerkrieg in Somalia zu beenden.

Die großspurigen Ankündigungen der haitianischen Putschisten, man werde eventuellen Invasoren das gleiche Schicksal angedeihen lassen wie den abgeschossenen Soldaten in Mogadischu, gehörten lediglich zu dem Theaterdonner, mit dem ihr Abgang bzw. die Rückkehr Aristides publikumswirksam inszeniert wurde. Von Widerstandshandlungen war nichts zu hören oder zu sehen, die Putschistenführer verschwanden sang- und klanglos im Ausland, der „Messias“ war zurückgekehrt.

Eine der ersten Amtshandlungen Aristides bestand in der Abschaffung der Armee bzw. im Dekret zur Entwaffnung aller Soldaten. Schon hier zeigte sich die begrenzte Wirksamkeit solcher Dekrete. Einige hundert zerlumpte Gestalten gaben zwar ihre ohnehin unbrauchbaren Flinten ab und kassierten dafür ein paar Dollar, die weitaus meisten Waffen aber verschwanden in unzugänglichen Verstecken, um zum geeigneten Zeitpunkt wieder ausgegraben zu werden. Das Vorhaben, eine international geschulte zuverlässige Polizeitruppe an die Stelle der Armee zu setzen, konnte nur sehr schleppend umgesetzt werden, da immer wieder ehemalige Soldaten oder sogar frühere Angehörige der Macoutes unter den Anwärtern der für haitianische Verhältnisse attraktiven Ausbildungsplätze aufgespürt wurden. Dennoch ist die Auflösung des Militärs als Institution als ein Meilenstein in der haitianischen Verfassungsgeschichte zu sehen.

Die materielle und mentale Verwahrlosung, in der die Putschisten das Land nach drei Jahren Terrorherrschaft hinterlassen hatten, führte zu einer bis dahin ungekannten Welle der Hilfsbereitschaft von Organisationen aus aller Welt, die angesichts versprochener Transferleistungen in das geschundene Land bereitwillig ihre Dienste anboten. Dass sie mit ihrer massiven Präsenz in der Hauptstadt und in anderen Orten mehr zur Zerstörung eines ohnehin labilen Sozialgefüges beitrugen als wirklich zu helfen, störte sie in ihrem Eifer wenig.

Die verbliebene Amtszeit von Aristide und die seines Nachfolgers im Präsidentenamt, René Preval (96 – 2001) kann vernachlässigt werden. In diese Epoche fällt allerdings die Festigung der Rolle der UN-Missionen, die unter verschiedenen Namen ihre „Unverzichtbarkeit“ für den geregelten Ablauf des politischen Lebens in Haiti unterstrich. Ob in Fragen der Regierungsführung, der Gerichtsbarkeit, der Begleitung von Wahlprozessen, der Koordinierung der nach wie vor im Land verbliebenen ausländischen Hilfsagenturen oder auch als Mittler in den internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, es gab kaum einen Bereich, in dem nicht irgendein UN-Experte mit am Tisch saß und mehr oder weniger hilfreiche Ratschläge erteilte.

Spannend wurde es allerdings noch einmal in der 2. Amtszeit von Aristide, der im Jahr 2000 erneut mit großer Mehrheit in das Präsidentenamt gewählt wurde und seit Februar 2001 die Amtsgeschäfte in zunehmend autoritärer Weise führte. Von seinen früheren politischen Unterstützern hatte er sich schon in der Interimsphase enfremdet. Die ursprünglich als Organizacion Politique Lavalas gegründete Partei des bereits erwähnten Pierre-Charles benannte sich nach dem endgültigen Bruch mit dem Präsidenten um in Organizacion du Peuple en Lutte, beide firmierten unter dem Kürzel OPL. Aristide wurden indirekt Morde an politischen Gegnern und die Verwicklung in Drogengeschäfte vorgeworfen, es gab Stimmen, die ihn als noch grausameren Potentaten als Vater und Sohn Duvalier bezeichneten, da er seine Macht nur noch auf kriminelle Jugendbanden, die so genannten „Chimères“ stütze und von ihnen die Drecksarbeit erledigen lasse. Welchen Wahrheitsgehalt all diese Vorwürfe haben, vermag ich nicht zu beurteilen. Der derzeitige haitianische Botschafter in Berlin antwortete jedenfalls kürzlich auf meine Frage, ob er eine Rückkehr von Aristide aus dem südafrikanischen Exil für möglich halte, empört: „Auf gar keinen Fall. Er würde sofort am Flughafen festgenommen werden, da diverse Haftbefehle gegen ihn vorliegen.“

Wie er nach Südafrika geraten ist?

Nun, der ehemalige südafrikanische Präsident Thabo Mbeki war der einzige Staatsgast, der Haiti anlässlich seiner 200-Jahrfeier zur Unabhängigkeit am 1. Januar 2004 einen Besuch abstattete. Die Feier geriet zum Fiasko. Als die beiden Staatsmänner sich dem Unabhängigkeitsdenkmal in der Provinzstadt Gonaive nähern wollten, wurden sie von einem organisierten Mob mit einem Steinhagel und Schüssen empfangen. Sie mussten schnellstens wieder ihren Hubschrauber besteigen und unverrichteter Dinge zurück nach Port-au-Prince fliegen. Die Sabotage der Gedenkfeier war zugleich das Zeichen für ein landesweit verabredetes Losschlagen einer Gruppe von ehemaligen Militärs, die an mehreren Orten die lokalen Polizeistationen besetzten und sich mit Waffen versorgten. Sie erhielten schnell Zulauf von gleichermaßen unzufriedenen Bürgern, die dem Präsidenten die Schuld für ihre miserable Lage zuschrieben. Der Ruf nach Rücktritt Aristides wurde lauter und lauter, und es war auffällig, wie groß das Interesse der internationalen Medien an den selbsternannten „Befreiungskämpfern“ war. Die Berichterstattung erweckte tatsächlich den Eindruck, dass eine veritable Volkserhebung stattfand und es nur noch eine Frage von Tagen sein könne, bis der Präsidentenpalast von den Rebellen eingenommen würde. In dieser zugespitzten Situation kamen Regierungsvertreter aus USA, Canada und Frankreich in Absprache mit der haitianischen Opposition zu dem Schluss, dass Aristide als Präsident nicht mehr haltbar sei, und dass man ihn im Interesse des Landesfriedens ultimativ auffordern müsse abzutreten. Als dieser sich weigerte der Aufforderung nachzukommen, griffen die Friedensfreunde zu Zwangsmaßnahmen und expedierten ihn in einer Nacht- und Nebelaktion vom 28. auf den 29. Februar 2004 zunächst nach Jamaika und anschließend in die Zentralafrikanische Republik. Auf Einladung der südafrikanischen Regierung begab er sich schließlich in die Republik Südafrika, wo er noch heute mit seiner Familie lebt und auf eine Chance der Rückkehr wartet.

Es entbehrt also nicht einer tragischen Ironie, dass ausgerechnet der Mann, der 14 Jahre zuvor als das Hoffnungssymbol für die Durchsetzung einer „Zweiten Unabhängigkeit“ gegolten hatte, im 200. Jahr der historischen Unabhängigkeit zum zweiten Mal mit Gewalt aus seinem Amt und Land vertrieben wird, diesmal allerdings im ausdrücklichen Einvernehmen mit der veröffentlichten internationalen Meinung.

Es ist darüber hinaus bezeichnend, dass die haitianische politische Elite sich auf niemand anderes als Nachfolgekandidat für das Präsidentenamt einigen konnte als auf eben jenen René Preval, der Aristide bereits als Premierminister gedient hatte und nach Ablauf seiner ersten Amtszeit 1996 dessen Nachfolge angetreten hatte.

Die Rolle der UNO in diesem ganzen Prozess ist eine überaus ambivalente. Einerseits wäre Aristide ohne die Hilfe der damals noch nicht so kompromittierten UNO wahrscheinlich nie an die Macht gekommen, andererseits hat sie sich seit Mitte der 90er Jahre in Gestalt ununterbrochen präsenter Beratungsteams als eine Art Nebenregierung in der politischen Szene in Haiti etabliert. Einen entscheidenden Zuwachs an Einfluss und Macht erhielt sie nach der Vertreibung Aristides im Jahre 2004, als der Sicherheitsrat „zur Eindämmung der Gewalt“ die Entsendung einer Blauhelmtruppe, eines Polizeikorps und etlicher ziviler Experten beschloss. Ein Kontingent von ca. 8.000 mehrheitlich lateinamerikanischen (!) Soldaten und 1000 Polizisten versucht also seit beinahe 6 Jahren ein halbwegs geordnetes Regierungshandeln zu ermöglichen. Nach anfänglicher positiver Aufnahme der fremden Truppen durch die Mehrheit der städtischen Bevölkerung ist diese Einstellung zunehmend in Ablehnung einer Art Besatzungstruppe umgeschlagen.

Spätestens seit den gewalttätigen Hungerunruhen im Frühjahr 2008 wurde deutlich, dass die Regierung Preval ohne den Schutz durch die Blauhelmtruppen kaum dem entfesselten Volkszorn standgehalten hätte.

Mit dem Erdbeben vom 12. Januar aber ist eine neue Situation entstanden. Heute handelt es sich nicht mehr um einen gescheiterten Staat, sondern um einen nahezu vollständig kollabierten Staat, dem nicht nur die geeigneten Personen, sondern auch der gesamte materielle Unterbau für ein Regierungsprogramm weggebrochen ist. Der in sich zusammengesackte Präsidentenpalast ist ein starkes Symbol für den augenblicklichen Zustand der haitianischen Regierung und ihrer Instanzen. Angesichts der Dimensionen der eingetretenen Katastrophe ist Preval mit seinem Kabinett rettungslos überfordert, als eigenständiger Akteur neben den zahlreichen internationalen Instanzen einen Plan für den erforderlichen Neubau des Landes zu entwerfen. Dies wäre nur vorstellbar, wenn die Regierung über die notwendige Verankerung in der Bevölkerung verfügte und in einem organischen Dialog mit ihren politischen und zivilgesellschaftlichen Vertretern die Entscheidungen über die nächsten Schritte treffen könnte. Von einer solchen Verankerung kann aber schon seit geraumer Zeit nicht die Rede sein. Der Dialog wird mit der internationalen Gebergemeinschaft geführt, das Land und seine verzweifelten Leute werden mit Hilfe eines im April erklärten Ausnahmezustands verwaltet.

Einer solchen Erklärung hätte es eigentlich gar nicht bedurft, denn faktisch ist die Ausnahme schon seit 2004 die Regel.

Beitrag von Ulrich Mercker. Gehalten am 21.5.10 auf dem Symposium "Welche Hilfe für wessen Sicherheit?" der stiftung medico international.

Veröffentlicht am 25. Mai 2010

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