Niger

Vom weißen Fleck zum Frontstaat

Der Bürgerrechtler Moussa Tchangari über die dramatischen Auswirkungen der europäischen Politik auf den Niger.

Länder der Sahelzone wie der Niger waren lange Zeit auf der politischen Weltkarte Deutschlands wenig präsent. Das hat sich – im Namen von Terrorbekämpfung und Migrationsabwehr – verändert. Im vergangenen Jahr besuchte Angela Merkel den Niger, als erste deutsche Regierungschefin überhaupt. Ende September 2017 warst du vom Deutschen Bundestag eingeladen, um über die Sicherheitssituation in der Sahelzone zu sprechen. Was ist deine wichtigste Botschaft?

Moussa Tchangari: Länder wie Niger gelten als gescheiterte Staaten. Die größte Herausforderung vor Ort liegt darin, eine Regierung zu bilden, die in der Lage ist, den Abstieg aufzuhalten. Das geht aber nur, wenn man versteht, wie Niger in diese Lage geraten ist. Das versuche ich zu erklären. In erster Linie ist es Folge einer jahrelang verfolgten Strukturpolitik, die die öffentlichen Dienstleistungen zerstört hat, im Gesundheitssektor, im Bildungsbereich, bei der Lebensmittelversorgung, letztlich in allen grundlegenden Bereichen. Nach dem Ende des Kolonialismus hatte der Staat eine Schlüsselfunktion in der Wirtschaft und im sozialen Bereich.

Inzwischen herrscht er nur noch über die Macht seiner Apparate, vor allem die Verwaltung und die Armee. Seinen Bürgerinnen und Bürgern begegnet der Staat ausschließlich in Form von Gewalt und Korruption. Die Menschen erleben viel Ungerechtigkeit und haben gelernt, dass der Staat sie nicht schützt. Das Ergebnis ist ein großes Misstrauen gegenüber dem Staat, was schließlich zu Revolte und Radikalisierung führt.

Worauf zielt diese Revolte?

Es gibt viele Menschen, die sich organisieren, um einen politischen, demokratischen Kampf für Veränderung zu führen. Aber sie sind noch zu schwach. Die Bevölkerung ist erschöpft, sie möchte, dass endlich etwas passiert. Daher sind die Erzählungen der Dschihadisten für manche so verlockend. Auch wenn sie nicht sagen können, wie ihr islamischer Staat genau aussehen soll, ist ihre Losung für viele nachvollziehbar: Das existierende System funktioniert nicht, es ist ungerecht und korrupt – und das liege daran, dass es nicht den Regeln des Islams folgt. Daher müsse man es zu Fall bringen. Damit sprechen die Dschihadisten vor allem junge Leute an, die keine Perspektive haben. Wenn jemand vorschlägt, eine Bombe zu legen, sind manche dazu bereit.

Angesichts der Perspektivlosigkeit entschließen sich aber auch viele zur Migration.

Auch die Migration ist eine Antwort des Volkes auf die fehlenden ökonomischen und sozialen Perspektiven und auf die Abwesenheit eines funktionierenden Rechtsstaates. Hinzu kommt der Klimawandel, der die Landwirtschaft und die Ernährungssicherung in den Sahelländern immer schwieriger macht. Die Leute verlassen das Land, um irgendwo zu leben, wo sie etwas zu essen finden. Aber ob die Leute sich entschließen, hier für Veränderungen zu kämpfen oder ob sie versuchen, das Land zu verlassen: Sie revoltieren in beiden Fällen gegen ihre Lebensbedingungen.

Unter dem Stichwort der Terrorbekämpfung beteiligt sich neben Frankreich, den USA und Italien inzwischen auch Deutschland an den internationalen Militärbasen in der Sahelzone. Wie werden diese wahrgenommen?

Sie werden allesamt sehr negativ gesehen. Die Leute können den Nutzen für sich nicht erkennen. Die Basen werden errichtet und kosten sehr viel Geld. Trotzdem gibt es nach wie vor Anschläge bewaffneter Gruppen gegen die Zivilbevölkerung mit vielen Toten. Ganze Dörfer werden entvölkert. Was also bringen die Armeen aus aller Welt, wenn sie die Menschen nicht vor dem Terror schützen? Wo sind die Amerikaner und die Deutschen, wenn eine bewaffnete Gruppe ein Dorf angreift? Die Leute sehen, dass die Armeen nicht hier sind, um sie zu schützen. Warum dann? Vielleicht wollen sie das Land zerschlagen, neue Grenzen ziehen und die Reichtümer rauben. Frankreich hat aufgrund der Kolonialgeschichte ein besonders negatives Image. Weil Deutschland nun plötzlich an der Seite Frankreichs präsent ist, stehen beide Länder im Verdacht, gemeinsam die Hegemonie in der Region übernehmen und sie rekolonisieren zu wollen.

Der Niger ist einer der Hauptnutznießer des Treuhandfonds, den die EU mit Geldern der Entwicklungszusammenarbeit eingerichtet hat. Migration nach Europa soll dadurch verhindert werden, indem Investitionen internationaler Unternehmen in Afrika erleichtert werden.

Das ist ein Bluff. Man kann in Afrika keine Arbeitsplätze schaffen, wenn man es nicht einmal für seine eigenen Bürgerinnen und Bürger in Europa hinbekommt. Vor allem aber darf man die Reformen nicht vergessen, die mit den Strukturprogrammen in den 1980er Jahren verbunden waren. Es gab Reformen des Arbeitsgesetzes, die den Arbeitsmarkt dereguliert haben, der Minengesetze, der Ölgesetze, der Investitionsgesetze und vieler mehr. Sie alle haben letztlich die vorteilhaftesten Bedingungen für die Unternehmen geschaffen. Über Jahrzehnte wurde das Land geöffnet und vollständig liberalisiert. Man hat den Investoren Tür und Tor geöffnet und alles für sie getan. Aber sie sind trotzdem nicht gekommen. Und die wenigen, die es getan haben, investieren in die Ausbeutung des Öls und der Minen. Andere Konzerne – nicht nur aus Europa, sondern auch aus den Golfstaaten und aus China – investieren in die Landwirtschaft. Das sind keine Philanthropen. Sie nehmen Ländereien, die zum Beispiel von 5.000 Bauern bewirtschaftet werden, und modernisieren den Ackerbau.

 Eine industrialisierte und profitorientierte Landwirtschaft braucht aber nur noch wenige Arbeitskräfte. Der Landraub vernichtet also Arbeitsplätze. Die europäischen Regierungen haben keine Antwort auf die Frage der Beschäftigung. Das einzige, was sie wollen, ist eine Antwort auf die Frage der Migration.

Niger steht im Fokus, weil er aufgrund seiner geografischen Lage zum zentralen Transitland Richtung Europa geworden ist.

Der Niger ist keineswegs nur ein Transitland, er ist auch ein Abwanderungsland. Und es gibt auch nicht nur die Migration nach Europa. Viele Nigrerinnen und Nigrer – zunehmend auch Frauen – gehen nach Algerien oder Libyen und nicht weiter nach Norden. Einige sind auch in Nigeria, im Tschad, an der Elfenbeinküste, in Burkina oder in Ghana. Die Migranten und Migrantinnen sind Träger der Träume von einem besseren Leben, nicht nur für sich, sondern auch für diejenigen, die bleiben

Warum betonst Du, dass der Niger nicht nur ein Transitland ist?

Weil es Teil einer großen Lüge ist, auf der die ganze Philosophie unserer Regierung fußt. Denn so kann sie behaupten, dass die Unterdrückung der Migration, die die Regierung durchsetzt, nicht die Bürgerinnen und Bürger Nigers betrifft. Würde die Regierung eingestehen, dass die Unterdrückung auch die Nigrer selbst betrifft, hätte sie ein Legitimationsproblem. Denn dann würde sie ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger davon abhalten, ihren Traum zu verwirklichen und sich woanders auf die Suche nach einem besseren Leben zu begeben. Das würden die Leute nicht akzeptieren.

Wie genau wird die Unterdrückung der Migration durchgesetzt?

Einem Protokoll der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Freizügigkeit von Personen und Waren zufolge dürfen die Bürgerinnen und Bürger der 15 Mitgliedsländer sich ungehindert in der gesamten Region bewegen, ähnlich wie Europäer im Schengen-Raum. Europa hat aber darauf hingewirkt, dass die Freizügigkeit in Westafrika inzwischen massiv eingeschränkt ist. Das gilt nicht nur für das Überschreiten von Landesgrenzen, sondern sogar für Bewegungen innerhalb eines Landes. Als Senegalese kommst du zum Beispiel nicht weiter als nach Agadez im Zentrum von Niger. Die Wüstenstadt gilt als Drehkreuz der Migration. Richtung Norden sind es noch Hunderte von Kilometern bis zu den Grenzen zu Algerien und Libyen. Du hast das Recht dorthin zu gehen. Aber es wird dir unterstellt, dass du vorhast, illegal nach Europa zu migrieren. Das ist, als ob man einem Deutschen in Italien sagen würde: Bis nach Rom darfst du reisen, aber nicht bis nach Sizilien, denn dann könntest du ja auch nach Tunesien wollen.

Welche Konsequenzen hat das für die Nigrerinnen und Nigrer?

Es hat zwei dramatische Folgen. Zum einen ist die Mobilität überlebenswichtig. Aufgrund der klimatischen Verhältnisse haben die Bauern drei Monate im Jahr, in denen sie Ackerbau betreiben können. Spätestens im Mai aber sind die Vorräte aufgebraucht. Dann beginnt die Periode, die man Hungersaison nennt. Die Bauern verlassen die Dörfer und gehen in die Stadt oder ins Ausland. Mobilität ist auch eine Überlebensstrategie, wenn ausbleibender Regen eine Lebensmittelkrise auslöst. Auch der Pastoralismus basiert auf Mobilität: Wenn die Viehweiden zu trocken werden, sind die Viehzüchter gezwungen, ihr Vieh woanders zu weiden. Insofern basiert das gesamte Produktionssystem im Niger auf Mobilität.

Und die zweite Konsequenz der Einschränkung der Mobilität?

Sie spaltet die Menschen. Ein Busfahrer, der einen Senegalesen bis Agadez mitnimmt, ist einfach nur ein Busfahrer. Wer denselben Senegalesen aber von Agadez ins nordöstlich gelegene Bilma oder nach Assamakka an der Grenze zu Algerien transportiert, gilt als Schlepper und wird kriminalisiert – vielleicht sogar als Drogenhändler oder als Dschihadist. Es wird behauptet, dass das Auto, das Agadez mit Migranten in Richtung Libyen verlässt, auch Drogen oder Waffen transportieren könne. Im Regierungsdiskurs verschmilzt der Kampf gegen Terrorismus, Drogen- und Waffenhandel mit dem Kampf gegen die Migration, alles wird in einen Topf geworfen. Das empört die Leute. Sie halten es für eine Diskriminierung ihrer Region, in der es ohnehin schon viele bittere Enttäuschungen gab. Dieser Diskurs teilt das Land und er droht, ethnische Gruppen gegeneinander aufzubringen.

Inwiefern?

Es gibt heute in Agadez sowohl die Gruppe der Tuareg als auch die Tubu. Die Tuareg haben den Eindruck, Frankreich bevorzuge die Tubu, weil sie mit ihrer genauen Kenntnis der Grenzregion gut geeignet sind, Migration zu unterdrücken. Das verärgert die Tuareg, die das ebenfalls gerne machen würden, um an das Geld aus Europa zu kommen. So schafft man eine gefährliche Konkurrenz zwischen den beiden Communities. Beide Gruppen sind bewaffnet und haben bereits Krieg gegeneinander geführt. Durch die Spaltung trägt die Migrationspolitik zu einer Verschlimmerung der Sicherheitslage bei.

Ähnlich ist es in Libyen, wo die italienische Regierung mit bewaffneten Gruppen verhandelt, weil es keine funktionierende Zentralregierung gibt. Einige Milizen arbeiten als Schlepper. Weil sie die Territorien und Wege kontrollieren, gibt man ihnen Geld und schlägt ihnen vor, mit der italienischen Regierung zusammenzuarbeiten, um die Migranten daran zu hindern, ein Boot nach Europa zu nehmen. Europa verhandelt also von der Mittelmeerküste bis in die Sahelzone hinein mit bewaffneten, nichtstaatlichen Gruppen und lässt sie Polizeiarbeit übernehmen. Man gibt ihnen Geld und Ausrüstung und verschafft ihnen damit Anerkennung und Legitimität. Die europäischen Regierungen werfen alle moralischen, ethischen und rechtlichen Fragen über Bord und lassen sich allein von Pragmatismus leiten. Der Zweck heiligt alle Mittel.

Das Interview führten Sabine Eckart und Ramona Lenz
Transkription/Übersetzung: Regina Schleicher

 

medico unterstützt die Teilnahme von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern Westafrikas an einer großen von Alternative Espaces Citoyens organisierten Jugendkonferenz in Niamey, der Hauptstadt Nigers, die in diesem Jahr zum dritten Mal stattfindet. Themen: Dschihadismus, das Recht auf Freizügigkeit und der Einfluss Europas.

Spendenstichwort: Flucht und Migration


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2017. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 29. November 2017

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