Schon in ihren Anfängen begegnete die Philosophie dem in der Form des Gesetzes gefassten Recht mit einem prinzipiellen Vorbehalt. So kritisiert Platon, dass das Recht notwendigerweise für alle gelten muss, damit aber die unhintergehbaren Unterschiede jedes einzelnen „Rechtsfalles“ einem Maß unterstellt, das diese Unterschiede nicht respektieren kann – und darf. (1) Seine Kritik gilt also der Gesetzlichkeit selbst, die ausnahmslos für alle Personen und Situationen gelten soll: Indem es alle gleich macht und unter allen Umständen gerecht sein will, muss das Gesetz den einzelnen gegenüber ungerecht sein.
Bei Platon begründet der Widerspruch von Recht und Gerechtigkeit die autoritäre Utopie eines über dem Gesetz stehenden Philosophenkönigs, der der Gerechtigkeit gegen das Recht zu ihrem Recht verhilft. Diese Utopie ist noch heute die der politischen Rechten. Aus dem Ungenügen des Gesetzes resultieren aber auch linke Utopien einer Gesellschaft, in der das Gesetz vollständig in die Selbstbestimmung der vergesellschafteten Individuen zurückgenommen wird. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben beide Utopien – die der Herrschaft des Guten und die des Guten ohne Herrschaft – zwischenzeitlich grundsätzlich diskreditiert.
Ein Anlass, sich diesen alten Fragen neu zu stellen, liegt in dem Umstand, dass der mit den Ereignissen Seattle, Genua und Heiligendamm verbundene aktuelle Zyklus sozialer Bewegung in der Forderung nach „Globalen Sozialen Rechten“ eine seine prominentesten Artikulationen gefunden hat. So heißt es im globalisierungskritischen Netzwerk attac: „Globale Soziale Rechte umfassen zunächst das Recht auf die Sicherung materieller Bedürfnisse, d.h. Zugang zu und Mitbestimmung über Nahrung, Bekleidung, Unterkunft usw. Sie gehen allerdings darüber hinaus. Die Rechte auf eine intakte Umwelt, auf Bildung, auf globale Bewegungsfreiheit und offene Grenzen, auf die Unabhängigkeit vom Zwang zur Lohnarbeit, auf gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und Leben, wozu auch unter anderem das Recht auf die Bestimmung des eigenen Geschlechts gehört, sind ebenso elementare Bestandteile Globaler Sozialer Rechte. Sie stehen für ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Sie gelten für alle Menschen überall, unabhängig von Aufenthaltsstatus, Geschlecht, Kaste oder Wohlverhalten. Ein ausreichendes, bedingungsloses Grundeinkommen ist ein zentrales Instrument, um Globale Soziale Rechte einzulösen, weil es Keim für eine andere, freie, auf Selbstverwirklichung aller Menschen abzielende Gesellschaft ist. Bei der schwierigen Durchsetzung Globaler Sozialer Rechte sehen sich die Benachteiligten oft gezwungen, sich über geltende Gesetze hinwegzusetzen, wenn diese der Erfüllung ihrer Rechte im Wege stehen. So mögen Landbesetzungen wie in Brasilien in vielen Fällen illegal sein, legitim sind sie aber dennoch, da sie dabei helfen, das Recht auf Ernährungssouveränität zu verwirklichen. Auch bei Aktionen von attac geht es im Kern um Globale Soziale Rechte.“ (2)
Politisierung des Rechts
Eine Entsprechung zwischen den Kämpfen um Globale Soziale Rechte und der zeitgenössischen Philosophie findet sich bei Jacques Derrida. Wie für Platon liegt der Widerspruch von Recht und Gerechtigkeit auch für Derrida darin, dass die Gerechtigkeit als Gerechtigkeit in jedem besonderen Fall und zugleich für alle gelten muss. Will man „der Gerechtigkeit gegenüber gerecht sein,“ kann man das nur vermittels einer „Forderung nach unendlicher Gerechtigkeit“ und einer „unendlichen Forderung nach Gerechtigkeit“ sein – oder gar nicht. (3)
Eben deshalb aber ist der Widerspruch von Recht und Gerechtigkeit kein Unterschied, „dessen Wirken sich logisch regeln und beherrschen ließe.“ (4) Statt dessen sei einerseits das Recht insofern an die Gerechtigkeit gebunden, als es in ihrem Namen ausgeübt werden muss, wenn es überhaupt „Recht“ sein soll; und andererseits sei die Gerechtigkeit an das Recht gebunden, weil sie nur in der Form eines Rechts mehr als bloßer Anspruch sein kann. Das Übermäßige der Gerechtigkeit – in jedem einzelnen Fall und für alle gerecht sein zu müssen oder Ungerechtigkeit zu sein – ist deshalb zwingend jedem einzelnen juridisch-politischen Kampf einbeschrieben und gehört insofern „weder zur Gerechtigkeit noch zum Recht. Dem einen wie dem anderen Raum gehört es nur in dem Maße an, in dem es die Grenzen des betreffenden Raums zum anderen hin öffnet.“
Derrida nennt den Recht und Gerechtigkeit je aufeinander öffnenden Widerspruch beider eine „Politisierung des Rechts“, die niemals „total“ werden darf, wenn der Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit treibende Kraft ihrer beiderseitigen Politisierung bleiben soll. Das trennt die Politisierung des Rechts von seiner Rücknahme in eine mit sich selbst absolut einstimmige Gesellschaft, und weist sie zugleich an, ihren konkreten Ort und ihre Praxis immer dort zu suchen, wo das bestehende Recht von der Forderung nach einem anderen Recht und einem Recht des/r Anderen überschritten wird: „Jedes Vorstoßen der Politisierung zwingt uns dazu, die Grundlagen des Rechts, die aus einer erfolgten Berechnung und Abgrenzung resultieren, erneut in Erwägung zu ziehen und folglich neu zu deuten. So hat es sich z.B. bei der Erklärung der Menschenrechte zugetragen, bei der Abschaffung der Sklaverei, im Zuge all jener Befreiungskämpfe, die statt haben und weiterhin statt haben werden, überall in der Welt, im Namen der Frauen und der Männer. Nichts scheint mir weniger veraltet zu sein als das klassische emanzipatorische Ideal.“ (5)
Wo aber ereignet sich das Sich-gegenseitig-aufeinander-Öffnen von Gerechtigkeit und Recht? Nicht in der schlechten Unendlichkeit des Reformismus und nicht am Karfreitag der Utopie, sondern hier, wo jetzt das heute dringliche Recht erkämpft wird.
(1) Platon, Politikos, 294b/c
(2) www.attac.de/heiligendamm07/pages/alternativen/globale-soziale-rechte.php
(3) Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität’, Frankfurt, 1991, S. 40.
(4) Gesetzeskraft, 46.
(5) Gesetzeskraft, 57f.
Thomas Seibert