Verdammte ohne Erde

In der Diamantenprovinz Kono machen staatliche Gesundheitspolitik und neokoloniale Ausbeutung krank

Eher selten kommt es vor, dass in Afrika ein Gesetzesvorhaben medial als Beginn einer neuen Ära gefeiert wird und sogar international für Beachtung sorgt. In Sierra Leone geschah dies 2009 - und es ging nicht um neue Handelsabkommen, sondern um eine gesundheitspolitische Maßnahme. Um die extrem hohe Mütter- und Kindersterblichkeit zu senken, hatte die Regierung des westafrikanischen Sierra Leone unter Präsident Ernest Bai Koroma ein Gesetz erlassen, das die kostenfreie Gesundheitsversorgung für Schwangere und stillende Mütter sowie Kinder unter fünf Jahren vorsah. Der Schritt war tatsächlich existenziell, starben doch nirgends auf der Welt so viele gebärende Mütter wie in Sierra Leone: Jede achte Frau überlebte die Geburt ihres Kindes nicht. Mit dem Gesetz, so der stolze Präsident Koroma, „unternimmt Sierra Leone den größten Schritt in seiner Geschichte, dem ein Ende zu bereiten“.

Gesundheit als Propagandainstrument

Drei Jahre später hat sich die Lage nur wenig gebessert. Die Mehrheit der Frauen ist bis heute nicht über ihren Rechtsanspruch auf kostenfreie Gesundheitsversorgung informiert und kaum eine Schwangere findet zur Geburtsvorsorge den Weg zur nächsten Gesundheitsstation oder gar ins Krankenhaus. „Was nützt es einer Schwangeren, wenn ihr auf dem Papier das Recht auf eine Ultraschalluntersuchung zusteht, das nächste Gerät aber Hunderte Kilometer entfernt ist?“, fragt der medico-Partner Network Movement for Justice and Development in seinem jüngsten Bericht über die Gesundheitsversorgung in dem kleinen Staat an der westafrikanischen Küste. Rein statistisch müssen sich noch immer 20.000 Menschen eine Krankenschwester teilen, in den ländlichen Regionen ist die Quote noch schlechter. Die Aktivisten des Netzwerkes berichten sogar von Gewalttätigkeiten zwischen Gesundheitsarbeitern und Patienten als Ausdruck purer Verzweiflung und Ohnmacht auf beiden Seiten.

Derzeit ist Wahlkampf in „Sweet Salone“, wie die Bevölkerung ihr Land mit ironischem Unterton nennt und erneut wird die Gesundheitspolitik zum umkämpften Terrain. Die Regierung hat die Heath for All Coalition ins Leben gerufen, eine maßgeblich von der Regierung finanzierte Nichtregierungsorganisation - und versucht damit einen Propagandacoup zu lancieren. In einer aktuellen Studie präsentiert diese „NGO” medizinische Erfolgsmeldungen, die sich bei genauerem Blick in ähnlicher Weise verkleinern wie der Scheinriese Herr Tur Tur aus dem Kinderbuch Jim Knopf: Denn wären die Zahlen wahrhaftig, würde die Bevölkerung in Sierra Leone häufiger einen Arzt aufsuchen als Patienten in Deutschland. Darüber hinaus suggeriert eine eher surreale „Statistik” eine hohe Zufriedenheit mit der Gesundheitspolitik der Regierung und der kostenfreien Gesundheitsversorgung für schwangere Frauen. Die Probleme des Zugangs zu diesen gesetzlichen Angeboten werden an keiner Stelle erwähnt.

Sklavenförmige Ausbeutungsverhältnisse

Aber die mangelnde Gesundheitspolitik ist nur ein Feld, in dem das Versagen der Regierung tödliche Folgen hat. Mit systematischen Erfolgsmeldungen versucht die Regierung zu kaschieren, dass sich das befriedete Sierra Leone längst in einem neuen Krieg befindet. Nach den traumatischen Gewaltjahren der Milizen ist es diesmal ein sozialer Krieg, den die Regierung gemeinsam mit nationalen und internationalen Unternehmen gegen die eigene Bevölkerung führt und der über 10 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs in einer ökonomischen, sozialen und ökologischen Katastrophe zu enden droht. Sierra Leone ist eigentlich ein reiches Land, reich an fruchtbaren Böden und Rohstoffen, mit denen sich problemlos die sozialen Bedingungen für Gesundheit, zu denen unter anderem die Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen zählen, erfüllen ließen. Nur hat der Abbau von Diamanten, Rutil, Gold und in Kürze auch Öl allenfalls die Lebensbedingungen von wenigen Menschen verbessert. Die Regierung schließt Verträge, die Unternehmen von jeder sozialen Verantwortung befreien und lässt es zu, dass es bei sklavereiartigen Ausbeutungsverhältnissen zu massiven Umweltschäden, Enteignungen und Vertreibungen kommt. Zudem müssen die Unternehmen kaum Exportsteuern zahlen, was die Staatseinnahmen verkleinert. Die Regierung freut sich über kurzfristige Profite, die Firmen halten kaum einen internationalen Standard ein. Hinzukommt die Veräußerung des Bodens selbst. Gerade Schweizer Multis haben in den letzten Jahren in Sierra Leone riesige Landflächen für den Anbau von Zuckerrohr zur Produktion von Biotreibstoffen gepachtet: Folgen sind die dramatische Verschlechterung der Versorgungslage, die lokalen Nahrungsmittelpreise hängen vom spekulativen Weltmarkt ab und das agroimperiale Land Grabbing der Investoren aus China, Indien, Arabien, aus Europa und den USA zerstört die kleinbäuerliche Produktion.

medicoPartner in lokalen Kämpfen

In der diamantenreichen Provinz Kono, dem früheren „Brotkorb” des Landes, arbeitet das NMJD-Netzwerk unmittelbar mit den von den internationalen Profitinteressen entrechteten lokalen Bevölkerungen zusammen: Speziell ausgebildete Laienjuristen beraten bei Enteignungen oder Vertreibungen, sie bieten eine Rechtsberatung an und versuchen durch Mediationsrunden den zumeist völlig mittellosen Betroffenen einen Weg zur Verteidigung ihrer Rechte zu eröffnen. Aber nicht nur um strittige Landfragen geht es, sondern auch um Unterhaltsverpflichtungen für Frauen mit Kindern und häusliche Gewalt. Darüber hinaus organisieren die Laienjuristen Gemeindeversammlungen, bei denen sie über grundlegende Rechte informieren und deren Durchsetzung diskutieren - wie etwa den Rechtsanspruch auf Gesundheitsversorgung besonders von schwangeren Frauen.

Anne Jung

Projektstichwort

medico unterstützt das NMJD in der lokalen Arbeit und in dem Bemühen sich in Afrika zu vernetzen. So reisen Aktivisten des medico-Partners in Sierra Leone in Kürze nach Südafrika zur internationalen Versammlung des People‘s Health Movement, um dort mit südafrikanischen Gewerkschaftern zu beraten, wie die rücksichtslose und krankmachende Schürfpolitik südafrikanischer Diamanten-Konzerne in eben jener Provinz Kono gemeinsam bekämpft werden kann. Das Stichwort lautet: Sierra Leone.

Veröffentlicht am 05. Juli 2012

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