Sierra Leone

"Wir müssen auf uns selbst vertrauen."

Ebola hinterließ wichtige Erfahrungen, aber der Coronavirus ist dennoch eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem. Ein Gespräch mit medico-Partner Abu Brima.

medico: In den westafrikanischen Medien ist dieser Tage zu lesen gewesen, dass Westafrika aufgrund vorheriger Epidemien wie Ebola besser vorbereitet sei auf den Virus, als es Europa war. Teilst du diese Einschätzung?

Abu Brima: In mancher Hinsicht ja. Die Ebola-Epidemie führte dazu, dass viele Menschen aktiv wurden und wichtige Erfahrungen sammelten, wie mit solchen Situationen umzugehen ist. Wir lernten, welche anfänglichen Schritte in Zeiten der Krise unternommen werden müssen. Der Coronavirus kam vor drei Monaten nach Sierra Leone und bisher haben wir lediglich sieben bestätigte Fälle und keinen einzigen Todesfall. Das hat auch damit zu tun, dass die Phase der Leugnung oder Verharmlosung übersprungen wurde. Die Regierung ordnete erste Vorbereitungsmaßnahmen an und ließ spezielle Quarantäne- und Behandlungszentren aufbauen, die allerdings unzureichend ausgestattet sind. Sie brachte verschiedene Expert*innen an einen Tisch, damit diese gemeinsam an Strategien für die Eindämmung arbeiten. Auch das öffentliche Bewusstsein für das Problem ist aufgrund vorheriger Erfahrungen höher. Das hilft, aber natürlich gibt es noch große Herausforderungen zu meistern.

Welche sind das? Bieten die Gesundheitssysteme besseren Schutz als bei Ebola? Die internationale Politik hatte ja versprochen, die Erneuerung des öffentlichen Gesundheitssektors zu unterstützen.

Die Regierung unternahm nach der Eindämmung von Ebola 2015 einige Verbesserungen des Gesundheitssystems und erhielt dafür auch Unterstützung durch internationale Partner. Es gab Fortbildungskurse für einige Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen und neue Gesundheitszentren wurden eröffnet. Doch unser eigentliches Problem ist die Verhinderung der Gesundheitsversorgung. Noch immer existiert eine ungemein schlechte Infrastruktur im Gesundheitssektor. Sie ist nicht auf dem neuesten Stand und außerdem sehr zentralisiert organisiert. Die ländlichen Gebiete sind davon fast vollständig abgekoppelt, ausgerechnet dort, wo entscheidende Medikamente fehlen oder der Bestand nicht aufgefüllt wird. Nun, selbst mit den gemachten Erfahrungen und entwickelten Strategien sehe ich eine große Lücke. Wir leiden an einer Ressourcenknappheit, was uns hindert, auftretende massive Gesundheitsprobleme adäquat lösen zu können.

Unsere Partnerorganisationen in Kenia und Südafrika berichten von Menschenrechtsverletzungen im Zuge der oftmals sehr brutal umgesetzten Anordnungen der Regierungen. Du hast jahrzehntelange Erfahrungen als Menschenrechtsaktivist. Wie ist die Lage im Moment?

Wir befinden uns in einer äußerst sensiblen Situation, was das Thema der Bürger*innenrechte angeht. Wie auch in Kenia, kam es auch hier bei vorherigen Ausgangssperren und Abriegelungen zu vielen Übergriffen und Missachtung der Rechte durch staatliche Sicherheitskräfte. Journalist*innen und selbst die Personen, die lediglich das Haus verlassen hatten, um auf die Suche nach Wasser zu gehen, wurden geschlagen. Aber die Leute müssen raus, wenigstens um sich mit Wasser zu versorgen!

Was ist euer Ansatz beim Network Movement for Justice and Development für den Fall der Ausbreitung des Virus?

Wir arbeiten landesweit mit anderen Initiativen zusammen und suchen zusammen nach einer Lösung in dieser Pandemie. Dabei unterstützen wir abgelegene Gemeinden, die nicht über die nötige hygienische Grundausstattung wie Seife und einfachen Sanitäranlagen verfügen oder geben ihnen Ratschläge, welche Maßnahmen für den zwischenmenschlichen Kontakt geboten sind. Daneben sind wir aber auch in sogenannten Koordinierungszentren und Teams der unterschiedlichen Distrikte [gleich den Bundesländern; Anm. d. Ü.] präsent, da wir in vielen Regionen mit dem öffentlichen Gesundheitssystem zusammenarbeiten. Das gibt uns die Möglichkeit, das Monitoring für die Einrichtungen der Regierung und die anderer Akteure und die Behandlungsprozesse der Patient*innen zu dokumentieren für den Fall, dass ihre Rechte verletzt werden. Außerdem geben wir den unterschiedlichen Akteuren im Gesundheitsbereich Ratschläge, wie sie ihre Arbeit mit mehr Bedacht auf die Einhaltung der Menschenrechte machen können.

Vielleicht zum ersten Mal liegt das Epizentrum einer Pandemie im Globalen Norden. Der postkoloniale Wissenschaftler Felwine Sarr kritisierte jüngst den Blick auf Afrika. „Afrika ist der am wenigsten betroffene Kontinent, weil er am wenigsten Teilhabe an der globalen Mobilität einnimmt. Dieses Mal kommt die Epidemie nicht von hier. Dennoch fordert die WHO, dass der Kontinent aufwachen und sich auf das Schlimmste einstellen solle. Auch UN-Generalsekretär António Guterres spricht davon, dass es Millionen Tote geben werde. Es ist stets die alte rassistische Herablassung, die sich nicht darum schert, die Wirklichkeit wahrzunehmen.“

Momentan ist Afrika nicht der Kontinent des Leidens. Und er wird es auch nicht sein, wenn wir uns selbst um unser Leben sorgen. Wenn wir auf unsere Positionen vertrauen und nicht auf die, die von außerhalb an uns herangetragen werden. Denn auch wenn wir einige Fälle hatten, so konnten wir sie doch kontrollieren, indem wir uns auf unsere gemachten Erfahrungen aus vorherigen Epidemien verließen. Wenn wir diese Haltung aufgeben und uns stattdessen den Vorschriften des Nordens unterwerfen, werden wir uns auf eine große Katastrophe einzustellen haben.

Aus vielen Ländern des globalen Südens vernehmen wir, dass die ökonomische Krise der gesundheitlichen vorausgeht, weil die unwürdigen Arbeitsbedingungen entlang der globalen Lieferketten zu Massenentlassungen und Verelendung führen.

Ja, hier hatte sich die ökonomische Situation unabhängig von Corona in den letzten Monaten verschlechtert. Jetzt wird es nur noch schlimmer. Es wird für die Leute unmöglich sein, zu überleben. Daher verlassen sie trotz der Ausgangssperre ihre Häuser, auf der Suche nach Essen. Die meisten von ihnen leben von der Hand in den Mund. Einer Ausgangssperre, die länger als drei Tage andauern wird, werden die Menschen trotzen. Auch wenn sie dafür riskieren, geschlagen oder gar getötet zu werden. Sie werden rausgehen.

Was muss getan werden?

Was zurzeit passiert ist Folge jahrelanger ungelöster Probleme. Nach wie vor glaube ich aber daran, dass eine bessere Welt möglich ist. Nur wenn wir in der Lage sind, unsere eigenen Werte in gemeinschaftlicher Weise neu zu denken und das Gesellschaftssystem entlang unserer kulturellen Identität umzugestalten, können wir auch unser Leben als Einzelne und das Wirtschaftssystem besser organisieren. Wir verfügen in Westafrika über natürliche Ressourcen wie Diamanten, Rutil, Eisenerz, Gold, Bauxit usw., doch wir geben sie einfach so weg. Das ist so verrückt! Auf lange Sicht müssen wir unsere eigenen Institutionen aufbauen, sodass die Menschen hier wieder Selbstvertrauen entwickeln. Es ist möglich, aber es erfordert ein Umdenken.

Da die Krise eine globale ist, könnte auch die Antwort darauf eine globale sein.

Es gibt die Möglichkeit dazu. Sofern wir sie ergreifen und unser Wirtschaftssystem und unser Konsumverhalten ändern. Aber es kann auch scheitern. Denn die Pandemie wird im Globalen Norden zu Verknappung und ökonomischen Verlusten führen. Und was wird die Reaktion dieser Länder sein? Sie werden sich Afrika zuwenden, es noch stärker ausbeuten. Wir in Afrika müssen ihnen hingegen antworten: „Genug ist genug!“

Interview: Anne Jung
Transkription & Übersetzung: Timo Dorsch

Veröffentlicht am 21. April 2020

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