Ungleichheit macht krank

Soziale Determinanten für Gesundheit

Von Andreas Wulf (medico international) und Joachim Rüppel (Missionsärztliches Institut Würzburg) für das "welt-sichten" Dossier 8-2011

Schon die römischen Geschichtsschreiber erwähnen die gravierenden Gesundheitsschäden, die letztlich auf soziale Ausbeutung und Umweltzerstörungen zurückzuführen waren. So stand die Ausbreitung der Malaria in engem Zusammenhang mit der Abholzung der Wälder, zu deren Folgewirkungen eine starke Bodenerosion, die Verlandung der Mündungen von Po und Tiber und schließlich die Versumpfung weiter Landstriche gehörten. Dem Baumeister Vitruvius diente das kränkliche Aussehen der in den Bleiminen schuftenden Sklaven als Warnhinweis, um Wasserleitungen aus Ton statt der üblichen Bleirohre zu empfehlen. Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb Rudolf Virchow den Zusammenhang zwischen extremer Verarmung, Hunger und Seuchen, den er in den benachteiligten Regionen des Frühkapitalismus wie Oberschlesien studiert hatte, mit den drastischen Worten: „Leben um Leben wollen wir abwägen und zusehen, wo die Leichen dichter liegen, bei den Arbeitern oder den Privilegierten.“

Auch in der heutigen Weltgesellschaft gehört die Ausbreitung von lebensbedrohenden, aber meist vermeidbaren Krankheiten zu den dramatischen Folgen der sozioökonomischen Gegensätze. Das herrschende Globalisierungsmodell treibt nicht nur die Einkommenspolarisierung voran, sondern lässt die Lebenswelten und Lebenschancen zunehmend auseinanderdriften. Die fatalen Auswirkungen für die Gesundheit der benachteiligten Menschen drückte Professor Michael Marmot, Leiter der WHO-Kommission „Soziale Determinanten von Gesundheit“, so aus: „Soziale Ungleichheit tötet in großem Ausmaß.“

Das zeigt sich in den extremen Unterschieden bei der Lebenserwartung: In den am stärksten von der HIV-Epidemie betroffenen Ländern sterben die Menschen trotz der partiellen Fortschritte bei der Behandlung der Immunschwäche im Mittel, bevor sie 50 Jahre alt werden. Dagegen erreichen die Bewohner der wirtschaftlich privilegierten Länder ein durchschnittliches Lebensalter von über 80 Jahren. Dabei führen soziale Unterschiede auch hier dazu, dass zum Beispiel Jungen aus benachteiligten Vororten Glasgows im Durchschnitt 28 Jahre früher sterben werden als ihre Altersgenossen aus den bevorzugten Wohnvierteln derselben Stadt. Und in so unterschiedlichen Entwicklungsländern wie Indien, Indonesien, Brasilien und Kenia verzeichnet das ärmste Fünftel der Bevölkerung eine zwei bis drei Mal höhere Kindersterblichkeit als das reichste Fünftel.

Gesundheitsschädliche Lebensbedingungen

Das Risiko, von einer der wichtigsten Infektionskrankheiten getroffen zu werden, hängt eng mit den Lebensverhältnissen zusammen. Bei den Kindern, die in Familien des ärmsten Fünftels lebten, fand eine in Sambia durchgeführte Studie bei einem Drittel Malariaparasiten. Dagegen waren nur fünf Prozent der Kinder infiziert, die zum obersten Wohlstandsfünftel zählen. In Indien wurde eine deutlich höhere TB-Prävalenz bei Menschen festgestellt, die unter der Armutsgrenze lebten, verglichen mit Menschen mit höheren Einkommen (242 gegenüber 149 pro 100.000 der Bevölkerung). In diesen Fällen sind physische Lebensbedingungen wie ungünstige Wohnungssituation, Unterernährung, mangelnde Hygiene und der fehlende Zugang zu Präventionsmitteln wie imprägnierten Moskitonetzen für die höhere Krankheitshäufigkeit verantwortlich.

Dieser Zusammenhang von Lebenslage und Krankheit gilt aber auch für Gesundheitsprobleme, die oft nur als Folge individueller Verhaltensweisen gesehen werden. Denn eine selbstbestimmte und selbstbewusste Gestaltung des eigenen Lebens wird vielfach eingeschränkt durch sozioökonomische Benachteiligung und Abhängigkeit sowie kulturell bedingte Rollenzwänge und Einstellungsmuster. Auch die verschiedenen Ausdrucksweisen des menschlichen Grundbedürfnisses nach körperlicher und emotionaler Intimität, die für die Ausbreitung sexuell übertragener Infektionen entscheidend sind, werden durch die spezifische Lebenssituation und die jeweils gültigen Normen geformt.

Ein dramatisches Beispiel hierfür stellt das südliche Afrika dar, wo rund ein Drittel aller mit HIV infizierten Menschen lebt. Dort haben die Ausbeutung und der Landraub durch die Kolonialmächte die weltweit größten Einkommensunterschiede und ein System massenhafter Wanderarbeit hervorgebracht. Die gleichzeitige Durchsetzung eines Rechtssystems, das die traditionellen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft durch das Privateigentum verdrängte, hat die Frauen noch zusätzlich benachteiligt.

Von Bildungs- und Einkommenschancen ausgeschlossen, bildet der Austausch von Sex für viele Frauen das einzige Mittel zur Sicherung der sozialen Position oder der nackten Existenz. Die Arbeitsmigration hat in einigen Ziel- und Herkunftsregionen die Geschlechterparität extrem verzerrt. So hat die Suche nach Arbeit in den Minen und auf den Plantagen Südafrikas in der Gaza-Provinz Mosambiks dazu geführt, dass in der Altersgruppe der 25- bis 34-jährigen weniger als 50 Männer auf 100 Frauen kommen. Diese Zwangsverhältnisse haben das sogenannte Risikoverhalten in Form von kommerziellem Sex und häufigem Partnerwechsel erst entstehen lassen. Zusätzlich befördert durch die Abwesenheit von Präventionsprogrammen, wurde dadurch eine explosive Ausbreitung von HIV heraufbeschworen.

„Wohlstandskrankheiten“ bei den Armen

Auch gesundheitsrelevante Ernährungsweisen sind weit weniger das Ergebnis eigener Entscheidungen, als uns Ernährungsberater und Kochshows suggerieren mögen: Für städtische Arme kann es teurer und schwieriger sein, sich von lokal angebauten Lebensmitteln zu ernähren als von den global vermarkteten Fertigprodukten der oft hoch subventionierten Agrarindustrie. Was in der Folge nicht nur die lokalen Bauern um ihre Einkünfte bringt, sondern zu einer Häufung vermeintlicher „Wohlstandskrankheiten“ wie Übergewicht, Diabetes und Störungen des Fettstoffwechsels gerade unter den einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen führt.

Die Ursachen für die Entstehung und Ausbreitung von Krankheiten sind somit nicht in den angeblich riskanten Lebensstilen oder dem anscheinenden Unwissen der betroffenen und gefährdeten Menschen zu suchen. Vielmehr sind die unmenschlichen und unwürdigen Bedingungen in den Blick zu nehmen, unter denen sie zu (über)leben gezwungen sind. Da die Lebensverhältnisse und -perspektiven aber immer stärker durch globale Strukturen und Entwicklungstendenzen bestimmt werden, müssen diese bei der Erörterung von Erklärungs- und Handlungsansätzen im Auge behalten werden.

Wichtige Einsichten für eine solche Analyse hat die oben erwähnte WHO-Kommission geliefert. In ihren 2008 veröffentlichten Bericht sind nicht nur Faktenwissen und Empfehlungen von Fachleuten eingeflossen, sondern er wurde auch durch die Erkenntnisse und Erfahrungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Basisbewegungen bereichert, die sich in den verschiedenen Regionen und Gesellschaften dafür einsetzen, soziale Ungleichheit und deren krankmachende Wirkungen zu überwinden. Eine der zentralen Handlungsempfehlungen lautet, die täglichen Lebensbedingungen insbesondere der benachteiligten Menschen zu verbessern. Das muss bei der frühen Kindheitsentwicklung ansetzen, wenn man bedenkt, dass zurzeit mindestens 200 Millionen Kinder nicht ihr volles Entwicklungspotential realisieren können. Dann müssen menschenwürdige Arbeits- und Umweltbedingungen, soziale Sicherungsmechanismen sowie umfassende Gesundheitssysteme ohne Zugangsbarrieren geschaffen werden, wenn faire Gesundheitschancen verwirklicht werden sollen.

Gesundheitswidrige Lebensverhältnisse ändern

Die Kommission macht hier aber nicht halt, sondern ruft dazu auf, die herrschenden Gesellschaftsstrukturen und Praktiken mit ihrer ungerechten Verteilung von Macht, Reichtum und Ressourcen anzugehen, die den gesundheitswidrigen Lebensverhältnissen zu Grunde liegen. Das erfordert von den Regierungsverantwortlichen, die Erreichung fairer Gesundheitsbedingungen zum Ziel und Maßstab auf allen Politikfeldern zu machen. Dabei müssen nicht nur die nationalen Regierungen der unterprivilegierten Länder ihre „Hausaufgaben“ machen. Angesichts der strukturellen Begrenzung von Handlungsspielräumen und verfügbaren Ressourcen sind sie nicht in der Lage, das Recht auf höchstmögliche Gesundheit für jeden Bürger allein zu verwirklichen. Das kann nur gelingen, wenn durchgreifende Veränderungen des globalen Wirtschafts- und Politiksystems stattfinden. Dazu gehört die Umverteilung von Ressourcen mittels gerechter Steuersysteme und die Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe insbesondere für gesundheitsförderliche Maßnahmen ebenso wie die Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen an den politischen Entscheidungsprozessen auf den verschiedenen Ebenen.

Die globale Strukturpolitik, auch als Global Governance bezeichnet, war bisher durch Demokratiedefizite und Machtgefälle gekennzeichnet, so dass die Sonderinteressen mächtiger Akteure die Oberhand über Anliegen wie soziale Gerechtigkeit und gesundheitliche Besserstellung der Mehrheit der Weltbevölkerung gewannen. Wie es im Bericht heißt, war es „jenseits des Auftrags und der Kompetenz der Kommission, eine neue internationale ökonomische Ordnung zu entwerfen, die eine Balance findet zwischen den Bedürfnissen der gesamten Weltbevölkerung nach sozialer und ökonomischer Entwicklung, gesundheitlicher Gerechtigkeit und der Dringlichkeit, auf den Klimawandel zu reagieren“. Ungeachtet der erforderlichen Zurückhaltung werden die problematischen Gesundheitsfolgen des aktuellen Globalisierungsmodells mit seinen Markenzeichen wie Marktöffnung, Handelsliberalisierung, Privatisierung, Strukturanpassung, Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Durchsetzung der sogenannten Rechte an geistigem Eigentum benannt.

Die Kommission wendet sich entschieden gegen die Kommerzialisierung von Gesundheitsdiensten und anderen lebenswichtigen öffentlichen Gütern, die nur die Gegensätze bei den Lebensbedingungen und Gesundheitschancen verschärfen. Und der Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass tiefgehende Reformen der globalen Ordnung erforderlich sind, um eine „echte Gleichheit des Einflusses“ von Reichen und Armen zu erreichen. Dies mag als sehr anspruchsvolle Agenda erscheinen. Aber die wissenschaftlichen Analysen weisen unmissverständlich den Weg.

Die wesentlichen Schlussfolgerungen wurden 2009 in einer Resolution von der Weltgesundheitsversammlung anerkannt (WHA62.14: Reducing health inequities through action on the social determinants of health). Darin wird eine Weltkonferenz zum Thema vorgesehen, die im Oktober 2011 in Brasilien stattfinden wird. Dort sollen bereits erneuerte und konkrete Pläne der Staaten diskutiert werden, um die „alarmierenden Tendenzen der gesundheitlichen Ungleichheiten anzugehen“. Aber nur wenn der öffentliche Druck sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Initiativen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene verstärkt wird, besteht die Chance, dass die formulierten Prinzipien und Strategien umgesetzt werden. Dann können wir tatsächlich hoffen, die Vision der Kommission zu verwirklichen und „die Kluft in einer Generation zu schließen“.

Das ist nicht nur ein Gebot der menschlichen Solidarität, sondern es steht auch die Zukunft der Menschheit insgesamt auf dem Spiel. Die sozialen Gegensätze und andere gesundheitsfeindliche Bedingungen wirken sich zwar unter den Armen und Benachteiligten am verheerendsten aus, machen aber letztlich die gesamte Gesellschaft krank. Mit den Worten von Professor Marmot: „Wir müssen uns diesen mit sozialer Ungleichheit verbundenen Problemen stellen, auch wenn wir weder einfache noch rasche Lösungen haben. Aber nur eine gerechte Welt kann eine gesunde Welt werden.“

Angesichts der oben aufgezeigten Bedingungszusammenhänge geht auch die immer wieder aufflammende Diskussion, ob die generelle Armutsbekämpfung oder die spezifische Gesundheitsförderung Vorrang habe, am Kern der Sache vorbei. Beides ist dringend erforderlich, um die Verelendungsspirale zu durchbrechen und ein besseres Leben für die Benachteiligten und damit für alle Menschen dieser Weltgesellschaft zu ermöglichen.

Literatur:

Marmot, M: Social Determinants of Health Inequalities. www.thelancet.com, Vol 365 March 19, 2005

Bericht der Commission on Social Determinants of Health: www.who.int/social_determinants/thecommission/en/

Veröffentlicht am 15. August 2011

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